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Mein Leben und Streben

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Nach diesen allgemeinen Bemerkungen kann ich nun zu mir selbst zurückkehren und zu jener Morgenfrühe, in der ich aus Ernsttal fortging, um mir bei einem edeln spanischen Räuberhauptmann Hilfe zu holen. Man glaube ja nicht, daß dies eine »verrückte« Idee gewesen sei. Ich war geistig kerngesund. Meine Logik war zwar noch kindlich, aber doch schon wohlgeübt. Der Fehler lag daran, daß ich infolge des verschlungenen Leseschundes den Roman für das Leben hielt und darum das Leben nun einfach als Roman behandelte. Die überreiche Phantasie, mit der mich die Natur begabte, machte die Möglichkeit dieser Verwechslung zur Wirklichkeit.

Meine Reise nach Spanien dauerte nur einen Tag. In der Gegend von Zwickau wohnten Verwandte von uns. Bei ihnen kehrte ich ein. Sie nahmen mich freundlich auf und veranlaßten mich, zu bleiben. Inzwischen hatte man daheim meinen Zettel gefunden und gelesen. Vater wußte, nach welcher Richtung hin Spanien liegt. Er dachte sofort an die erwähnten Verwandten und machte sich in der Ueberzeugung, mich sicher dort anzutreffen, sofort auf den Weg. Als er kam, saßen wir rund um den Tisch, und ich erzählte in aller Herzensaufrichtigkeit, wohin ich wollte, zu wem und auch warum. Die Verwandten waren arme, einfache, ehrliche Webersleute. Von Phantasie gab es bei ihnen keine Spur. Sie waren über mein Vorhaben einfach entsetzt. Hilfe bei einem Räuberhauptmann suchen! Sie wußten sich zunächst keinen Rat, was sie mit mir anfangen sollten, und da war es wie eine Erlösung für sie, als sie meinen Vater hereintreten sahen. Er, der jähzornige, leicht überhitzige Mann, verhielt sich ganz anders als gewöhnlich. Seine Augen waren feucht. Er sagte mir kein einziges Wort des Zornes. Er drückte mich an sich und sagte: »Mach so Etwas niemals wieder, niemals!« Dann ging er nach kurzem Ausruhen mit mir fort – — wieder heim.

Der Weg betrug fünf Stunden. Wir sind in dieser Zeit still nebeneinander hergegangen; er führte mich an der Hand. Nie habe ich deutlicher gefühlt wie damals, wie lieb er mich eigentlich hatte. Alles, was er vom Leben wünschte und hoffte, das konzentrierte er auf mich. Ich nahm mir heilig vor, ihn niemals wieder ein solches Leid, wie das heutige, an mir erleben zu lassen. Und er? Was mochten das wohl für Gedanken sein, die jetzt in ihm erklangen? Er sagte nichts. Als wir nach Hause kamen, mußte ich mich niederlegen, denn ich kleiner Kerl war zehn Stunden lang gelaufen und außerordentlich müde. Von meinem Ausflug nach Spanien wurde nie ein Wort gesprochen; aber das Kegelaufsetzen und das Lesen jener verderblichen Romane hörte auf. Als dann die Zeit gekommen war, stellte sich die nötige Hilfe ein, ohne aus dem Lande der Kastanien geholt werden zu müssen. Der Herr Pastor legte ein gutes Wort für mich bei unserem Kirchenpatron, dem Grafen von Hinterglauchau, ein, und dieser gewährte mir eine Unterstützung von fünfzehn Talern pro Jahr, eine Summe, die man für mich für hinreichend hielt, das Seminar zu besuchen. Zu Ostern 1856 wurde ich konfirmiert. Zu Michaelis bestand ich die Aufnahmeprüfung für das Proseminar zu Waldenburg und wurde dort interniert.

