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Winnetou 4

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Sie waren entzückt über das, was sie gehört hatten, und ich durfte überzeugt sein, sie hiermit ganz für unsere höhere und richtigere Anschauung gewonnen zu haben.

Gegen Morgen, grad als ich mit dem »jungen Adler« sprach, kam ein Bote der Apatschenhäuptlinge, die wir nach dem »Tal der Höhle« geschickt hatten, und meldete uns, daß sie dort glücklich angekommen seien und einen Teil der Hüter der Pferde überrumpelt hätten; den anderen Teil werde man nach Tagesanbruch überwältigen. Das war ziemlich ungenügend. In den früheren kriegerischen Zeiten hätte sich wohl niemand zur Überbringung einer so halben Nachricht bereit gefunden. Ich hielt es zwar nicht für nötig, den Boten durch einen Tadel zu kränken, aber der »junge Adler« sah es mir doch an, daß ich nicht befriedigt war. Er fragte, als wir wieder allein waren:

»Ich möchte gern bessere Nachricht bringen. Darf ich?«

»Ich danke«, wehrte ich ab. »Für solche Botenritte sind Andere da, die man sonst nicht brauchen kann.«

»Botenritt? – Ich will nicht reiten!«

»Was sonst?«

»Fliegen!«

»Ah! Wirklich?« fragte ich überrascht.

»Ja. Ich brauche nur eine halbe Stunde, um dort zu sein.«

»Das wäre freilich höchst vorteilhaft; aber die Gefahr – die Gefahr!«

»Es gibt keine!« lächelte er.

»Und wenn! Es ist mir doch zu waghaft, es zu erlauben!«

»So will ich nur fragen: Ist es mir verboten?«

»Verboten? Nein. Du bist dein eigener Herr!«

»Ich danke dir! Und noch eines, da es sich um den fliegenden Adler handelt: Du versprachst mir im ,Hause des Todes‘, mir die vier Medizinen zu geben, sobald ich dich um sie ersuche. Darf ich dich hieran erinnern?«

»Ja. Willst du sie haben?«

»Brauchst du sie noch?«

»Nein. Für mich haben sie ihre Arbeit getan.«

»Für mich noch nicht. Ich soll der Mann sein, der die Medizinen, die du uns genommen hast, wiederbringt.«

»Du sollst sie haben!«

»Gleich jetzt?«

»Gleich jetzt! Komm mit mir nach meiner Wohnung auf dem Schloß!«

Wir gingen hinauf, sogleich, obwohl es noch dunkel war. Dort nahm ich die Medizinen aus dem Verschluß und gab sie ihm. Er hing sie sich um den Hals.

»Ich danke dir!« sagte er. »Ich kann sie den Häuptlingen geben, wenn ich will?«

»Ganz nach deinem Belieben!«

»Sie ihnen einstweilen bloß zeigen?«

»Auch das! Diese deine Frage sagt mir, daß du meine Absichten kennst und nichts tun wirst, was nicht mit ihnen zu vereinigen ist. Ich bin beruhigt.«

»So habe ich noch einen Wunsch. Du sollst von mir sehen, wie leicht und wie sicher und ungefährlich das Fliegen ist, wenn man den richtigen Apparat besitzt. Bitte, begleite mich nach meinem Turm!«

Ich war einverstanden. Wir gingen hinauf. Oben angekommen, blieb ich am Fuß des Turmes zurück. Ich setzte mich auf eine Bank; er aber stieg nach der Plattform hinauf. Im Osten begann es leise zu dämmern. Nun noch einige Minuten, so ging der lichte Streifen auch nach dem Süden über. Die unter uns liegende Landschaft wurde sichtbar und schaute erwachend zu mir herauf. Da hörte ich über mir ein leises Surren.

»Jetzt! Ich komme!« erklang die Stimme meines jungen Freundes von oben.

Ich schaute auf. Der Vogel erschien. Er tat wie einen Sprung. Von der Plattform des Turmes in das Luftmeer hinaus. Er schlug einige Male die Flügel. Dann begann er, zu gleiten, zu schweben, abwärts und aufwärts, nach rechts und nach links, ganz wie der »junge Adler« es wollte. Dieser saß zwischen den beiden Körpern auf bequemem Sitz und lenkte seinen Flieger wie ein sicher gehendes, äußerst gehorsames Pferd. Er glitt einige Male in Bogen- oder Schlingenform vor mir hin und her. Dann rief er mir zu:

»Jetzt geht es in die Ferne hinaus, nach Süden, nach dem Tal der Höhle. – Lebe wohl!«

