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Mein Leben und Streben

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Indem ich diese Gedanken in mir bewegte, fühlte ich gar wohl, daß ich mich durch ihre Ausführung einer Gefahr aussetzen würde, die für mich keine geringe war. Wie nun, wenn man diese Imagination nicht verstand und dieses »Ich« also nicht begriff? Wenn man glaubte, ich meine mich selbst? Lag es da nicht nahe, daß ein Jeder, dem es an Intelligenz oder gutem Willen fehlte, zwischen Wirklichkeit und Imagination zu unterscheiden, mich als Lügner und Schwindler bezeichnen würde? Ja, das lag allerdings in der Möglichkeit, aber für wahrscheinlich hielt ich es nicht. Ich hatte dieses »Ich,« also diesen Kara Ben Nemsi oder Old Shatterhand, ja mit allen Vorzügen auszustatten, zu denen es die Menschheit im Verlaufe ihrer Entwicklung bis heut gebracht hat. Mein Held mußte die höchste Intelligenz, die tiefste Herzensbildung und die größte Geschicklichkeit in allen Leibesübungen besitzen. Daß sich das in der Wirklichkeit nicht in einem einzelnen Menschen vereinigen konnte, das verstand sich doch wohl ganz von selbst. Und wenn ich, wie ich mir vornahm, eine Reihe von dreißig bis vierzig Bänden schrieb, so war doch gewiß anzunehmen, daß kein vernünftiger Mann auf die Idee kommen werde, daß ein einziger Mensch das Alles erlebt haben könne. Nein! Der Vorwurf, daß ich ein Lügner und Schwindler sei, war, wenigstens für denkende Leute, vollständig ausgeschlossen! So glaubte ich damals. Ja, ich war sogar fest überzeugt, trotzdem ich mit dem »Ich« mich nicht selbst meinte, doch mit bestem Gewissen behaupten zu können, daß ich den Inhalt dieser Erzählungen selbst erlebt oder miterlebt habe, weil er ja aus meinem eigenen Leben oder doch aus meiner nächsten Nähe stammte. Ich hielt es für gar nicht schwer, sondern sogar für sehr leicht und vor allen Dingen auch für interessant, sich vorzustellen, daß Karl May diese Reiseerzählungen zwar niederschreibt, sie aber so verfaßt, als ob sie nicht aus seinem eigenen Kopfe stammen, sondern ihm von jenem imaginären »Ich«, also von der großen Menschheitsfrage, diktiert worden seien. Ob diese meine Annahme richtig war, wird bald die Folge zeigen.

Der Vorsatz, meine Gestalten teils in indianische und teils in orientalische Gewänder zu kleiden, führte mich ganz selbstverständlich zu tiefem Mitgefühle für die Schicksale der betreffenden Völkerschaften. Der als unaufhaltsam bezeichnete Untergang der roten Rasse begann, mich ununterbrochen zu beschäftigen. Und über die Undankbarkeit des Abendlandes gegenüber dem Morgenlande, dem es doch seine ganze materielle und geistige Kultur verdankt, machte ich mir allerlei schwere Gedanken. Das Wohl der Menschheit will, daß zwischen beiden Friede ist, nicht länger Ausbeutung und Blutvergießen. Ich nahm mir vor, dies in meinen Büchern immerfort zu betonen und in meinen Lesern jene Liebe zur roten Rasse und für die Bewohner des Orients zu erwecken, die wir als Mitmenschen ihnen schuldig sind. Man versichert mir heut, dies nicht etwa bei nur Wenigen, sondern bei Hunderttausenden erreicht zu haben, und ich bin nicht abgeneigt, dies zu glauben.