Also nicht Gymnasiast, sondern nur Seminarist! Nicht akademisches Studium, sondern nur Lehrer werden! Nur? Wie falsch! Es gibt keinen höheren Stand als den Lehrerstand, und ich dachte, fühlte und lebte mich derart in meine nunmehrige Aufgabe hinein, daß mir Alles Freude machte, was sich auf sie bezog. Freilich stand diese Aufgabe nur im Vordergrund. Im Hintergrunde, hoch über sie hinausragend, hob sich das über alles Andere empor, was mir seit jenem Abende, an dem ich den Faust gesehen hatte, zum Ideal geworden war: Stücke für das Theater schreiben! Ueber das Thema Gott, Mensch und Teufel! Konnte ich das als Lehrer nicht ebenso gut wie als gewesener Akademiker? Ganz gewiß, vorausgesetzt freilich, daß die Gabe dazu nicht fehlte. Wie stolz ich war, als ich zum ersten Male die grüne Mütze trug! Wie stolz auch meine Eltern und Geschwister! Großmutter drückte mich an sich und bat:

»Denk immer an unser Märchen! Jetzt bist du noch in Ardistan; du sollst aber hinauf nach Dschinnistan. Dieser Weg wird heut beginnen. Du hast zu steigen. Kehre dich niemals an die, welche dich zurückhalten wollen!«

»Und die Geisterschmiede?« fragte ich. »Muß ich da hinein?«

»Bist du es wert, so kannst du sie nicht umgehen,« antwortete sie. »Bist du es aber nicht wert, so wird dein Leben ohne Kampf und ohne Qual verlaufen.«

»Ich will aber hinein; ich will!« rief ich mutig aus.

Da legte sie mir ihre Hand auf das Haupt und sagte lächelnd:

»Das steht bei Gott. Vergiß ihn nicht! Vergiß ihn nie in deinem Leben!«

Diesem Rat bin ich gehorsam gewesen, muß aber, falls ich ehrlich sein will, eingestehen, daß mir das niemals schwer geworden ist. Ich kann mich nicht besinnen, daß ich je mit dem Zweifel oder gar mit dem Unglauben zu ringen gehabt hätte. Die Ueberzeugung, daß es einen Gott gebe, der auch über mich wachen und mich nie verlassen werde, ist, sozusagen, zu jeder Zeit eine feste, unveräußerliche Ingredienz meiner Persönlichkeit gewesen, und ich kann es mir also keineswegs als ein Verdienst anrechnen, daß ich diesem meinem lichten, schönen Kinderglauben niemals untreu geworden bin. Freilich, so ganz ohne alle innere Störung ist es auch bei mir nicht abgegangen; aber diese Störung kam von außen her und wurde nicht in der Weise aufgenommen, daß sie sich hätte festsetzen können. Sie hatte ihre Ursache in der ganz besonderen Art, in welcher die Theologie und der Religionsunterricht am Seminar behandelt wurde. Es gab täglich Morgen- und Abendandachten, an denen jeder Schüler unweigerlich teilnehmen mußte. Das war ganz richtig. Wir wurden sonn- und feiertäglich in corpore in die Kirche geführt. Das war ebenso richtig. Es gab außerdem bestimmte Feierlichkeiten für Missions- und ähnliche Zwecke. Auch das war gut und zweckentsprechend. Und es gab für sämtliche Seminarklassen einen wohldurchdachten, sehr reichlich ausfallenden Unterricht in Religions-, Bibel- und Gesangbuchslehre. Das war ganz selbstverständlich. Aber es gab bei alledem Eines nicht, nämlich grad das, was in allen religiösen Dingen die Hauptsache ist; nämlich es gab keine Liebe, keine Milde, keine Demut, keine Versöhnlichkeit. Der Unterricht war kalt, streng, hart. Es fehlte ihm jede Spur von Poesie. Anstatt zu beglücken, zu begeistern, stieß er ab. Die Religionsstunden waren diejenigen Stunden, für welche man sich am allerwenigsten zu erwärmen vermochte. Man war immer froh, wenn der Zeiger die Zwölf erreichte. Dabei wurde dieser Unterricht von Jahr zu Jahr in genau denselben Absätzen und genau denselben Worten und Ausdrücken geführt. Was es am heutigen Datum gab, das gab es im nächsten Jahre an demselben Tage ganz unweigerlich wieder. Das ging wie eine alte Kuckucksuhr; das klang alles so sehr nach Holz, und das sah alles so aus wie gemacht, wie fabriziert. Jeder einzelne Gedanke gehörte in sein bestimmtes Dutzend und durfte sich beileibe nicht an einer andern Stelle sehen lassen. Das ließ keine Spur von Wärme aufkommen; das tötete innerlich ab. Ich habe unter allen meinen Mitschülern keinen einzigen gekannt, der jemals ein sympathisches Wort über diese Art des Religionsunterrichts gesagt hätte. Und ich habe auch keinen gekannt, der so religiös gewesen wäre, aus freien Stücken einmal die Hände zu falten, um zu beten. Ich selbst habe stets und bei jeder Veranlassung gebetet; ich tue das auch noch heut, ohne mich zu genieren; aber damals im Seminar habe ich das geheim gehalten, weil ich das Lächeln meiner Mitschüler fürchtete.