Er wendete sich in die von ihm angegebene Richtung, stieg mehrere hundert Fuß höher und entfernte sich so schnell, daß er schon nach kurzer Zeit meinem Auge als kleiner Punkt entschwand. Das versetzte mich in eine ganz eigenartige Stimmung. Ich fühlte mich als Mensch so stolz, und doch auch wieder so klein, so außerordentlich klein! Es lag in mir wie ein Sieg über alles Hemmende und Niedrige und doch auch zugleich wie eine Angst, ob das Große, was wir uns vorgenommen hatten, wohl auch gelingen werde. So stieg ich wieder nach dem Schleierfall hinab, wo es inzwischen vollständig hell geworden war, so daß wir die Zerstörung nun sichtbar vor uns liegen hatten. Es hätte keinen Zweck, sie zu beschreiben. Auch das eigenartige, sorgenvolle Regen und Treiben an der Unglücksstätte will ich nicht schildern. Es sah wüst um den großen Abgrund, der gerissen worden war, aus, und es gab jetzt noch keinen, der den zwecklosen Mut besaß, sich an seinen Rand heranzuwagen, um hinabsehen zu können. Menschen kamen und gingen. Sie alle wurden von der Frage bewegt, wann die ersten Geretteten wohl erscheinen würden. Leider handelte es sich hierbei nicht nur um Stunden. Der Gang, in dem gearbeitet werden konnte, war sehr schmal; es konnten also nicht zahlreich vereinte Kräfte in Tätigkeit gelangen. Darum schritt das Rettungswerk so langsam vor sich, daß mehr als ein voller Tag vergehen konnte, bis man zu den Verschütteten gelangte. Zuweilen erklang über den weiten Platz der Jammeruf des alten Tangua:

»Pida, – mein Sohn – mein Sohn!«

Oder man hörte einen der anderen Häuptlinge klagen:

»Meine Komantschen! Meine Utahs! Meine Sioux!«

Plötzlich aber gab es einen Augenblick, wo jedermann rief und jedermann schrie und jedermann nach oben in die Lüfte deutete:

»Ein Vogel! Ein Vogel! Ein Riesenvogel!«

Das war nicht ganz zwei Stunden, nachdem der »junge Adler« fortgezogen war. jetzt kam er wieder. Er wußte, wo ich zu suchen war. Er beschrieb einen weiten Bogen hoch über uns, verengte ihn nach und nach und kam in einer Schraubenlinie langsam und mit erstaunlicher Sicherheit zur Erde herab. Er faßte genau zwischen den Kanzeln, mitten auf der Fahrstraße, Fuß.

»Der ,junge Adler‘, der junge ,Adler‘ ist es!« rief es überall. jedermann drängte herbei, um ihm näher zu kommen. Da aber ertönte die mächtige Stimme Athabaskas:

»Zurück! – Gebt Raum! – Er ist der verheißene ,Adler‘, der dreimal um den ,Berg der Geheimnisse‘ fliegt und euch die verlorengegangenen Medizinen wiederbringt!«

Da stockte der Zudrang. Man staunte. Man hielt sich fern.

»Der verheißene Adler – – – dreimal um den ,Berg der Geheimnisse‘ – – – die Medizinen wiederbringt!« so erklang es überall und durcheinander.

Tatellah-Satah stieg von seiner Kanzel herab und schritt zu dem kühnen Flieger hin; ich mit ihm.

»Du fliegst, ohne mich zu fragen?« tadelte er. Aber auf seinem alten, wunderlieben Gesicht glänzte eine große, stolze Freude, denn nun war es ja erwiesen, daß der »junge Adler« fliegen konnte.

»Ich flog nicht für dich oder mich«, entschuldigte sich dieser, »sondern für Old Shatterhand.«

»Wohin?«

»Nach dem Tal der Höhle.«

»Wie steht es dort?«

»Die Hüter der Pferde sind alle gefangen. Man wird sie und die Pferde noch heut hierherbringen. Der Eingang der Höhle ist derart mit heruntergeschwemmten Felsen versperrt und verrammelt, daß kein Mensch von dort aus zu den Verschütteten zu kommen vermag. Ich habe es selbst gesehen. Sie können nur von hier oben ausgerottet werden. Wann befiehlst du, Tatellah-Satah, daß ich dreimal um den Berg fliegen und nach dem Schlüssel zu dem Berg der Königsgräber suchen soll?«

»Heut«, antwortete der Gefragte.