Und nun die Hauptfrage: Für wen sollten meine Bücher geschrieben sein? Ganz selbstverständlich für das Volk, für das ganze Volk, nicht nur für einzelne Teile desselben, für einzelne Stände, für einzelne Altersklassen. Vor allen Dingen nicht etwa allein für die Jugend! Auf diese letztere Versicherung habe ich das größte Gewicht und den schärfsten Ton zu legen. Wäre es meine Absicht gewesen, Jugendschriftsteller sein oder werden zu wollen, so hätte ich ganz notwendigerweise auf die Ausführung aller meiner Pläne und auf die Erreichung aller meiner Ideale für immer verzichten müssen. Und dies zu tun, ist mir niemals eingefallen. Zwar hatte ich auch an die Jugend zu denken, denn sie bietet nicht nur zeitlich die erste Stufe des Volkes; sie ist es nicht nur, aus der sich das Volk immer fort und fort ergänzt, sondern sie ist es, die im Aufwärtsstreben der Menschheit den Alten und den Bequemen voranzusteigen hat, um das von unsern Pionieren neu gesichtete Terrain schnellsten Tempo‘s zu besetzen. Aber wie sie nur einen Teil des Volkes bildet, so konnte das, was ich an sie zu richten hatte, auch nur ein Teil dessen sein, was ich für das Volk als Ganzes schrieb. Wenn ich sage, daß ich für das Volk schreiben wollte, so meine ich damit, für den Menschen überhaupt, mag er so jung oder so alt sein, wie er ist. Aber nicht jedes meiner Bücher ist für jeden Menschen. Und doch auch wieder ist es für jeden Menschen, aber nach und nach, je nachdem er sich vorwärts entwickelt, je nachdem er älter und erfahrener wird, je nachdem er fähig geworden ist, ihren Inhalt zu verstehen und zu begreifen. Meine Bücher sollen ihn durch das ganze Leben begleiten. Er soll sie als Knabe, als Jüngling, als Mann, als Greis lesen, auf jeder dieser Altersstufen das, was ihrer Höhe entsprechend ist. Das Alles langsam, mit Ueberlegung und Bedacht. Wer meine Bücher verschlingt, und zwar wahllos verschlingt, um den ist es vielleicht schade; auf alle Fälle aber ist es noch mehr schade um sie! Wer sie mißbraucht, der soll nicht mich oder sie, sondern sich selbst zur Verantwortung ziehen. Ich erinnere da an das Rauchen, an das Essen und Trinken. Rauchen ist ein Genuß. Essen und Trinken ist unerläßlich. Aber jederzeit zu rauchen, zu essen, zu trinken, und Alles, was einem geboten wird, zu rauchen und zu verzehren, würde nicht nur töricht, sondern sogar schädlich sein. Eine gute, interessante Lektüre soll man genießen, aber nicht wie ein Haifisch verschlingen! Da meine Bücher nur Gleichnisse und Märchen enthalten, versteht es sich ganz von selbst, daß man reiflich über sie nachdenken soll und daß sie nur in die Hände von Leuten gehören, die nicht nur nachdenken können, sondern auch nachdenken wollen.

Als ich damals diese Gedanken erwog und meine Pläne faßte, hatte ich zwar schon Verschiedenes geschrieben und an die Oeffentlichkeit gegeben, aber es war mir noch nicht eingefallen, mich als Schriftsteller oder gar als Künstler zu bezeichnen. Und jeder wirkliche Schriftsteller muß doch zugleich auch Künstler sein. Ich hielt mich noch nicht einmal für einen zünftigen Lehrling, sondern nur erst für einen außerhalb der Zunft herumtastenden Anfänger, der seine ersten, kindlichen Gehversuche macht. Und doch schon so weit umfassende, weit hinausreichende Pläne! Wenn ich diese Pläne überschaute, so hätte mir eigentlich himmelangst werden sollen, denn es gehörten jedenfalls mehrere arbeitsreiche, ungestörte, glückliche Menschenleben dazu, den vor mir liegenden Stoff echt literarisch, also künstlerisch zu bewältigen. Aber es wurde mir doch nicht angst, sondern ich blieb sehr ruhig dabei. Ich fragte mich: Muß man denn Schriftsteller sein, und muß man denn Künstler sein, um solche Sachen schreiben zu dürfen? Wer will und kann es Einem verbieten? Machen wir es ohne Zunft, wenn es nur richtig wird! Und machen wir es ohne Kunst, wenn es nur Wirkung hat und das erreicht, was es erreichen soll! Ob Schriftsteller und Künstler mich als »Kollegen« gelten lassen würden, das mußte mir damals gleichgültig sein. Zwar, meinen individuellen Stolz besaß ich ebenso wie jeder andere Mensch, und von Kunst dachte ich so hoch, wie man nur denken kann. Aber diese meine Gedanken waren anders als diejenigen anderer Leute, besonders der Fachgenossen. Künstler zu sein, dünkte mich das Allerhöchste auf Erden, und es lebte tief in meinem Herzen der heiße Wunsch, diese Höhe zu erreichen, und sollte es erst noch in der letzten Stunde vor meinem Tode sein. Jener Kindheitsabend, an dem ich den »Faust« zu sehen bekam, stand noch unvergessen in meiner Seele, und die Vorsätze, die ich an ihn geschlossen hatte, besaßen noch ganz denselben Willen und dieselbe Macht über mich wie vorher. Für das Theater schreiben! Dramen schreiben! Dramen, in denen gezeigt wird, wie der Mensch aufsteigen soll und aufsteigen kann aus dem Erdenleide zur Daseinsfreude, aus der Sklaverei des niedern Triebes zur Seelenreinheit und zur Seelengröße. Um so Etwas schreiben zu können, muß man Künstler sein, und zwar echter, wahrer Künstler. Aber was ich nur da als Kunst dachte, das war etwas ganz Anderes als das, was die heutige Kritik als Kunst bezeichnet, und so blieb mir weiter nichts übrig, als alle meine Wünsche, die sich darauf bezogen, als Literat ein Künstler, und zwar ein wahrer, wertvoller Künstler sein zu dürfen, für lange, lange Jahre zurückzustellen und bis dahin zu bleiben, was ich eben war, nämlich ein unzünftiger Anfänger, der nicht die geringste Prätentien [sic] besaß, ein Zunftgenosse zu werden. Wie ich stets, seitdem ich lebte, abgesondert und einsam gestanden hatte, so war ich schon damals überzeugt, daß auch mein Weg als Literat ein einsamer sein und bleiben werde, so weit mein Leben reiche. Was ich suchte, fand sich nicht im alltäglichen Leben. Was ich wollte, war etwas dem gewöhnlichen Menschen vollständig Fernliegendes. Und was ich für richtig hielt, das war höchst wahrscheinlich für andere Leute das Falsche. Zudem war ich ja ein bestrafter Mensch. Da lag es mir nahe, ganz für mich zu bleiben und keinen wertvolleren Menschen mit mir zu belästigen. In Beziehung auf Kunst war ich nicht sachverständig. Vielleicht hatten die andern recht; ich konnte irren. Für alle Fälle aber hielt mich mein Ideal fest, am Abende meines Lebens, nach vollendeter Reife, ein großes, schönes Dichterwerk zu schaffen, eine Symphonie erlösender Gedanken, in der ich mich erkühne, Licht aus meiner Finsternis zu schöpfen, Glück aus meinem Unglück, Freude aus meiner Qual. Dies für später, wenn mir der Tod einst seinen ersten Wink erteilt. Für jetzt aber galt es, zu lernen, viel zu lernen und auf dieses Werk vorzubereiten, damit es nicht mißlinge. Jetzt Märchen und Gleichnisse geben, um dann am Schlusse des Lebens aus ihnen die Wahrheit und die Wirklichkeit zu ziehen und auf die Bühne zu bringen!