Ich hätte gern über diese religiösen Verhältnisse geschwiegen, durfte dies aber nicht, weil ich die Aufgabe habe, Alles aufrichtig zu sagen, was auf meinen inneren und äußeren Werdegang von Einfluß war. Dieses Seminarchristentum kam mir ebenso seelenlos wie streitbar vor. Es befriedigte nicht und behauptete trotzdem, die einzige reine, wahre Lehre zu sein. Wie arm und wie gottverlassen man sich da fühlte! Die Andern nahmen das gar nicht etwa als ein Unglück hin; sie waren gleichgültig; ich aber mit meiner religiösen Liebesbedürftigkeit fühlte mich erkältet und zog mich in mich selbst zurück. Ich vereinsamte auch hier, und zwar mehr, viel mehr als daheim. Und ich wurde hier noch klassenfremder, als ich es dort gewesen war. Das lag teils in den Verhältnissen, teils aber auch an mir selbst.

Ich wußte viel mehr als meine Mitschüler. Das darf ich sagen, ohne in den Verdacht der Prahlerei zu fallen. Denn was ich wußte, das war eben nichts weiter als nur Wust, eine regellose, ungeordnete Anhäufung von Wissensstoff, der mir nicht den geringsten Nutzen brachte, sondern mich nur beschwerte. Wenn ich mir ja einmal von dieser meiner unfruchtbaren Vielwisserei etwas merken ließ, sah man mich staunend an und lächelte darüber. Man fühlte instinktiv heraus, daß ich weniger beneidens- als vielmehr beklagenswert sei. Die andern, meist Lehrersöhne, hatten zwar nicht so viel gelernt, aber das, was sie gelernt hatten, lag wohlaufgespeichert und wohlgeordnet in den Kammern ihres Gedächtnisses, stets bereit, benutzt zu werden. Ich fühlte, daß ich gegen sie sehr im Nachteil stand, und sträubte mich doch, dies mir und ihnen einzugestehen. Meine stille und fleißige Hauptarbeit war, vor allen Dingen Ordnung in meinem armen Kopf zu schaffen, und das ging leider nicht so schnell, wie ich es wünschte. Das, was ich aufbaute, fiel immer wieder ein. Es war wie ein mühsames Graben durch einen Schneehaufen hindurch, dessen Massen immer wieder nachrutschten. Und dabei gab es einen Gegensatz, der sich absolut nicht beseitigen lassen wollte. Nämlich den Gegensatz zwischen meiner außerordentlich fruchtbaren Phantasie und der Trockenheit und absoluten Poesielosigkeit des hiesigen Unterrichts. Ich war damals noch viel zu jung, als daß ich eingesehen hätte, woher diese Trockenheit kam. Man lehrte nämlich weniger das, was zu lernen war, als vielmehr die Art und Weise, in der man zu lernen hatte. Man lehrte uns das Lernen. Hatten wir das begriffen, so war das Fernere leicht. Man gab uns lauter Knochen; daher die geradezu schmerzende Trockenheit des Unterrichts. Aber aus diesen Knochen fügte man die Skelette der einzelnen Wissenschaften zusammen, deren Fleisch dann später hinzuzufügen war. Bei mir aber hatte sich bisher grad das Umgekehrte ereignet: Ich hatte mir zwar eine Unmasse von Fleisch zusammengeschleppt, aber keinen einzigen tragenden, stützenden Knochen dazu. In meinem Wissen fehlte das feste Gerippe. Ich war in Beziehung auf das, was ich geistig besaß, eine Qualle, die weder innerlich noch äußerlich einen Halt besaß und darum auch keinen Ort, an dem sie sich daheim zu fühlen vermochte. Und das Schlimmste hierbei war: das knochenlose Fleisch dieser Qualle war nicht gesund, sondern krank, schwer krank; es war von den Schundromanen des Kegelhausbesitzers vergiftet. Das begann ich jetzt erst eigentlich einzusehen und fühlte mich umso unglücklicher dabei, als ich mit keinem Menschen davon sprechen konnte, ohne mich dadurch bloßzustellen. Grad die Trockenheit und, ich muß wohl sagen, die Seelenlosigkeit dieses Seminarunterrichtes war es, welche mich zu der Erkenntnis meiner Vergiftung führte. Ich fand für die Skelette, die uns geboten wurden, damit wir sie beleben möchten, kein gesundes Fleisch in mir. Alles, was ich zusammenfügte und was ich mir innerlich aufzubauen versuchte, wurde formlos, wurde häßlich, wurde unwahr und ungesetzlich. Ich begann, Angst vor mir zu bekommen, und arbeitete unausgesetzt an meiner seelischen Gestalt herum, mich innerlich zu säubern, zu reinigen, zu ordnen und zu heben, ohne fremde Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen, die es ja auch gar nicht gab. Ich hätte mich wohl gern einem unserer Lehrer anvertraut, aber die waren ja alle so erhaben, so kalt, so unnahbar, und vor allen Dingen, das fühlte ich heraus, keiner von ihnen hätte mich verstanden; sie waren keine Psychologen. Sie hätten mich befremdet angesehen und einfach stehen lassen.