»Ich danke dir! Es wird genau zur Mittagszeit geschehen, wenn die Sonne über unsern Häuptern steht. Aber ich darf nicht allein hinauf. Es muß noch jemand dabei sein, sonst fliegt mir der Adler, während ich nach dem Schlüssel suche, fort.«

Er schaute sich bei diesen Worten unter uns um, sah Wakon mit anderen Häuptlingen in seiner Nähe stehen und sprach, seine Worte an diesen richtend, weiter:

»Mit mir da hinaufzufliegen, ist eine Verwegenheit, die ich von niemand fordern kann, der sie mir nicht anbietet. Aschta, deine Tochter, hat mich gebeten, sie mit hinaufzunehmen. Erlaubst du es?«

Wakon sah ihm mit einem langen, sehr ernsten Blick ins Gesicht und antwortete:

»Du bist kühn? Weißt du, was du von mir forderst?«

»Ja«, antwortete der »junge Adler« ebenso ernst.

»Kennst du die Folgen für dich und sie, wenn sie sich dir auf diesem Flug zugesellt?«

»Sie sind mir bekannt. Aschta hat mein Weib zu werden!«

»Und kennst du ihren Wert? Kennst du die Größe der Gabe, nach welcher du verlangst?«

Da zog der »junge Adler« die Brauen leicht zusammen und antwortete:

»Würde ich mir diese Gabe wünschen, wenn ich ihren Wert nicht zu schätzen wüßte? Bin ich weniger wert als sie?«

Da ging ein Lächeln über Wakons schönes Angesicht, und er entschied mit lauter Stimme, so daß alle es hörten:

»Du bist der erste ,Winnetou‘, und du wirst deinem Volk das Fliegen lehren. Du wirst ein großer, berühmter Häuptling sein. Ich erlaube, daß mein Kind dich hinauf gen Himmel begleite!«

Ein lauter Jubel rundum. Der »junge Adler« griff in die Drähte seines Apparates, ließ die Flügel schlagen, stieg ein Stück in die Höhe und rief herab:

»Wir danken dir, sie und ich. Ich hole mir sie zum Flug. Vorher aber habe ich ein Wort mit den Häuptlingen zu reden, die unsere Gefangenen sind.«

Er stieg noch weiter empor, flog zum Erstaunen aller dreimal rund um den Platz, kam dann in Windungen wieder nieder und erreichte die Erde grad vor der Kanzel, auf welcher Kiktahan Schonka mit seinen Verbündeten saß. Er trug die vier Medizinen, die ich ihm gegeben hatte. Sie sahen sie sofort, und To-kei-chun rief ihm zu:

»Unsere Medizinen! – Her damit! – Wer sie behält, ist ein Dieb!«

»Ja, es sind eure Medizinen«, antwortete der »junge Adler«. »Wir stahlen sie nicht, sondern wir bewahrten sie nur auf. Es wird Gericht über euch gehalten werden, wobei es sich zu zeigen hat, in welcher Weise sie mit euch vernichtet werden. Old Shatterhand nahm sie euch. Ererlaubte mir, sie euch zurückzugeben. Nun wir euch aber als Lügner, Räuber und Mörder erkennen, nehme ich sie wieder mit!«

 

»Uff, uff ! Uff, uff riefen sie erschrocken und streckten die Hände nach ihm aus.

Er aber beachtete das nicht. Er flog wieder auf, schwebte wieder dreimal um den Platz und verschwand dann hinter dem »Berg der Medizinen«, um sich auf seinem Wartturm niederzulassen.

Grad und genau zur Mittagszeit erschien er wieder, mit Aschta, seiner Braut, neben sich auf dem Sitz. Tausende standen rundum und schauten erwartungsvoll zu ihm auf. Die Herzen bebten über die Kühnheit des jungen, schönen, wagemutigen Paares. Er flog in weitem Kreis und ruhiger, sicherer Haltung erst die vorgeschriebenen drei Male um den Berg. Dann stieg er steil und hoch zur Spitze empor, um am Fuße der Felsennadel zu landen. Er selbst blieb sitzen, um den Apparat in eigener Gewalt zu behalten. Aschta aber stieg aus. Das sahen wir trotz der sehr bedeutenden Höhe. Sie verschwand. Nach einiger Zeit kehrte sie zurück und stieg wieder ein. Der Riesenvogel trennte sich vom Felsen, schwebte vom Berg ab und in Bogenlinien tiefer, immer tiefer, flog abermals dreimal um unsern Platz und ließ sich dann genau auf denselben Punkt der Fahrstraße, wo er schon einmal gestanden hatte, nieder. Wir befanden uns in größter Spannung und eilten alle hin – Tatellah-Satah mit.

»Habt Ihr gefunden?« fragte der letztere.