Aber diese Gleichnisse sind nicht kurze Schriftstücke wie z. B. die herrlichen Gleichnisse Christi, sondern lange Erzählungen, in denen viele Personen handelnd auftreten. Und ihre Zahl ist groß; sie sollen eine ganze Reihe von Bänden füllen und das Material für jene spätere große Aufgabe bilden, mit der ich meine Tätigkeit beschließen will. Sie können also keine sorgfältig ausgeführten Gemälde sein, sondern nur Federzeichnungen, nur Skizzen, Vorübungen, Etuden, an welche nicht der Maßstab gelegt werden darf, der nur für ausgesprochene Kunstwerke gilt. Ich kann und will und darf kein kunstvollendeter Paul Heyse sein, sondern meine Aufgabe ist, aus hochgelegenen Marmor und Alabasterbrüchen die Blöcke für spätere Kunstwerke zu brechen, deren Form ich höchstens andeuten kann, weil mir die Zeit zur Ausführung nicht zur Verfügung steht. Diese Andeutung gebe ich eben in Märchen, die meinen erzählenden Gleichnissen eingeschoben sind und die Punkte bilden, um welche sich das Interesse des Lesers konzentriert. Die künstlerische Kritik braucht sich also mit meinen Reiseerzählungen nicht zu befassen, weil es gar nicht meine Absicht ist, ihnen eine künstlerische Form oder gar Vollendung zu geben. Sie haben den einfachen, schlichten Arm- oder Fußringen der Araberinnen zu gleichen, die weiter nichts sein sollen, als eben nur silberne Ringe. Der Wert liegt im Metall, nicht in der Arbeit. Der Maler, welcher flüchtige Skizzen zeichnet, um ein großes Gemälde vorzubereiten, würde sich gewiß über den Kritiker verwundern, der an diese Skizzen denselben Maßstab legen wollte, den er dann später an das Gemälde zu legen hat.

