Das Dorf Band 12: Schleim

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Das Dorf Band 12: Schleim
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Karl Olsberg

Das Dorf

Band 12: Schleim

Copyright 2017 Karl Olsberg

Published by epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

www.karlolsberg.de

Minecraft ®/TM & © 2009-2017 Mojang / Notch. Dies ist kein offizielles Lizenzprodukt. Der Autor ist mit Mojang nicht verbunden.

Gewidmet Alan Turing,

dem Pionier der

Künstlichen Intelligenz

1. Ein ganz besonderer Tag

Mit ernster Miene blickt Magolus, der Priester – pardon, der Oberste Hohepriester von Allen – über die Dorfgemeinde, die sich wie immer zum Notchdienst in der kleinen Kirche im Dorf am Rand der Schlucht zusammendrängt. Birta, seine treue Gehilfin, sieht andächtig zu ihm auf, während die anderen eher gelangweilt dreinschauen. Primo ermahnt seinen Sohn Nano, der gerade in Richtung von Kolles Tochter Maffi Grimassen schneidet, mit dem Unsinn aufzuhören.

Magolus wirft ihm einen strengen Blick zu, bevor er mit dröhnender Stimme seine Predigt beginnt: „Liebe Gemeinde, Notch, unser Herr, ist mir heute Nacht im Traum erschienen. Und er sprach zu mir: Mein Sohn, es ist mir eine große Freude, dass du mein treuer Diener und Oberster Hohepriester von Allen bist. Deshalb sollen alle Dorfbewohner den Tag ehren, an dem du geboren wurdest.“

„Hört, hört!“, ruft Birta dazwischen, während Nano mit den Augen rollt und Maffi die Zunge herausstreckt, was ihm einen strengen Blick seiner Mutter Golina einbringt.

„Somit habe ich beschlossen, dass wir ab sofort den Tag meiner Geburt mit einem großen Fest begehen“, fährt Magolus fort. „Es soll ein ganz besonderer Tag werden. Es wird ein Festmahl geben, und ihr dürft mir alle als Zeichen eurer Bewunderung und Verehrung Geschenke machen!“

Ein Raunen geht durch die Kirche. Die Dorfbewohner sehen sich verwundert an.

„Spinnt der jetzt?“, fragt Olum, der Fischer seinen Nachbarn, den Bauern Kaus. „Wir sollen ihm Geschenke machen?“

„Also, ich finde die Idee ja gar nicht so schlecht“, erwidert Kaus. „Wir könnten ja auch den Tag feiern, an dem ich geboren wurde, und dann könnt ihr mir auch alle ...“

„Moment, wenn hier einer Geschenke kriegt, dann ja wohl ich!“, meldet sich Hakun, der Fleischer, zu Wort. „Immerhin versorge ich das ganze Dorf mit Fleisch!“

„Du?“, fragt Jarga, die Schäferin. „Erst verlangst du fünf Smaragde für ein einziges Ei, und jetzt willst du auch noch Geschenke haben?“

Primo erinnert sich mit Unbehagen an die Zeit, als jeder im Dorf nur noch an die Smaragde dachte, die der böse Graf mit falscher Großzügigkeit verteilt hatte, um Zwietracht zu säen. Inzwischen sind alle wieder zu dem Tauschhandel zurückgekehrt, der vorher herrschte – Hakun beliefert zum Beispiel das Dorf mit Fleisch und erhält dafür von Olum Fische, von Kaus Brot und von Jarga Wolle. Doch nicht alle Wunden, die in jenen finsteren Tagen aufgerissen wurden, sind schon völlig verheilt. Erst heute Morgen hat sich Golina schon wieder darüber beschwert, dass die Schmiede seines Vaters, in der sie wohnen, eigentlich viel zu klein für drei Personen und einen Wolf sei.