»Ja«, antwortete der junge Adler‘. »Den Stein, und unter ihm diese beiden Teller.«

Er gab sie unserem alten Freund. Es waren zwei kleine, uralte, irdene Teller, deren Ränder mit einem sehr harten Bindemittel vereinigt waren. Wir mußten sie zerbrechen, um zu dem Gegenstand zu kommen, der sich zwischen ihnen befand. Dieser Gegenstand war ein zusammengelegtes, weißgraues Stück Zeug mit Nesselglanz. Nachdem wir es auseinandergeschlagen hatte, sahen wir, daß es eine Karte war, eine Wegesroute, mit einer sehr dauernden, farbigen Flüssigkeit gezeichnet. Kaum hatte Tatellah-Satah einen Blick auf diese Zeichnung geworfen, so rief er im Tone der Genugtuung aus:

»Er ist es! Er ist es, der Schlüssel! Das ist der genaue Weg von dem ,Berg der Medizinen‘ bis auf die Spitze des ,Berges der Königsgräber‘! Wir haben gewonnen! Es ist ein Sieg, ein unendlich großer und unendlich wichtiger Sieg über die Schatten, mit denen die Geschichte der roten Rasse bisher zu kämpfen hatte! Es wird hell um uns werden, hell, klar und warm! Wir werden schon morgen oder übermorgen einen Entdeckungszug nach den hochgelegenen Königsgräbern veranstalten! Es soll Freude sein von heute an! Freude, Hoffnung und Zuversicht für alle, denen es ein Bedürfnis ist, sich an dem großen Aufstieg nach den Höhen der Menschheit zu betätigen!«

Von jetzt an gab es trotz der ernsten Lage der Verschütteten eine frohe Feststimmung rund um den Mount Winnetou. Es litt uns, nämlich Tatellah-Satah und mich, nicht unten an dem Wasserfall, sondern wir stiegen nach dem Schlosse hinauf, um in der Bibliothek den so glücklich gewonnenen »Schüssel« mit anderen vorhandenen Karten zu vergleichen und die Passierbarkeit des Weges zu studieren. Inzwischen war das Herzle mit dem Ingenieur und seinen photographischen Apparaten beschäftigt, bis sie gegen Abend kam und mir mitteilte, daß nun alles in Ordnung sei.

»Wer oder was ist in Ordnung?« fragte ich.

»Unser Winnetou«, antwortete sie, »nicht der versunkene, der steinerne. Er wird so schön, wie du es dir kaum denken kannst, auf dem Spiegel des Schleierfalles erscheinen, zu beiden Seiten von ihm die charakteristischen Porträts von Marah Durimeh und TatellahSatah. Aber ich werde diese Bilder erst dann erscheinen lassen, wenn wir über das Schicksal der Verschütteten beruhigt sein können. Unser herrlicher Winnetou soll nicht Angst und Sorge, sondern Erlösung und Glück bedeuten. Ist dir das recht?«

»Alles, was du in dieser deiner Lieblingsatmosphäre tust, ist mir recht. Laß uns Abendbrot essen und dann hinuntergehen! Ich muß in die Höhle, nachschauen, warum noch kein Erfolg vorhanden ist.«

Dann später in der Höhle angekommen, sah ich, daß mit außerordentlichem Eifer gearbeitet worden war; aber es gab eine so große Menge von Gestein und Erde zu bewegen, daß noch immer nicht ersehen werden konnte, wann es ein Ende nehmen werde. Es vergingen noch mehrere Stunden. Die Pferde der Verschütteten waren inzwischen angekommen. Man nahm das ohne große Aufregung hin. Die allgemeine Aufmerksamkeit war einzig und allein auf die Rettungsarbeiten gerichtet. Und endlich kam die Kunde, daß man den Gesuchten so nahe gekommen sei, daß man ihr fernes Klopfen hören könne. Es war anzunehmen, daß wenigstens noch eine Stunde vergehen werde, bis man die Klopfenden erreiche, und so rief ich sämtliche befreundete Häuptlinge zusammen, um unter dem Vorsitz Tatellah-Satahs über das Schicksal unserer Gefangenen zu beraten. Diese Beratung fand auf unserer Kanzel statt, denn sie sollte von denen, über deren Schicksal wir bestimmten, gehört werden. Ich gab die Weisung, möglichst streng zu verfahren, und so kam es, daß die Sitzung einen sehr ernsten Verlauf nahm. Das Urteil lautete: Simon Bell und Edward Sommer werden aus dem Komitee entlassen. William Evening und Antonius Paper werden fortgejagt. Kiktahan Schonka, Tusahga Saritsch, Tangua und To-kei-chun kommen an den Marterpfahl, bis sie tot sind, ihre Medizinen aber werden verbrannt. Ihre Unterhäuptlinge werden erschossen. Ihren viertausend Kriegern werden die Waffen, die Haarschöpfe und die Medizinen genommen; dann können sie laufen, wohin sie wollen!