 

Soviel über die Pläne, welche damals in mir entstanden und die ich festgehalten und befolgt habe bis auf den heutigen Tag. Sie kamen nicht plötzlich, und sie kamen nicht in gesellschaftlicher Fülle, sondern langsam, einer nach dem andern. Und sie reiften nicht eilig aus, sondern es dauerte monate- und jahrelang, ehe ich mir von dem einen Punkt bis zum nächsten klar geworden war. Ich hatte aber auch genugsam Zeit dazu. Ich legte mir eine Art von Buchhaltung über diese Pläne und ihre Ausführung an; ich habe sie mir heilig aufgehoben und besitze sie noch heut. Jeder Gedanke wurde in seine Teile zerlegt, und jeder dieser Teile wurde notiert. Ich stellte sogar ein Verzeichnis über die Titel und den Inhalt aller Reiseerzählungen auf, die ich bringen wollte. Ich bin zwar dann nicht genau nach diesen Verzeichnissen gegangen, aber es hat mir doch viel genützt, und ich zehre noch heut von Sujets, die schon damals in mir entstanden. Auch schriftstellerte ich fleißig; ich schrieb Manuskripte, um gleich nach meiner Entlassung möglichst viel Stoff zur Veröffentlichung zu haben. Kurz, ich war begeistert für mein Vorhaben und fühlte mich, obgleich ich Gefangener war, unendlich glücklich in der Aussicht auf eine Zukunft, die, wie ich wohl hoffen durfte, keine ganz gewöhnliche zu werden versprach.

Das Schicksal schien mit meinen Vorsätzen einverstanden zu sein. Es spendete mir, als ob es mich für alles Leid entschädigen wolle, eine reiche, hochwillkommene Gabe: Ich wurde begnadigt. Die Direktion hatte für mich ein Gnadengesuch eingereicht, auf welches ich ein volles Jahr meiner Strafzeit erlassen bekam. Ich stand in der ersten Disziplinarklasse und erhielt ein Vertrauenszeugnis ausgestellt, welches mir den Rückweg in das Leben glättete und mich aller polizeilichen Scherereien überhob. Der Kenner weiß, was das bedeutet!

Es war ein schöner, warmer Sonnentag, als ich die Anstalt verließ, zum Kampfe gegen des Lebens Widerstand mit meinen Manuskripten bewaffnet. Ich hatte nach Hause geschrieben, um die Meinigen von meiner Heimkehr zu benachrichtigen. Wie freute ich mich auf das Wiedersehen. Angst vor Vorwürfen brauchte ich nicht zu haben; dies war ja schon längst durch Briefe geordnet. Ich wußte, daß ich willkommen sei und daß man mir mit keinem Worte wehe tun werde. Am meisten freute ich mich auf Großmutter. Wie mußte sie sich gegrämt und gehärmt haben! Und wie gern würde sie mir ihre alte, liebe, treue Hand entgegenstrecken. Wie entzückt würde sie über meine Pläne sein! Wie sehr würde sie mir helfen, sie auszudenken und so tief wie möglich auszuschöpfen! Ich ging von Zwickau nach Ernsttal, also genau denselben Weg, den ich damals als Knabe gegangen war, um in Spanien nach Hilfe zu suchen. Es läßt sich denken, was für Gedanken mich auf diesem Weg begleiteten. Ich hatte auf jenem Heimwege mit dem Vater den Vorsatz gefaßt, ihn nie wieder durch Derartiges zu betrüben; wie schlecht aber hatte ich Wort gehalten! Sollte ich heut etwa ähnliche Vorsätze fassen, für deren Erfüllung die Ohnmacht des Menschen keine Gewähr zu leisten vermag? Das »Märchen von Sitara« tauchte vor mir auf. Gehörte ich vielleicht zu denen, auf deren Seelen, wenn sie geboren werden, der Teufel wartet, um sie in das Elend zu schleudern, so daß sie verloren gehen? Alles Sträuben und Aufbäumen hilft nichts; sie sind dem Untergange geweiht. Gilt das auch mir?

Meine Gedanken wurden trüber und trüber, je mehr ich mich der Heimat näherte. Es war, als ob mir von dort aus böse Ahnungen entgegenwehten. Meine frohe Zuversicht schien mich verlassen zu wollen; ich mußte mir Mühe geben, sie festzuhalten. Von der Lungwitzer Höhe aus schaute ich über das Städtchen hin. Da schlängelten sich vor meinen Augen die Wege, die ich damals so oft gegangen war, in heißem Kampfe mit jenen fürchterlichen inneren Stimmen liegend, die mir Tag und Nacht hindurch in einem fort die Worte »des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch« zuriefen. Und was war das? Indem ich hieran dachte, hörte ich ganz dieselbe Stimme erklingen, in mir, ganz deutlich, wie erst nur von Weitem, aber sie schienen sich zu nähern, »des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch, des Schneiders Fluch!« Sollte und wollte sich das etwa wiederholen? Ich erschrak, wie ich noch nie erschrocken bin, und eilte von dieser Stelle und von dieser Erinnerung fort, die Höhe hinab, durch das Städtchen hindurch, nach Hause, nach Hause, nach Hause!