 

Hierzu kam der angeborene, unwiderstehliche Drang nach geistiger Betätigung. Ich lernte sehr leicht und hatte demzufolge viel Zeit übrig. So dichtete ich im Stillen; ja, ich komponierte. Die paar Pfennige, die ich erübrigte, wurden in Schreibpapier angelegt. Aber was ich schrieb, das sollte keine Schülerarbeit werden, sondern etwas Brauchbares, etwas wirklich Gutes. Und was schrieb ich da? Ganz selbstverständlich eine Indianergeschichte! Wozu? Ganz selbstverständlich, um gedruckt zu werden! Von wem? Ganz selbstverständlich von der »Gartenlaube«, die vor einigen Jahren gegründet worden war, aber schon von Jedermann gelesen wurde. Da war ich sechzehn Jahre alt. Ich schickte das Manuskript ein. Als sich eine ganze Woche lang nichts hierauf ereignete, bat ich um Antwort. Es kam keine. Darum schrieb ich nach weiteren vierzehn Tagen in einem strengeren Tone, und nach weiteren zwei Wochen verlangte ich mein Manuskript zurück, um es an eine andere Redaktion zu senden. Es kam. Dazu ein Brief von Ernst Keil selbst geschrieben, vier große Quartseiten lang. Ich war fern davon, dies so zu schätzen, wie es zu schätzen war. Er kanzelte mich zunächst ganz tüchtig herunter, so daß ich mich wirklich aufrichtig schämte, denn er zählte mir höchst gewissenhaft alle Missetaten auf, die ich, natürlich ohne es zu ahnen, in der Erzählung begangen hatte. Gegen den Schluß hin milderten sich die Vorwürfe, und am Ende reichte er mir, dem dummen Jungen, vergnügt die Hand und sagte mir, daß er nicht übermäßig entsetzt sein werde, wenn sich nach vier oder fünf Jahren wieder eine Indianergeschichte von mir bei ihm einstellen sollte. Er hat keine bekommen; aber daran trage nicht ich die Schuld, sondern die Verhältnisse gestatteten es nicht. Das war der erste literarische Erfolg, den ich zu verzeichnen habe. Damals freilich hielt ich es für einen absoluten Mißerfolg und fühlte mich sehr unglücklich darüber. Inzwischen verging die Zeit. Ich stieg aus dem Proseminar in die vierte, dritte und zweite Seminarklasse, und in dieser zweiten Klasse war es, wo mich jenes Schicksal überfiel, aus welchem meine Gegner so überklingendes Kapital geschlagen haben.