Das hatte einen harten Klang, war aber nur gut gemeint. Wir wußten ja alle, daß keiner von uns die Ausführung dieses Urteils wirklich wünschte. Alle die Genannten hatten sich da drüben auf ihrer Kanzel, obwohl sie jedes Wort unserer Beratung deutlich hörten, vollständig still verhalten. Wir hatten keinen einzigen Laut von ihnen vernommen. Nun aber das Urteil verkündet war, gab es bei ihnen eine nicht mehr zu unterdrückende Aufregung und einen Lärm, der uns der beste Beweis dafür war, wie ernst sie uns und unsere Aussprüche nahmen. Nur allein Tangua beteiligte sich nicht an diesem Lärm. Er ließ auch jetzt nichts weiter als sein klagendes: »Pida, mein Sohn!« hören. Er mußte diesen Sohn außerordentlich lieb haben. Er war der achtbarste unter allen, die wir soeben verurteilt hatten; ja, er begann sogar mir sympathisch zu werden. übrigens taten wir so, als ob wir den Lärm da drüben gar nicht hörten.

Und nun kam aus der Höhle die Botschaft, daß die Verschütteten erreicht worden seien und daß ihr Anführer Pida mit Old Shatterhand zu sprechen wünsche. Ich gab die Weisung, ihn heraus zu mir zu bringen, aber nur ihn allein, denn sie alle seien als unsere Gefangenen zu betrachten. Es dauerte nicht lange, so kam er, ohne Waffen; man hatte sie ihm abgenommen. Ich reichte ihm die Hand und sagte:

»Pida ist mein Gefangener, aber mein Freund. Er wird uns nicht entfliehen?«

»Nein!« antwortete er stolz.

»Er gehe zu seinem Vater, um sich mit ihm zu besprechen. Dann komme er wieder zu mir! Je schneller er das tut, um so rascher werden seine verunglückten Krieger aus der Höhle befreit!«

Ich gab ihm einen Führer mit. Er ging. Als er drüben angekommen war, hörten wir jedes Wort, welches nun dort verhandelt wurde. Dann kehrte er zurück. Ich tat so, als ob wir nichts gehört hätten und nichts wüßten, und fragte ihn:

»Was hat Pida zu berichten?«

»Die Häuptlinge wünschen, mit Euch zu verhandeln.«

»Worüber?«

»Ueber ihr Schicksal.«

»Kennen sie es?«

»Ja.«

»Von wem? – Wer hat es ihnen mitgeteilt?«

»Niemand. Sie haben es gehört. Ihr habt beraten. Sie verstanden jedes Wort. Es geschehen Wunder hier am Mount Winnetou!«

»Ja, es geschehen hier Wunder!« stimmte ich bei. »Und das größte dieser Wunder ist, daß wir gesonnen sind, Gnade walten zu lassen. Aber nur in Beziehung auf Eure Krieger! Wir wollen ihnen ihre Medizinen lassen. Aber ihre Waffen haben sie in der Höhle abzulegen. Sie dürfen einzeln kommen, einer nach dem anderen. Die Hungrigen werden gespeist, die Durstigen getränkt und die Verletzten verbunden. Wenn Pida uns sein Wort verpfändet, daß alle diese Krieger sich dankbar und friedlich verhalten, ist es sogar möglich, daß wir auch gegen die Häuptlinge nachsichtig sind!«

»Ich gebe dir dieses Wort. Aber dann muß ich in die Höhle zurück, um diese Leute anzuweisen, wie sie sich zu verhalten haben!«

»So geh und komme bald wieder!«

Er wollte gehen, besann sich aber und sagte in etwas wärmerem Tone:

»Tangua, mein Vater, hörte von mir, daß du dich selbst jetzt noch als meinen Freund betrachtest. Er beauftragte mich, dir hierfür Dank zu sagen. Er hat mich lieb. Seine Angst um mich war groß!«

Nun entfernte er sich. Das Herzle war bis jetzt bei ihren Freundinnen gewesen, welche sich mit ihren Scharen bereit hielten, die aus der Höhle Entlassenen mit Speise, Trank und Verbandzeug zu empfangen. jetzt kam sie, um zu fragen, wann der erste Gerettete erscheine.