„Ruhe!“, schimpft Birta. „Dies ist das Haus Notchs!“

„Wann soll denn das eigentlich sein, dieses Festmahl?“, will Olum wissen. „Ich krieg jetzt schon Hunger, wenn ich daran denke.“

„Ja, Oberster Hohepriester von Allen, wann genau bist du eigentlich geboren worden?“, fragt Birta.

Magolus blickt sie mit großen Augen an. „Wann ich geboren bin? Also, äh, in drei Tagen, würde ich sagen.“

„In drei Tagen?“, fragt Olum. „Aber du bist doch schon da. Wie kannst du da erst in drei Tagen geboren werden?“

„Ich meine, äh, in drei Tagen vor langer Zeit. Also ist in drei Tagen das Festmahl zum Gedenken an dieses wunderbare Ereignis, durch das diesem Dorf so viel Glanz geschenkt wurde. Birta wird die Vorbereitungen organisieren. Und nun gehet hin und denkt darüber nach, was ihr mir schenken wollt!“

Wie üblich versammeln sich die Dorfbewohner nach dem Notchdienst vor der Kirche, um noch ein wenig zu plaudern.

„Fein, ein Fest!“, ruft Hakun. „Endlich mal eine gute Idee, die Magolus da hatte.“

„Und was wirst du ihm schenken?“, fragt Birta.

„Schenken?“, ruft Hakun verdutzt aus.

„Ihr habt es doch gehört: Jeder von uns muss Magolus etwas schenken!“

„Na gut, ich schenke ihm ein Schnitzel.“

„Pssst!“, macht Birta. „Nicht so laut, es soll doch eine Überraschung sein!“

„Und was schenkst du mir?“, fragt Kaus.

„Dir? Wieso denn dir?“

„Na, ich bin doch auch vor langer Zeit geboren worden. Also ist mein Geburtstag auch in drei Tagen.“

„Moment mal, dann ist ja auch meiner in drei Tagen!“, ruft Hakun aus.

Schnell sind sich alle einig, dass die Sache mit dem Fest eine gute Idee ist und dass eigentlich jeder an diesem Tag Geburtstag hat und von den anderen Geschenke kriegen sollte. Nur Magolus grummelt; er scheint nicht begeistert von der Idee zu sein, dass sein Ehrentag plötzlich auch der Ehrentag aller anderen Dorfbewohner ist. Aber es gelingt ihm nicht, die anderen von ihrer Idee abzubringen, und so stimmt er schließlich zu.

„Oh du meine Güte, was schenke ich bloß?“, fragt Golina mit sorgenvoller Miene, als sie mit Primo und Nano nach Hause geht. Dann hellt sich ihre Miene auf. „Ich hab’s! Ich koche Pilzsuppe! Dann kann ich jedem einen Teller davon schenken! Schließlich mochte der Graf sie sehr gerne, und man kann über ihn sagen, was man will, aber er hatte Stil!“

Primo schweigt. Er bringt es nicht übers Herz, seiner Frau zu sagen, dass der böse Graf nur so getan hat, als möge er ihre Pilzsuppe. Auch er selbst ist nicht unbedingt ein Fan der faden, braunen Brühe.

„Und du?“, fragt sie. „Was willst du denn den anderen schenken?“ Sie kichert. „Nein, sag’s nicht! Ich will, dass es eine Überraschung für mich wird!“

Erst jetzt wird Primo klar, dass er ein Problem hat: Golina erwartet ein Geschenk von ihm. Und es muss natürlich etwas Besonderes sein. Schließlich ist sie seine Frau, und er liebt sie von ganzem Herzen. Aber womit könnte er sie überraschen? Er hat ihr doch schon den Stern geschenkt, den er in der Höhle im Land der Federköpfe gefunden hat, nachdem sie die dreiköpfige Schlange besiegt hatten. Er hat ein kleines bisschen geflunkert, als er ihr erzählte, dass er den Stern extra für sie vom Himmel geholt hat. Bestimmt erwartet Golina jetzt etwas noch Schöneres von ihm, schließlich hat sie ja Geburtstag.