Ich kam eher, als man mich erwartete. Meine Eltern wohnten noch im ersten Stock desselben Hauses. Ich stieg die Treppe empor und dann gleich noch eine zweite hinauf nach dem Bodenraume, wo Großmutter sich immer am liebsten aufgehalten hatte. Ich wollte zunächst zu ihr und dann erst zu Vater, Mutter und Geschwistern. Da sah ich die wenigen Sachen, die sie besessen hatte; sie selbst aber war nicht da. Da stand ihre Lade, mit blauen und gelben Blumen bemalt. Sie war verschlossen, der Schlüssel abgezogen. Und da stand ihre Bettstelle; sie war leer. Ich eilte hinab in die Wohnstube. Da saßen die Eltern. Die Schwestern fehlten. Das war Zartgefühl. Sie hatten gemeint, die Eltern gingen vor. Ich grüßte gar nicht und fragte, wo Großmutter sei. »Tot – — – gestorben!« lautete die Antwort. »Wann?« »Schon voriges Jahr.« Da sank ich auf den Stuhl und legte Kopf und Arme auf den Tisch. Sie lebte nicht mehr! Man hatte es mir verschwiegen, um mich zu schonen, um mir die Gefangenschaft nicht noch zu erschweren. Das war ja recht gut gedacht; nun aber traf es mich um so wuchtiger. Sie war nicht eigentlich krank gewesen; sie war nur so hingeschwunden, vor Gram und Leid um – — – mich!

Es dauerte lange Zeit, ehe ich den Kopf wieder hob, um die Eltern nun zu grüßen. Sie erschraken. Sie sagten mir später, mein Gesicht habe schlimmer ausgesehen als dasjenige einer Leiche. Die Geschwister kamen hinzu. Sie freuten sich des Wiedersehens, aber sie schauten mich so sonderbar an, so scheu. Das war nichts weiter als der Reflex meines eigenen Gesichts. Ich gab mir zwar die größte Mühe, aber ich konnte den Schlag, der mich soeben getroffen hatte, doch nicht ganz verbergen. Ich wollte nur von Großmutter wissen, jetzt weiter nichts, und man erzählte mir. Sie hatte sehr viel von mir gesprochen, aber niemals ein Wort, welches mich hätte kränken müssen, wenn ich dabeigewesen wäre. Und sie hatte nie geklagt oder gar geweint. Sie hatte gesagt, nun wisse sie, daß ich eine jener Seelen sei, die bei ihrer Geburt zur falschen Stelle geschleudert werden, um dort vernichtet zu werden. Nun sei sie überzeugt, daß ich durch die Geisterschmiede müsse, um alle irdischen Qualen über mich ergehen zu lassen. Aber sie wisse, ich werde nicht schreien, ich werde tragen, was zu tragen ist, und mir den Weg nach Dschinistan [sic] erzwingen. Je näher sie dem Tode kam, desto ausschließlicher lebte sie nur noch ihrer Märchenwelt und desto ausschließlicher sprach sie nur noch von mir. An einem der letzten Tage erzählte sie, daß der längst verstorbene Herr Kantor heute Nacht bei ihr gewesen sei. Er war unser Nachbar gewesen. Die beiden Häuser stießen aneinander. Da habe sich plötzlich im Dunkel die Mauer auseinander getan, und es sei hell geworden, aber nicht in einem gewöhnlichen Licht, sondern von einem, welches sie noch nie gesehen habe. Von ihm beleuchtet, sei der Herr Kantor erschienen. Er haben genauso ausgesehn wie damals, als er noch lebte. Er sei langsam bis an ihr Bett gekommen, habe sie freundlich lächelnd gegrüßt, wie es immer seine Art und Weise war, und dann gesagt, daß sie sich ja nicht um mich sorgen solle; ich könne wohl stürzen wie jeder Andere, nicht aber liegen bleiben; es werde mir zwar schwer gemacht, doch erreiche ich sicher mein Ziel. Nach diesen Worten nickte er ihr wieder freundlich zu und ging ebenso langsam, wie er gekommen war, nach der Mauerlücke zurück. Sie schloß sich hinter ihm. Das Licht verschwand; es wurde wieder dunkel.