»Der war schon da!« antwortete ich. »Nämlich Pida. Er ist in die Höhle zurück, wird aber sofort wiederkehren. Und dann erscheinen sie alle, einer nach dem andern.«

»So ist es ja die höchste Zeit! Ich habe mich zu beeilen! Ich muß zum Ingenieur! Nun die Geretteten kommen, soll auch unser Winnetou erscheinen!«

Sie entfernte sich schnell. Es hatten bis jetzt nur einige wenige elektrische Glühlichter gebrannt, so daß von einer Beleuchtung des ganzen, großen, von Menschen wimmelnden Platzes keine Rede gewesen war. Jetzt kam Pida zurück, und grad als er wieder bei mir stand, öffnete der Ingenieur seinen Apparat, und sofort erschien auf der grandiosen, herabstürzenden Wasserfläche unser zum Himmel emporstrebender Winnetou, mit wehendem Haar und zur Erde zurückkehrender Häuptlingsfeder. Infolge der abwärts gehenden Bewegungen des Wassers hatte es den Anschein, als ob die Gestalt sich in Wirklichkeit nach oben bewege, was einen Eindruck hervorbrachte, der gar nicht zu beschreiben ist.

»Das ist Winnetou! Mein Winnetou! Unser Winnetou!« rief Tatellah-Satah über die in diesem Augenblick todesstille, kaum atmende Menschenmenge hin.

Und da hörte man Wakons sonore, weithin schallende Stimme:

»Ja, das ist Winnetou! Das ist seine Seele!«

Und nun löste sich die allgemeine Überraschung, das Staunen, die Bewunderung in tausend laute, begeisterte Freudenrufe auf, bis der mächtige Brustton des riesigen Intschu-inta erklang:

»Tatellah-Satah! Unser Tatellah-Satah!«

Das galt dem Kopf, den man zu Winnetous rechter Seite erblickte.

»Tatellah-Satah! Unser Tatellah-Satah!« jubelte die Menge.

»Der andere Kopf ist Marimeh, die Königin der Sage, die Freundin aller unserer Ahnen!«

Der »Junge Adler« war es, der das rief.

»Marimeh! Die Königin! Die Freundin!« ging es wiederholend von Mund zu Mund.

Eine Magik sondergleichen für das Auge und für das Herz, so lag der Schleierfall vor uns! Niemand dachte in diesem Augenblick an die gestern versunkene Figur. Niemand achtete des gähnenden Abgrundes, in dem die Pläne und die Hoffnungen unserer Gegner vollständig verschwunden waren. Aller Augen und aller Sinne und Gedanken waren nur von dem wie lebend erscheinenden Bild gefesselt, von dem kein Blick sich wenden zu können schien. Und da kamen die ersten Geretteten aus der Mündung des unterirdischen Ganges. Sie blieben stehen, von dem strahlenden Anblick, der nach so langer und tiefer Dunkelheit sich ihnen jetzt bot, wie fasziniert. Aber vorwärts, vorwärts! Sie mußten weiter, immer weiter! Denn es kamen hinter ihnen andere, die ebenso entzückt stehen blieben und doch ebenso auch weiter mußten! Unsere Winnetous bildeten ein Spalier, durch welche die dem Tod Entgangenen nach den für sie reservierten Teilen des Tales geleitet wurden, wo sie einstweilige Unterkunft und Verpflegung fanden. Das ging so stundenlang. Es hatte ungefähr um Mitternacht begonnen, und es endete erst gegen Morgen, als der Tag zu grauen begann.

Inzwischen hatte Pida nicht die Hände in den Schoß gelegt. Er war zwischen mir, dem Beauftragten von unserer Seite, und Tangua, dem Sprecher von jener Seite, fast ununterbrochen hin- und hergegangen und hatte sich alle mögliche Mühe gegeben, das über die Häuptlinge ausgesprochene Urteil möglichst zu mildern. Wir sahen das sehr gern, taten aber so, als ob uns an diesen neuen Verhandlungen gar nichts liege. Darum ließ ich zunächst nur in Beziehung auf die gewöhnlichen Krieger unsere Bestimmungen fallen. Sie durften frei sein, vollständig frei, ihre Medizinen und ihre Pferde behalten und sich entfernen, sobald sie wollten. Als sie das hörten, gab es einen großen Jubel unter ihnen. Ihre Lage gestaltete sich, den Verhältnissen angemessen, so vorteilhaft, wie sie es noch vor einigen Stunden gar nicht hatten ahnen können. Sie hatten trotz der Gefährlichkeit der Katastrophe keinen einzigen Toten gehabt. Die Verletzungen, welche meist in Quetschungen bestanden, waren zwar schmerzhaft, aber nicht gefährlich. Sie wurden von den Frauen verbunden, und die Herren Patienten fühlten sich in der ihnen gewidmeten Fürsorge außerordentlich wohl. Sie fanden es ganz angenehm, nun jetzt die Freunde derer zu sein, die sie noch gestern hatten vernichten wollen. Sie sahen die Sterne, welche ihre Wohltäter und Wohltäterinnen trugen. Sie fragten nach dem Sinn, nach der Bedeutung dieser Sterne. Man erklärte sie ihnen. Man zeigte auf die herrliche Gestalt unseres Winnetou. Man sagte ihnen, daß es sich nicht mehr um die Aufstellung eines toten, steinernen Bildes handle, sondern um die Schöpfung eines großen, edlen, lebendigen Winnetoukörpers, eines sich über ganz Amerika und auch darüber hinaus verbreitenden »Clan Winnetou«, der von seinen Gliedern weiter nichts verlangt, als edle Menschen zu sein, die nur Liebe geben, weil nur diese allein den Menschen edel macht. Bald hörte man die belehrende Stimme des »jungen Adlers« erschallen. Er war »der erste Winnetou« und gesellte sich jetzt zu ihnen, um ihnen zu predigen, was ihnen, zumal in ihrer jetzigen Lage, förderlich und heilsam war. An anderen Stellen hörte man die Stimmen anderer »Winnetous«. Sie gingen, um mich eines biblischen Ausdruckes zu bedienen, »Menschen fangen«.