„Ich habe keine Ahnung, was ich Golina schenken soll“, sagt er, als er später nach dem Mittagessen – es gab Pilzsuppe – seinen besten Freund Kolle trifft.

„Ich weiß auch nicht, womit ich Margi überraschen könnte“, gibt Kolle missmutig zurück. „Ich glaube, das mit dem Geburtstag ist eine ziemlich blöde Idee gewesen.“

„Schenk ihr doch ein Buch“, sagt Primo. „Sie liest doch gern, und ein Buch ist immer ein gutes Geschenk.“

„Aber sie kennt doch schon alle Bücher in der Bibliothek!“ Kolle seufzt. „Wo krieg ich jetzt bloß ein Geschenk her? Was mach ich bloß?“

„Ich habe eine Idee“, ruft Primo aus. „Wir fragen Ruuna! Wenn jemand gute Ideen hat, dann sie!“

„Ich weiß ja nicht.“ Kolle blickt skeptisch drein.

Zugegeben, Ruunas Ideen sind zwar immer originell, haben aber oft unerwünschte Nebenwirkungen. Trotzdem erscheint es Primo die beste Idee zu sein, und Kolle, dem auch nichts Besseres einfällt, stimmt schließlich zu.

Also schleichen sich die beiden in den Wald – schließlich dürfen ihre Frauen nicht wissen, dass sie eine Überraschung planen – und machen sich auf den Weg zu der einsamen Hütte, in der die Hexe Ruuna und ihr Freund Willert wohnen.

Als Ruuna von der Geburtstagsparty hört, ist sie sofort begeistert.

„Au ja! Au ja! Eine Überraschungsparty!“, ruft sie und hüpft vor Vergnügen im Kreis.

„Hast du eine Idee, was ich Golina schenken könnte?“, fragt Primo.

„Klar“, erwidert die Hexe. „Schenk ihr doch einen giftigen Pilz! Sieht gut aus und ist praktisch, wenn man mal jemanden vergiften will.“

Primo rollt mit den Augen. „Ich meinte eher etwas, womit ich ihr zeigen kann, dass ich sie liebe.“

„Hm ...“ Ruuna denkt angestrengt nach. „Ich hab’s! Ich habe da ein bisschen mit Farben experimentiert.“ Sie zwinkert ihm zu. „Na, fällt es dir auf?“

Jetzt, wo sie ihn darauf hinweist, fällt Primo tatsächlich auf, dass Ruuna anders aussieht als sonst. Über ihren Augen sind seltsame Schatten, ihre Haut sieht rosig aus und ihre Lippen sind ganz rot.

„Bist du krank?“, fragt Primo.

„Krank? Ich? Nein. Ich habe mich nur ein bisschen im Gesicht angemalt. Sieh mal, mit diesem in rote Farbe getauchten Holzstück habe ich mir die Lippen verschönert, und mit diesem rosa Pulver meine Wangen gefärbt. Und die Schatten unter den Augen habe ich mit Kohle gemacht. Hübsch, oder?“

„Ähm, nun, na ja ...“

„Du könntest doch Golina solche Gesichtsfarben schenken. Ich zeige dir, wie man sie herstellt, wenn du willst.“

Primo schüttelt den Kopf. Die Vorstellung, dass eine Frau ihr Gesicht anmalt, um hübscher auszusehen, kommt ihm völlig absurd vor. Sowas kann wirklich nur einer durchgeknallten Hexe einfallen!

„Lieber nicht“, sagt er. „Sonst denkt sie noch, ich finde sie nicht hübsch, so, wie sie ist.“

„Hm, auch wieder wahr“, gibt Ruuna zu.

„Wir könnten unseren Frauen neue Kleider schenken“, schlägt Kolle vor.

„Neue Kleider? Aber Margi und Golina haben doch schon so viele davon!“, wendet Primo ein.