Als sie das erzählt hatte, war es gewesen, als ob ein Teil jenes fremden, ihr bisher unbekannten Lichtes auf ihrem Gesicht zurückgeblieben sei, und es lag auch noch dann darauf, als sie die Augen geschlossen hatte und nicht mehr atmete. Ihr Tod war ein sanfter, ein friedlicher, ein seliger gewesen; mir aber war gar nicht friedlich und gar nicht selig zu Mute, als man mir von ihm erzählte. Es tauchten Vorwürfe in mir auf, aber keine Vorwürfe, die nur Gedanken sind, wie bei andern Leuten, die nicht von derselben Veranlagung sind wie ich, sondern Vorwürfe viel wesentlicherer, viel kompakterer Art. Ich sah sie in mir kommen, und ich hörte, was sie sagten, jedes Wort, ja wirklich, jedes Wort! Das waren nicht Gedanken, sondern Gestalten, wirkliche Wesen, die nicht die geringste Identität mit mir zu besitzen schienen und doch identisch waren. Welch ein Rätsel! Aber welch ein ungewöhnliches, furchtbar beängstigendes Rätsel! Sie glichen jenen in mir schreienden, dunkeln Gestalten von früher her, mit denen ich – — – mein Gott, kaum hatte ich an sie gedacht, so waren sie wieder da, ganz so, wie ich damals gezwungen gewesen war, sie in meinem Innern zu sehen und zu hören. Ich vernahm ihre Stimmen so deutlich, als ob sie vor mir stünden und an Stelle der Eltern und Geschwister mit mir sprächen. Und sie blieben. Sie gingen, als ich mich niederlegte, mit mir schlafen. Aber sie schliefen nicht und ließen auch mich nicht schlafen. Es begann das frühere Elend, die frühere Marter, der frühere Kampf mit unbegreiflichen Mächten, die um so gefährlicher waren, als ich absolut nicht entdecken konnte, ob sie Teile von mir seien oder nicht. Sie schienen es zu sein, denn sie kannten einen jeden meiner Gedanken, noch ehe er mir selbst zum Bewußtsein kam. Und doch konnten sie ganz unmöglich zu mir gehören, weil das, was sie wollten, fast stets das Gegenteil von meinem Willen war. Ich hatte mit meiner Vergangenheit abgeschlossen. Der vor mir liegende Teil meines Lebens sollte ein ganz anderer sein, als der, welcher hinter mir lag. Diese Stimmen aber waren bemüht, mich mit aller Gewalt in die Vergangenheit zurückzuzerren. Sie verlangten wie früher, daß ich mich rächen solle. Nun erst recht mich rächen, für die im Gefängnis verlorene, köstliche Zeit! Sie wurden von Tag zu Tag lauter; ich aber stemmte mich gegen sie; ich tat, als ob ich nichts, gar nichts höre. Das war aber selbst bei der größten Kraftaufwendung nicht länger als höchstens nur einige Tage lang auszuhalten. Indessen besuchte ich einige Verleger, um mit ihnen über die Herausgabe der im Gefängnisse geschriebenen Manuskripte zu verhandeln. Hierbei stellte es sich heraus, daß während dieser meiner Abwesenheit die inneren Stimmen um so mehr verstummten, je weiter ich mich von der Heimat entfernte, und wieder um so deutlicher wurden, je mehr ich mich ihr wieder näherte. Es war, als ob diese finstern Gestalten dort seßhaft seien und nur dann über mich herfallen könnten, wenn ich die Unvorsichtigkeit beging, mich dort einzufinden. Ich beschloß hierauf die Probe zu machen. Ich kassierte meine Honorare ein und machte eine längere Auslandsreise. Wohin, das habe ich im zweiten Bande dieses Werkes zu erzählen, in welchem meinen Reisen und ihren Ergebnissen ein größerer Raum gewidmet werden soll, als ich ihnen hier gewähren könnte. Während dieser Reise verschwanden diese Bilder ganz und gar; ich wurde vollständig frei von ihnen. Dafür aber stellte sich ein ganz ungewöhnlicher Drang in mir ein, nach der Heimat zurückzukehren. Es war kein gesunder, sondern ein kranker Trieb; das fühlte ich gar wohl, aber er wurde so stark, daß ich die Widerstandskraft verlor und ihm gehorchte. Ich kehrte heim, und kaum war ich dort, so stürzte sich Alles, was ich beseitigt glaubte, wieder auf mich. Die Anfechtungen begannen von Neuem. Ich vernahm unausgesetzt den inneren Befehl, an der menschlichen Gesellschaft Rache zu nehmen, und zwar dadurch Rache, daß ich mich an ihren Gesetzen vergriff. Ich fühlte, daß ich, falls ich diesem Befehle Gehorsam leiste, ein höchst gefährlicher Mensch sein werde, und nahm alle mir gegebene Kraft zusammen, gegen dieses entsetzliche Schicksal anzukämpfen.