Es herrschte im Seminar der Gebrauch, daß die Angelegenheiten jeder Klasse reihum zu besorgen waren, von jedem eine Woche lang. Darum wurde der Betreffende als »Wochner« bezeichnet. Außerdem gab es in der ersten Klasse einen »Ordnungswochner« und in der zweiten einen »Lichtwochner«, welch letzterer die Beleuchtung der Klassenzimmer zu übersehen hatte. Diese Beleuchtung geschah damals mit Hilfe von Talglichtern, von denen, wenn eines niedergebrannt war, ein anderes neu aufgesteckt wurde. Der Lichtwochner hatte täglich die Säuberung der alten, wertlosen Leuchter vorzunehmen und insbesondere die Dillen von den steckengebliebenen Docht- und Talgresten zu reinigen. Diese Reste wurden entweder einfach weggeworfen oder von dem Hausmanne zu Stiefel- oder anderer Schmiere zusammengeschmolzen. Sie waren allgemein als wertlos anzusehen.

Es war anfangs der Weihnachtswoche, als die Reihe, Lichtwochner zu sein, an mich kam. Ich besorgte diese Arbeit wie jeder andere. Am Tage vor dem Weihnachtsheiligenabende begannen unsere Ferien. Am Tage vorher kam eine meiner Schwestern, um meine Wäsche abzuholen und das wenige Gepäck, welches ich mit in die Ferien zu nehmen hatte. Sie tat dies stets, so oft es Ferien gab. Der Weg, den sie da von Ernsttal nach Waldenburg machte, war zwei Stunden lang. So auch jetzt. Als sie dieses Mal kam, war ich grad beim Reinigen der Leuchter. Sie war traurig. Es stand nicht gut daheim. Es gab keine Arbeit und darum keinen Verdienst. Mutter pflegte, wie selbst die ärmsten Leute, für das Weihnachtsfest wenigstens einige Kuchen zu backen. Das hatte sie heuer kaum erschwingen können. Aber bescheert [sic] werden konnte nichts, gar nichts, denn es fehlte das Geld dazu. Es gab keine Lichter für den Weihnachtsleuchter. Sogar die hölzernen Engel der kleineren Schwestern sollten ohne Lichte sein. Zu diesen Engeln gehörten drei kleine Lichte, das Stück für fünf oder sechs Pfennige; aber wenn diese achtzehn Pfennige zu andern, notwendigeren Dingen gebraucht wurden, so hatte man sich eben zu fügen. Das tat mir wehe. Der Schwester stand das Weinen hinter den Augen. Sie sah die Talgreste, die ich soeben aus den Dillen und von den Leuchtern herabgekratzt hatte. »Könnte man denn nicht daraus einige Pfenniglichte machen?« fragte sie. »Ganz leicht,« antwortete ich. »Man braucht dazu eine Papierröhre und einen Docht, weiter nichts. Aber brennen würde es schlecht, denn dieses Zeug ist nur noch höchstens für Schmiere zu gebrauchen.« »Wenn auch, wenn auch! Wir hätten doch eine Art von Licht für die drei Engel. Wem gehört dieser Abfall?« »Eigentlich Niemandem. Ich habe ihn zum Hausmann zu schaffen. Ob der ihn wegwirft oder nicht, ist seine Sache.« »Also wäre es wohl nicht gestohlen, wenn wir uns ein bißchen davon mit nach Hause nähmen?« »Gestohlen. Lächerlich! Fällt keinem Menschen ein! Der ganze Schmutz ist nicht drei Pfennige wert. Ich wickle dir ein wenig davon ein. Daraus machen wir drei kleine Weihnachtslichte.«