„Ja, schon, aber vielleicht in einer neuen Farbe ... Ist dir nicht auch aufgefallen, dass die Welt in letzter Zeit bunter geworden ist?“

 

„Bunter? Weiß nicht ...“

„Das ist eine gute Idee!“, ruft Ruuna. „Und ich weiß eine Kleiderfarbe, die die beiden garantiert noch nicht haben!“

„Wirklich?“, fragt Primo skeptisch. „Welche denn?“

„Unsichtbar!“, ruft Ruuna aus. „Pass auf, ich zeig’s dir!“

Sie holt ein braunes Kleid aus einer Kiste, dann nimmt sie ein Fläschchen mit einem Trank aus einem Regal und spritzt etwas davon auf das Kleid, das plötzlich verschwindet.

Primo greift danach. Tatsächlich, das Kleid ist noch da, man sieht es nur nicht mehr.

„Wow!“, ruft Primo aus. „Das ist ja genial! Eine tolle Idee! Über diese Überraschung wird sich Golina ganz bestimmt freuen! Danke, Ruuna!“

„Äh, Primo, wenn das Kleid unsichtbar ist, dann ...“, beginnt Kolle, doch Primo ist so begeistert, dass er gar nicht zuhört. Ein unsichtbares Kleid ist das perfekte Geschenk!

Kolle bittet Ruuna, ein Kleid in die rote Farbe zu tauchen, die sie für ihre Lippen verwendet hat.

„Ich glaube, diese Farbe hat Margi noch nicht“, sagt er.

Umso besser, denkt sich Primo. Dann hat Golina als Einzige im Dorf ein unsichtbares Kleid!

Die beiden bedanken sich überschwänglich bei Ruuna für ihre Hilfe und kehren gut gelaunt ins Dorf zurück.

„Siehst du, es war eine gute Idee, dass wir zu Ruuna gegangen sind“, meint Primo. „Sie weiß immer einen Rat!“

„Ja“, stimmt Kolle zu. „Aber was schenken wir jetzt den anderen?“

„Welchen anderen?“

„Na, Magolus und Birta und Olum und Kaus und deinem Vater und meinen Eltern und all den anderen. Die haben doch auch alle Geburtstag!“

„Auweia“, stöhnt Primo.

2. Eine schöne Bescherung

Am übernächsten Tag wird auf der Wiese neben der Schlucht das Fest vorbereitet. Birta, die inzwischen schon Übung damit hat, kommandiert alle anderen herum und sorgt dafür, dass Tische und Stühle aufgebaut werden. Auf einem extragroßen Tisch, der etwas abseits steht, können die Dorfbewohner ihre Geschenke ablegen. Bald quillt der Tisch über von ihren Gaben: Gegrillte Steaks, Brote, Kuchen und gebratene Fische, deren Urheber leicht zu ermitteln sind. Auch die bunten Wollknäuel, die Jarga dort hingelegt hat, Porgos Gartengeräte und der Stapel mit Büchern, den Kolles Vater spendiert hat, könnten von niemand anderem stammen.

Primo und Kolle haben sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Sie sind in die Höhle unter dem Dorf gegangen und haben nach Gold gesucht, das sie im Schmiedeofen von Primos Vater eingeschmolzen und in kleine Nuggets gegossen haben – für jeden im Dorf eines. Nur Margi und Golina bekommen jeweils das Kleid, das Ruuna ihnen gegeben hat.

„Müsste nicht eigentlich jeder von uns jedem Dorfbewohner etwas schenken?“, fragt Kolle, als sie die Nuggets auf den Tisch legen.

„Tun wir doch. Wir haben gemeinsam nach Gold gesucht. Ich habe dir den Rücken freigehalten, als du gegen den Knallschleicher und die beiden Nachtwandler gekämpft hast. Dafür hast du mich festgehalten, als ich beinahe in die Tiefenschlucht gefallen wäre. Wir sind ein gutes Team, findest du nicht?“

„Ja, schon.“

„Na, dann ist es doch nur fair, dass wir auch als Team jedem was schenken.“

„Na, wenn du meinst ...“

In diesem Moment kommen Ruuna und Willert hinzu. Letzterer trägt eine große Kiste.