 

Ich halte es hier für nötig, zu konstatieren, daß ich meinen Zustand keineswegs für pathologisch hielt. Alle meine Vorfahren waren, soweit ich sie kannte, sowohl körperlich als auch geistig kerngesunde Menschen gewesen. Es gab nichts Atavistisches an mir. Was sich in dieser Beziehung mir angeheftet hatte, das war gewiß nicht von innen heraus erzeugt, sondern von außen her an mich herangetreten. Ich arbeitete fleißig, fast Tag und Nacht, wie ich überhaupt an der Arbeit stets meine größte Freude gefunden habe. Man kaufte meine Sachen gern. Ich litt also keineswegs Not, zumal ich bei den Eltern wohnte, die sich jetzt auch besser standen als früher. Ich hätte vollständig zu leben gehabt, auch wenn ich mir nichts verdiente. Bei diesen Arbeiten wiederholte sich das, was ich schon früher beschrieben habe. Wenn ich etwas Gewöhnliches schrieb, stellte sich nicht die geringste Hinderung ein. Sobald ich mir aber ein höheres Thema stellte, eine geistig, religiös oder ethisch wertvollere Aufgabe, wurden Gewalten in mir rege, die sich dagegen empörten und mich dadurch hinderten, meine Arbeit zustande zu bringen, daß sie mir, wahrend ich schrieb, die trivialsten, blödesten oder gar verbotensten Gedanken dazwischenwarfen. Ich sollte nicht empor; ich sollte unten bleiben. Hierzu gesellte sich ein alter, sehr wohlbekannter Hallunke, dem Niemand trauen darf, und wenn er auch noch so schmeichelt; ich meine den Durst. Der Abscheu vor Branntwein ist mir angeboren; ich genieße ihn höchstens als Arznei. Wein war mir schon des Preises wegen bisher versagt, und auch für Bier besitze ich keineswegs die Zuneigung, welche man empfinden muß, um ein Trinker zu werden. Jetzt aber fühlte ich seltsamer Weise stets großen Durst, wenn ich auf meinen Spaziergängen an einem Wirtshause vorüberging, und auch des Abends, wenn Andere nicht mehr arbeiteten, trat mir das Verlangen nahe, die Feder hinzulegen und in die Kneipe zu gehen, wie sie. Ich tat es aber nicht. Vater tat es. Er konnte sein Glas einfaches Bier und sein Schnäppschen [sic] nicht gut entbehren. Ich aber hatte keine Lust dazu und blieb daheim. Das war mir nicht etwa ein Opfer und fiel mir nicht etwa schwer, o nein. Ich erzähle es nur des psychologischen Interesses wegen, weil es mir höchst sonderbar erscheint, daß dieser meiner ganzen Natur widersprechende und mir sonst vollständig fremde Durst nach Spirituosen immer nur dann auftrat, wenn jene Stimmen die Oberhand in mir hatten, sonst aber nie!

Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, Großmutter meine Arbeitspläne vorzulegen; nun war sie tot. Ich sprach hierüber also mit den Eltern und Geschwistern. Vater hatte jetzt Anderes zu denken. Er war in einer Art sozialer Mauserung begriffen und darum für mich nicht zu haben, zumal er des Abends nie daheim blieb. Auch die Schwestern hatten andere Interessen. Mein ganzer Gedankenkreis war ihnen fremd. So blieb mir nur die Mutter. Sie saß des Abends mit ihrem Strickstrumpf still am Tische, an dem ich schrieb. Ich legte ihr so gern die Gedanken vor, mit denen ich meine Feder beschäftigte. Sie hörte mir ruhig zu. Sie nickte einverstanden. Sie lächelte ermutigend. Sie sagte ein liebes, tröstendes Wort. Sie war wie eine Heilige. Aber auch sie verstand mich nicht. Sie fühlte nur; sie ahnte. Und sie wünschte von ganzem Herzen, daß Alles so werden möchte, wie ich es mir ersehnte. Und als sie sah, wie fest und unerschütterlich ich an meine Zukunft glaubte, da glaubte auch sie und war so froh, wie eine Mutter sein kann, deren Kind noch so glücklich ist, sich auf Gott, auf die Menschheit und auf sich selbst verlassen zu dürfen. Ich aber fühlte mich einsam, einsam wie immer. Denn auch im ganzen Orte gab es keinen einzigen Menschen, der mich hätte verstehen wollen oder gar verstehen können. Und diese Einsamkeit war mir, grad mir, dem innerlich so schwer Angefochtenen im höchsten Grade gefährlich. Nichts war mir nötiger als verständnisvolle Geselligkeit. Aber ich stand, wenn auch nicht äußerlich, so doch innerlich stets allein und war also den Gestalten, die mich bezwingen wollten, fast unausgesetzt und schutzlos preisgegeben. Und mitten in dieser Schutzlosigkeit wurde ich nun auch von andern Feinden gepackt, die, obgleich sie keine inneren, sondern äußerliche waren, doch ebenso wenig mit den Händen gefaßt werden konnten.