 

Als Pida das sah, freute er sich und sagte:

»Es ist ein wunderbarer Samen, den Old Shatterhand in das Herz seines Bruder Winnetou legte. Dieser Same trug köstliche Früchte. Die Blüten duften weiter und weiter, und die Körner keimen weiter und weiter. Es wird nicht mehr Stunden, sondern nur noch Minuten dauern, so werden alle diese eure Feinde verlangen, in den Clan Winnetou‘ aufgenommen zu werden. Wäre ihnen diese Bitte zu erfüllen?«

»Gewiß! Sehr gern!« antwortete ich.

»Auch mir?«

»Auch dir!«

»Auch uns?«

Er deutete bei diesen Worten nach der gegnerischen Kanzel hinüber. Ich antwortete lächelnd:

»Mein Bruder Pida ist ein sehr, sehr kluger Vermittler. Wenn ich die Wahrheit sage, daß auch die gefangenen Häuptlinge in den Clan aufgenommen werden können, muß ich sie freigeben und ihnen alles verzeihen!«

»Wenn du das tust, bist du ein ,Winnetou‘, sonst aber nicht! Erlaubst du mir, zu meinem Vater zu gehen?«

»Geh!« sagte ich, aber erst nach einer Weile. »Doch kehre bald zurück. Der Morgen ist schon unterwegs.«

Er ging. Als er bei den Seinen angekommen war, hörten wir hier hüben wieder alles, was er drüben sagte. Er war auch dort ein vortrefflicher Vermittler. Die in der Höhle ausgestandene Angst, der liebevolle Empfang von unserer Seite, der unvergleichliche Eindruck der heutigen Beleuchtung und unserer Winnetoufigur, das alles wirkte zusammen, den jungen Häuptling der Kiowa zu unterstützen, seinen Zweck zu erreichen. Er kehrte zu mir zurück und meldete:

»Tangua, mein Vater, der Häuptling der Kiowa, wurde zu dir kommen, aber er kann nicht gehen. Er möchte dich um Verzeihung bitten, sich mit dir versöhnen!«

»So bleibe er!« antwortete ich froh. »Ich gehe zu ihm. Ich bitte dich, mich zu ihm zu bringen!«

Ehe ich mich mit ihm entfernte, bat ich die Häuptlinge, hier sitzen zu bleiben, zu lauschen und, falls ich von drüben herüber darum bitten sollte, mir zu antworten. Am Fuß unserer Kanzel erschien gerade jetzt der »junge

Adler«, um irgendeine Frage an mich zu richten. Ich ließ ihn gar nicht zu Wort kommen, sondern sagte:

»Die Häuptlinge sollen sofort ihre Medizinen erhalten. Wie lange dauert es, bis du sie bringen kannst?«

»Mit dem Vogel?« fragte er.

»Wenn es möglich ist, ja.«

»Eine halbe Stunde.«

»Das ist mir recht. Es wird dann, gerade so wie gestern, dämmern. Das ist die rechte Zeit. Bitte, geh sogleich!«