„Was ist denn da drin?“, fragt Primo. „Und wieso hast du die Kiste in buntes Papier gewickelt?“

„Das ist mein Überraschungsgeschenk“, erklärt die Hexe. „Es ist von Willert und mir für euch alle zusammen. Ich habe es eingepackt, damit man nicht gleich sieht, was es ist. Also, erst morgen aufmachen!“

Willert stellt die Kiste auf den Gabentisch, dann verschwinden die beiden wieder im Wald.

„Hm, keine schlechte Idee, das Geschenk in buntes Papier zu packen“, findet Kolle. „Das sieht hübsch aus! Meinst du, wir sollten unsere Goldnuggets auch einpacken? Und die Kleider?“

„Ach was“, meint Primo. „Die sehen auch so hübsch aus.“ Er grinst. „Und Golinas Kleid wird eine wirkliche Überraschung! Das sieht man nämlich gar nicht.“

„Stimmt. Wo hast du es denn hingelegt?“

„Da drüben ... glaube ich ...“

Primo betastet den Geschenkestapel. Hier irgendwo muss das Kleid doch liegen! Er gerät in Panik, als er es nicht findet. Doch dann ertastet er schließlich den unsichtbaren Stoff, der genau auf Olums Fischen liegt, die schon länger in der Sonne liegen und bereits etwas streng riechen. Erleichtert atmet er aus.

„Hast du die vielen Geschenke gesehen?“, fragt Golina ihn abends.

„Klar“, sagt Primo.

„Von wem wohl diese kleinen goldenen Körnchen sind? Die sind wirklich hübsch, und sie sehen richtig wertvoll aus.“

„Äh, keine Ahnung.“

„Und dann habe ich da ein wunderschönes rotes Kleid gesehen ... Hach, so eins hätte ich auch gerne! Aber das ist ja ganz bestimmt nicht für mich.“ Sie blickt ihm tief in die Augen. „Oder?“

„Äh, nein, ich ... ich glaube nicht.“

Golina wirkt enttäuscht. Primo verkneift sich ein Grinsen, als er daran denkt, was sie für Augen machen wird, wenn sie ihr noch viel tolleres unsichtbares Kleid bekommt.

„Hach, ich bin so aufgeregt“, sagt sie. „Ich weiß gar nicht, ob ich heute Nacht schlafen kann!“

Doch sie fällt schon bald in tiefen Schlaf. Primo dagegen liegt noch lange wach. Immer wieder stellt er sich vor, wie ihn Golina glücklich anlächelt und ihn zärtlich küsst, nachdem er ihr das Geschenk überreicht hat. Wer weiß, vielleicht entsteht bei diesem Kuss ja noch ein kleiner Dorfbewohner, ein süßes Mädchen vielleicht, so wie Maffi ...

Mitten in der Nacht schreckt Primo aus dem Schlaf. Schweiß steht ihm auf der Stirn. Er hatte einen schlimmen Alptraum: Golina hatte ihr neues unsichtbares Kleid an und lief damit stolz durchs Dorf, doch alle Dorfbewohner zeigten mit dem Finger auf sie und lachten sie aus! „Die ist ja ganz nackt!“, riefen sie.

Ein eisiger Schreck durchfährt ihn, als ihm klar wird, dass der Alptraum wahr ist: Wenn Golina ein Kleid trägt, das man nicht sieht, dann sieht es wirklich so aus, als wäre sie nackt! Das war es wohl, was Kolle ihm zu sagen versuchte, als sie bei Ruuna waren. Aber Primo hat wieder mal nicht zugehört.