Gesagt, getan! Wir waren nicht allein. Ein anderer Seminarist stand dabei. Einer aus der ersten Klasse, also eine Klasse über mir. Es widerstrebt mir, seinen Namen zu nennen. Sein Vater war Gendarm. Dieser wackere Mitschüler sah alles mit an. Er warnte mich nicht etwa, sondern er war ganz freundlich dabei, ging fort und – — – zeigte mich an. Der Herr Direktor kam in eigener Person, den »Diebstahl« zu untersuchen. Ich gestand sehr ruhig ein, was ich getan hatte, und gab den »Raub«, den ich begangen hatte, zurück. Ich dachte wahrhaftig nichts Arges. Er aber nannte mich einen »infernalischen Charakter« und rief die Lehrerkonferenz zusammen, über mich und meine Strafe zu entscheiden. Schon nach einer halben Stunde wurde sie mir verkündet. Ich war aus dem Seminar entlassen und konnte gehen, wohin es mir beliebte. Ich ging gleich mit der Schwester – — – in die heiligen Christferien – — – ohne Talg für die Weihnachtsengel – — – es waren das sehr trübe, dunkle Weihnachtsfeiertage. Ich habe wohl überhaupt schon gesagt, daß grad Weihnacht für mich oft eine Zeit der Trauer, nicht der Freude gewesen sei. An diesen Weihnachtstagen löschten heilige Flammen in mir aus, Lichter, die mir wert gewesen waren. Ich lernte zwischen Christentum und seinen Bekennern unterscheiden. Ich hatte Christen kennengelernt, die unchristlicher gegen mich verfahren waren, als Juden, Türken und Heiden verfahren würden.

Glücklicherweise zeigte sich das Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichtes, an welches ich mich wendete, verständiger und humaner als die Seminardirektion. Ich erlangte ohne weiteres die Genehmigung, meine unterbrochenen Studien auf dem Seminar in Plauen fortzusetzen. Ich kam dort in dieselbe Klasse, also in die zweite, und bestand nach zurückgelegter erster Klasse das Lehrerexamen, worauf ich meine erste Stelle in Glauchau erhielt, bald aber nach Altchemnitz kam, und zwar in eine Fabrikschule, deren Schüler ausschließlich aus ziemlich erwachsenen Fabrikarbeitern bestanden. Hier haben meine Bekenntnisse zu beginnen. Ich lege sie ab, ohne Scheu, der Wahrheit gemäß, als ob ich mich nicht mit mir selbst, sondern mit einer andern, mir fremden Person beschäftigte.

Ich komme auf die Armut meiner Eltern zurück. Das Examen hatte einen Frackanzug erfordert, für unsere Verhältnisse eine kostspielige Sache. Hierzu kam, da ich als Lehrer nicht mehr wie als Schüler herumlaufen konnte, eine wenn auch noch so bescheidene Ausstattung an Wäsche und andern notwendigen Dingen. Das konnten meine Eltern nicht bezahlen; ich mußte es auf mein Konto nehmen; das heißt, ich borgte es mir, um es von meinem Gehalte nach und nach abzuzahlen. Da hieß es sparsam sein und jeden Pfennig umdrehen, ehe er ausgegeben wurde! Ich beschränkte mich auf das Aeußerste und verzichtete auf jede Ausgabe, die nicht absolut notwendig war. Ich besaß nicht einmal eine Uhr, die doch für einen Lehrer, der sich nach Minuten zu richten hat, fast unentbehrlich ist.