Meine Mutter hatte infolge ihres Berufes unausgesetzt in andern Familien zu verkehren. Sie war Vertrauensperson. Man hatte sie gern. Man teilte ihr Alles mit, ohne daß man sie um Verschwiegenheit zu bitten brauchte. Sie erfuhr Alles, was im Städtchen und in der Umgegend geschah. Es hatte irgendwo einen Einbruch gegeben. Jedermann sprach von ihm. Der Täter war entkommen. Bald gab es wieder einen, in derselben Weise ausgeführt. Dazu kamen einige Schwindeleien, wahrscheinlich von herabgekommenen Handwerksburschen in Szene gesetzt. Ich hörte gar nicht hin, als man es erzählte, bemerkte aber nach einiger Zeit, daß Mutter noch ernster als gewöhnlich war und mich, wenn sie glaubte, unbeobachtet zu sein, so eigentümlich mitleidig betrachtete. Ich blieb anfänglich still, glaubte aber sehr bald, sie nach dem Grunde fragen zu müssen. Sie wollte nicht antworten; ich bat aber so lange, bis sie es tat. Es zirkulierte ein Gerücht, ein unfaßbares Gerücht, daß ich jener Einbrecher sei. Wem sollte man es zutrauen, als mir, dem entlassenen Gefangenen? Ich lachte äußerlich dazu, innerlich aber war ich empört, und es gab einige schwere Nächte. Es brüllte vom Abend bis zum Morgen in meinem Innern. Die Stimmen schrien mir zu: »Wehre dich, wie du willst, wir geben dich nicht los! Du gehörst zu uns! Wir zwingen dich, dich zu rächen! Du bist vor der Welt ein Schurke und mußt ein Schurke bleiben, wenn du Ruhe haben willst!« So klang es bei Nacht. Wenn ich am Tage arbeiten wollte, brachte ich nichts fertig. Ich konnte nicht essen. Mutter hatte es auch dem Vater gesagt. Beide baten mich, mir die Sache nicht zu Herzen zu nehmen. Sie konnten für mich eintreten. Sie wußten ja genau, daß ich in den betreffenden Zeiten nicht aus dem Haus gekommen war. Was wir erfuhren, war alles im Vertrauen gesagt. Kein Name wurde genannt. Darum gab es keinen Punkt, an dem ich zugreifen konnte, mich zu wehren. Aber es kam schlimmer. Die heimatliche Polizei wollte mir nicht wohl. Ich war mit Vertrauenszeugnis entlassen worden und darum ihrer Aufsicht entgangen. Jetzt glaubte sie, Veranlassung zu haben, sich mit mir zu beschäftigen. Es kamen einige neue Schelmenstreiche vor, deren Täter ganz unbedingt mit einer gewissen Intelligenz behaftet waren. Man glaubte, dies auf mich deuten zu müssen. Das war zu derselben Zeit, in der sich die schon erwähnte »Lügenschmiede« zu bilden begann. Neue Gerüchte kursierten, romantisch ausgeschmückt. Der Herr Wachtmeister erkundigte sich unter der Hand, wo ich an dem und dem Tag, zu der und der Zeit gewesen sei. Die Augen hingen an mir, wo ich mich sehen ließ; aber sobald ich diese Blicke wiedergab, schaute man schnell hinweg. Da kam ein armer Wurm, aber ein guter Kerl, ein Schulkamerad, der mich immer lieb gehabt hatte und auch jetzt noch an mir hing. Der war sprichwörtlich unbeholfen und unverzeihlich aufrichtig. Er hielt grob sein für Menschenpflicht. Der konnte es nicht länger aushalten. Er kam zu mir und erzählte mir auf Handschlag und Schweigepflicht Alles, was gegen mich im Schwange ging. Das war so dumm und doch so empörend, so leichtsinnig und gewissenlos, so – — so – — so – — so – — – ich fand keine Worte, dem armen, wohlmeinenden Menschen für seine schmerzhafte Aufrichtigkeit zu danken. Aber als er mein Gesicht sah, machte er sich so schnell wie möglich von dannen.