Oh nein! Was soll er jetzt bloß machen? Er kann ihr auf keinen Fall so etwas Unnützes schenken wie ein unsichtbares Kleid!

Leise steht er auf und schleicht sich aus dem Haus. Der Mond steht hoch am Himmel und wirft sein fahles Licht auf das Dorf, das friedlich daliegt. In der Ferne stöhnt ein Nachtwandler, doch Asimov, der Golem sorgt dafür, dass sich kein Monster in die Nähe wagt.

In den Schatten der Häuser huscht Primo in Richtung der Schlucht, wo das vermaledeite Kleid auf dem Gabentisch liegt. Er hat vor, es vom Tisch zu nehmen und in die Schlucht zu werfen, damit Golina es auf keinen Fall findet. Aber was dann? Alle im Dorf bekommen von jedem etwas geschenkt, nur er hat nichts für Golina!

Das ist bloß Ruunas Schuld! Die Hexe und ihre vermaledeiten Ideen! Erst schlug sie vor, dass er Golina Gesichtsfarbe schenken soll, und dann auch noch ein unsichtbares Kleid! Wie konnte er nur so dumm sein, auf sie zu hören?

Was wohl in der bunt verpackten Kiste ist, die Ruuna und Willert gestern gebracht haben? Bestimmt auch bloß wieder irgendein Unfug! Womöglich sogar etwas Gefährliches, das vielleicht explodieren kann oder so. Das würde zu der Hexe passen! Vielleicht sollte er lieber mal nachsehen, was in der Kiste ist, bevor es morgen zu einer Katastrophe kommt. Schließlich ist er der offizielle Dorfbeschützer und trägt die Verantwortung für die Sicherheit des Dorfes.

Eine Bewegung reißt ihn aus seinen Gedanken. Da vorn huscht eine Gestalt die Dorfstraße entlang in Richtung der Schlucht. Wer mag das sein? Kolle vielleicht? Womöglich hat er auch Zweifel wegen des roten Kleides, das er Margi schenken wollte ...

Nein, das ist nicht Kolle. Als die Gestalt ins Mondlicht tritt, erkennt Primo die violette Robe des Priesters. Was macht Magolus mitten in der Nacht hier? Hat er vielleicht vergessen, seine Geschenke für die anderen auf den Tisch zu legen?

Vorsichtig schleicht Primo hinter Magolus her und versteckt sich hinter ein paar Erdblöcken, von wo aus er den Priester beobachtet.

Magolus bleibt vor dem Gabentisch stehen. Er scheint mit sich selbst zu reden, denn er murmelt leise Worte, die Primo nur mit Mühe verstehen kann.

„Das ist ja eine schöne Bescherung! Das sollte doch mein Ehrentag sein, und jetzt kriegen die anderen auch alle Geschenke ... Vielleicht sollte ich ihnen erzählen, dass Notch mir im Traum erschienen sei und gesagt habe, dass alle Geschenke nur mir gehören ... Aber was soll ich mit dem ganzen Krempel? Schnitzel, Eier, Kuchen, Brot, stinkende Fische, das gibt es doch auch sonst einfach so ... Moment, was ist das? Eine Kiste, in buntes Papier gepackt! Das ist hübsch! Und es gibt nur eine davon, also ist sie nur für mich! Bestimmt ist sie von der guten Birta. Hach, wie lieb! ... Was da wohl da drin ist? Ob ich mal reinschauen sollte?“

Magolus scheint eine Weile mit sich zu ringen, doch schließlich siegt seine Neugier, und er packt das Geschenk vorsichtig aus. Eine Holzkiste kommt zum Vorschein, aus der eine Menge spitzer Objekte herausragen, die so ähnlich aussehen wie Pfeile.

„Was ist denn das für ein Unsinn?“, murmelt Magolus. „Was soll ich denn mit einer Kiste voller Pfeile? Aber vielleicht ist ja noch mehr in der Kiste ... Wenn ich nur besser sehen könnte ...“

Magolus holt eine Fackel hervor und zündet sie an. Dann beugt er sich über die Kiste, um hineinzusehen.