Als ich mit Pida drüben ankam, stand seine Frau mit ihrer Schwester an der Kanzel. Wir stiegen hinauf. Pida setzte sich zu den Häuptlingen nieder, ich aber blieb stehen. Tangua ergriff das Wort. Er sagte, daß er gern aufstehen möchte, um zu mir zu sprechen, leider aber könne er sich nicht erheben. Ich ließ ihn nicht weiterreden, sondern fiel ihm in das Wort. Ich sagte, wenn hier um Verzeihung gebeten werden solle, so sei gewiß nicht der Indianer, sondern das Bleichgesicht zuerst und zumeist hierzu verpflichtet, und dieses Bleichgesicht sei ich. Hierauf griff ich in die Vergangenheit und erzählte, wie das Bleichgesicht über das Meer gekommen sei, um seinem »roten Bruder« alle seine »Medizinen« zu rauben. Ich ging hierauf der Geschichte nach. Ich übertrieb nichts und bemäntelte nichts. Ich erzählte die Wahrheit, nackt und ungeschminkt, wie sie wirklich, wirklich war. Ich sprach von den Fehlern der roten Rasse, von ihren Tugenden, von ihren Leiden, vor allen Dingen von ihrer bisherigen Zukunftslosigkeit. Das alles habe man vornehmlich dem Bleichgesicht zu verdanken. Aber dieses Bleichgesicht sei zur besseren Erkenntnis gekommen. Es wünsche, daß sein roter Bruder leben bleibe und zum Volke werde, wie es ihm von Anfang an beschieden sei.

Dieses Bleichgesicht sei bereit, alle seine Irrtümer einzugestehen und wiedergutzumachen. Es fühle vor allen Dingen, daß es verpflichtet sei, sein Herz und sein Gewissen zu reinigen, indem es seine roten Brüder um Verzeihung bitte.

Indem ich dies sagte, trat ich zu ihnen hin und streckte meine Hände aus, sie ihnen zur Abbitte zu reichen. Einige Augenblicke lang waren alle still; dann aber wurden mir alle Hände entgegengereicht, und alle Stämme versicherten mir, daß sie ebenso gesündigt und ebenso um Verzeihung zu bitten hätten wie ich, das Bleichgesicht.

»Einander verzeihen! Ihr uns und wir euch!« rief Tangua. »Und dann einander helfen! Ich habe dich gehaßt, nun aber werde ich dich lieben! Wenn ich sterbe, soll Friede sein über meinem Grabe! Sind wir noch eure Gefangenen?«

»Nein!« erklang die Stimme Tatellah-Satahs.

»Uff!« rief Kiktahan Schonka. »Wer spricht da?«

»Der Bewahrer der großen Medizin.«

»Wo?«

»Drüben auf der anderen Teufelskanzel.«

»So sind wir hier auch auf einer Kanzel?«

»Ja. Ich belauschte euch auf der nördlichen Teufelskanzel, die man Tscha Manitou, das Ohr Gottes, nennt. Dort hört der gute Mensch, was die bösen Menschen sagen, und kann sich darum retten. Und nun belauschten wir euch hier auf der südlichen Teufelskanzel, die man Tscha Kehtikeh, nennt. Da hören die bösen Menschen, was die guten sagen, und sehen sich dann gerettet. Der Häuptling Tangua hat gefragt, ob ihr noch gefangen seid. Er mag weiter fragen!«

Das ließ er sich nicht zweimal sagen, sondern tat es sofort:

»Kommen wir an den Marterpfahl?«

»Nein«, antwortete Tatellah-Satah von drüben herüber.

»Wir müssen also nicht sterben?«

»Nein.«

»Wir behalten unsere Waffen und unsere Pferde?«

»Ja.«

»Dürfen hier bleiben und ,Winnetous‘ werden?«

»Ja.«

»Sind alle eure Häuptlinge einverstanden?«

»Alle, alle, alle, alle!« ertönten so viele Stimmen, wie Häuptlinge sich jetzt bei Tatellah-Satah befanden.

»Und was wird mit unseren Medizinen?«

»Schau zum Himmel auf! – Wen siehst du da?«

Es dämmerte jetzt so, daß der Ingenieur den Apparat schloß. Winnetou verschwand vom Schleierfall. Dafür aber erschien hoch oben der »Junge Adler«, ließ sich tiefer und tiefer herab, flog dreimal um den Platz und landete dann so, daß er genau vor der Kanzel den Boden berührte. Da stieg er aus, kam herauf und sprach:

»Old Shatterhand gibt euch durch mich eure Medizinen zurück. Ihr seid also frei!«

Wie hastig sie zugriffen, um sie sich umzuhängen! Sie jubelten laut, und dieser ihr Jubel verbreitete sich weiter und weiter. Dazwischen hinein aber rief Tatellah-Satah zu ihnen herüber:

»Ihr seid unsere Freunde! Morgen wird ein neues Komitee gebildet, welches über den ,Clan Winnetou‘ zu beraten hat. Und übermorgen reiten sämtliche Häuptlinge und Unterhäuptlinge nach dem ,Berg der Königsgräber, um nach der Geschichte unserer Vergangenheit zu suchen. Howgh!«