Primo bekommt plötzlich ein mulmiges Gefühl. Er springt aus seinem Versteck hervor.

„Magolus!“, ruft er. „Geh lieber nicht so nah mit der Fackel an die ...“

„Waaah!“, macht Magolus vor Schreck und lässt die Fackel los, die genau auf die Kiste fällt.

Es beginnt zu zischen, und Funken sprühen hervor. Der Priester schlägt erschrocken nach der Kiste und wirft sie zu Boden.

Im nächsten Moment schießt ein waagerechter Feuerstrahl daraus hervor, und etwas Buntes kommt genau auf Primo zugeflogen. Er kann sich gerade noch zu Boden werfen. Zischend schießt eine leuchtende Kugel über ihn hinweg, trifft einen Baumstamm und explodiert in einer Wolke von bunten, glitzernden Sternen. Sofort geht der Baum in Flammen auf.

Immer mehr Feuerstrahlen schießen aus der Kiste, und brennende Kugeln fliegen in alle Richtungen, bevor sie auf Sträucher, Bäume und Hausdächer prallen und explodieren. Entsetzt muss Primo mit ansehen, wie mehrere Häuser in Flammen aufgehen.

„Feuer!“, schreit Magolus. „Hilfe! Es brennt! Es brennt!“

Als die Kiste endlich aufhört, Feuerstrahlen zu spucken, kommt Asimov den Dorfweg entlang gerannt.

„Was habt ihr denn jetzt schon wieder angestellt, ihr Unglücksnasen?“, ruft er.

Der Golem schnappt sich einen Eimer, der neben dem brennenden Haus von Kaus, dem Bauern steht, und rennt zum Brunnen. Dort füllt er den Eimer mit Wasser und rennt zu einem der brennenden Häuser, wobei er ein jaulendes Alarmgeräusch ausstößt, das klingt wie „Tatütata“. Als er das Wasser auf das Hausdach spritzt, hören einige der Blöcke auf, zu brennen.

„Was steht ihr da rum und glotzt?“, ruft Asimov Primo und Magolus zu. „Los, weckt die anderen! Und dann schnappt euch einen Eimer und helft mir!“

Das reißt Primo endlich aus seiner Schreckensstarre. Er rennt durch die Dorfstraße und brüllt: „Feuer! Feuer! Kommt alle aus den Häusern! Es brennt! Es brennt!“

Nach und nach stolpern schlaftrunkene Dorfbewohner auf die Straße. Als sie die Flammen aus den Hausdächern schlagen sehen, laufen sie in Panik umher und rufen wild durcheinander.

„Hilfe! Mein Haus brennt!“

„Artrax hat das Dorf angegriffen!“

„Quatsch, Artrax ist doch im Ende gefangen!“

„Tut doch was! Meine Bücher! Meine schönen Bücher!“

Primo rennt zur Schmiede und weckt Golina und Nano. Dann nimmt er sich einen Eimer, füllt ihn mit Flusswasser und hilft dabei, die Bibliothek zu löschen, die lichterloh brennt.

Als die Sonne aufgeht, wird das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar. Zwar wurde nicht das ganze Dorf zerstört wie beim Angriff der Knallschleicher, die Artrax aus Rache angelockt hatte. Doch mehrere Häuser sind schwer beschädigt, und die Bibliothek, in der Kolle mit Margi, Maffi und seinen Eltern Nimrod und Delfina gewohnt hat, ist nur noch eine verkohlte Ruine. Primos einziger Trost ist, dass auch das unsichtbare Kleid verbrannt ist, zusammen mit all den anderen Geschenken.

 

In diesem Moment kommen Willert und Ruuna aus dem Wald. Die Hexe sieht sich um. Dann ruft sie empört: „Habt ihr etwa ohne uns angefangen?“

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