Der Fabrikherr, dessen Schule mir anvertraut worden war, hatte kontraktlich für Logis für mich zu sorgen. Er machte sich das leicht. Einer seiner Buchhalter besaß auch freies Logis, Stube mit Schlafstube. Er hatte bisher beides allein besessen, nun wurde ich zu ihm einquartiert; er mußte mit mir teilen. Hierdurch verlor er seine Selbständigkeit und seine Bequemlichkeit; ich genierte ihn an allen Ecken und Enden, und so läßt es sich gar wohl begreifen, daß ich ihm nicht sonderlich willkommen war und ihm der Gedanke nahelag, sich auf irgend eine Weise von dieser Störung zu befreien. Im übrigen kam ich ganz gut mit ihm aus. Ich war ihm möglichst gefällig und behandelte ihn, da ich sah, daß er das wünschte, als den eigentlichen Herrn des Logis. Das verpflichtete ihn zur Gegenfreundlichkeit. Die Gelegenheit hierzu fand sich sehr bald. Er hatte von seinen Eltern eine neue Taschenuhr bekommen. Seine alte, die er nun nicht mehr brauchte, hing unbenutzt an einem Nagel an der Wand. Sie hatte einen Wert von höchstens zwanzig Mark. Er bot sie mir zum Kaufe an, weil ich keine besaß; ich lehnte aber ab, denn wenn ich mir einmal eine Uhr kaufte, so sollte es eine neue, bessere sein. Freilich stand dies noch in weitem Felde, weil ich zuvor meine Schulden abzuzahlen hatte. Da machte er selbst mir den Vorschlag, seine alte Uhr, wenn ich in die Schule gehe, zu mir zu stecken, da ich doch zur Pünktlichkeit verpflichtet sei. Ich ging darauf ein und war ihm dankbar dafür. In der ersten Zeit hing ich die Uhr, sobald ich aus der Schule zurückkehrte, sofort an den Nagel zurück. Später unterblieb das zuweilen; ich behielt sie noch stundenlang in der Tasche, denn eine so auffällige Betonung, daß sie nicht mir gehöre, kam mir nicht gewissenhaft, sondern lächerlich vor. Schließlich nahm ich sie sogar auf Ausgängen mit und hing sie erst am Abende, nach meiner Heimkehr, an Ort und Stelle. Ein wirklich freundschaftlicher oder gar herzlicher Umgang fand nicht zwischen uns statt. Er duldete mich notgedrungen und ließ es mich zuweilen absichtlich merken, daß ihm die Teilung seiner Wohnung nicht behage.

Da kam Weihnacht. Ich teilte ihm mit, daß ich die Feiertage bei den Eltern zubringen würde, und verabschiedete mich von ihm, weil ich nach Schluß der Schule gleich abreisen wollte, ohne erst in die Wohnung zurückzukehren. Als die letzte Schulstunde vorüber war, fuhr ich nach Ernsttal, nur eine Bahnstunde lang, also gar nicht weit. Die Uhr zurückzulassen, daran hatte ich in meiner Ferienfreude nicht gedacht. Als ich bemerkte; daß sie sich in meiner Tasche befand, war mir das sehr gleichgültig. Ich war mir ja nicht der geringsten unlautern Absicht bewußt. Dieser Abend bei den Eltern war ein so glücklicher. Ich hatte die Schülerzeit hinter mir; ich besaß ein Amt; ich bekam Gehalt. Der Anfang zum Aufstieg war da. Morgen war heiliger Abend. Wir begannen schon heut die Christbescherung vorzubereiten. Dabei sprach ich über meine Zukunft, über meine Ideale, die für mich alle im hellsten Weihnachtsglanze standen. Der Vater schwärmte mit. Die Mutter war stillglücklich. Großmutters alte, treue Augen strahlten. Als wir endlich zur Ruhe gegangen waren, lag ich noch lange Zeit wach im Bette und hielt Rechenschaft über mich. Meine innere Unklarheit wurde mir zum ersten Male wirklich bewußt. Ich sah die Abgründe hinter mir gähnen, vor mir aber keinen mehr, denn mein Weg schien zwar schwer und mühevoll, aber völlig frei zu sein: Schriftsteller werden; Großes leisten, aber vorher Großes lernen! Alle inneren Fehler, welche die Folgen meiner verkehrten Erziehung waren, nach und nach herauswerfen, damit Platz für Neues, Besseres, Richtigeres, Edles werde! In diesen Gedanken schlief ich ein, und als ich früh erwachte, war der Vormittag schon fast vorüber, und ich mußte nach dem Hohensteiner Christmarkt, um noch einige kleine Einkäufe zur Bescherung für die Schwestern zu machen. Dort traf ich einen Gendarm, der mich fragte, ob ich der Lehrer May sei. Als ich dies bejahte, forderte er mich auf, mit ihm nach dem Rathause zu kommen, zur Polizei, wo man eine Befragung für mich habe. Ich ging mit, vollständig ahnungslos. Ich wurde zunächst in die Wohnstube geführt, nicht in das Bureau. Da saß eine Frau und nähte. Wessen Frau, darüber bitte ich, schweigen zu dürfen. Sie war eine gute Bekannte meiner Mutter, eine Schulkameradin von ihr, und sah mich mit angstvollen Augen an. Der Gendarm gebot mir, mich niederzusetzen, und ging für kurze Zeit hinaus, seine Meldung zu machen. Das benutzte die Frau, mich hastig zu fragen:

 

»Sie sind arretiert! Wissen Sie das?«

»Nein,« antwortete ich, tödlich erschrocken. »Warum?«

»Sie sollen Ihrem Mietkameraden seine Taschenuhr gestohlen haben! Wenn man sie bei Ihnen findet, bekommen Sie Gefängnis und werden als Lehrer abgesetzt!«

Mir flimmerten die Augen. Ich hatte das Gefühl, als habe mich jemand mit einer Keule auf den Kopf geschlagen. Ich dachte an den gestrigen Abend, an meine Gedanken vor dem Einschlafen, und nun plötzlich Absetzung und Gefängnis!

»Aber die ist ja gar nicht gestohlen, sondern nur geborgt!« stammelte ich, indem ich sie aus der Tasche zog.

»Das glaubt man Ihnen nicht! Weg damit! Geben Sie sie ihm heimlich wieder, doch lassen Sie sie jetzt nicht sehen! Schnell, schnell!«

Meine Bestürzung war unbeschreiblich. Ein einziger klarer, ruhiger Gedanke hätte mich gerettet, aber er blieb aus. Ich brauchte die Uhr einfach nur vorzuzeigen und die Wahrheit zu sagen, so war alles gut; aber ich stand vor Schreck wie im Fieber und handelte wie im Fieber. Die Uhr verschwand, nicht wieder in der Tasche, sondern im Anzuge, wohin sie nicht gehörte, und kaum war dies geschehen, so kehrte der Gendarm zurück, um mich abzuholen. Mache ich es mit dem, was nun geschah, so kurz wie möglich! Ich beging den Wahnsinn, den Besitz der Uhr in Abrede zu stellen; sie wurde aber, als man nach ihr suchte, gefunden. So vernichtete mich also die Lüge, anstatt daß sie mich rettete; das tut sie ja immer; ich war ein – — – Dieb! Ich wurde nach Chemnitz vor den Untersuchungsrichter geschafft, brachte die Weihnachtsfeiertage anstatt bei den Eltern hinter Schloß und Riegel zu und wurde zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt. Ob und womit ich mich verteidigt habe; ob ich zur Berufung, zur Appellation, zu irgendeinem Rechtsmittel, zu einem Gnadengesuche, zu einem Anwalt meine Zuflucht nahm, das weiß ich nicht zu sagen. Jene Tage sind aus meinem Gedächtnisse entschwunden, vollständig entschwunden. Ich möchte aus wichtigen psychologischen Gründen gern Alles so offen und ausführlich wie möglich erzählen, kann das aber leider nicht, weil das Alles infolge ganz eigenartiger, seelischer Zustände, über die ich im nächsten Kapitel zu berichten haben werde, aus meiner Erinnerung ausgestrichen ist. Ich weiß nur, daß ich mich vollständig verloren hatte und daß ich mich dann in der Pflege der Eltern und besonders der Großmutter wiederfand. Als ich mich mühsam erholt hatte und wieder kräftig genug auf den Beinen war, bin ich nach Altchemnitz gegangen, um mein beschädigtes Gedächtnis wieder aufzufrischen. Es war in Beziehung auf die Oertlichkeiten vergebens; ich erkannte nichts, weder die Fabrik, noch meine damalige Wohnung, noch irgendeine Stelle, an der ich ganz unbedingt gewesen war. Aber plötzlich stand er vor mir, mein Wohnungsgenosse, der Buchhalter. Er kam mir auf der Straße entgegen und hielt den Schritt an, als wir uns erreichten. Den erkannte ich sofort, er mich auch, obgleich er versicherte, daß ich ganz anders aussehe als früher, so außerordentlich leidend. Er gab mir die Hand und bat mich, ihm zu verzeihen. So, wie es gekommen sei, das habe er keineswegs gewollt. Es tue ihm unendlich leid, mir meine Karriere verdorben zu haben! Ich sah ihn groß an. Mir meine Karriere verdorben? Hätte das überhaupt Jemand gekonnt? Selbst wenn der Staat mich nicht mehr anstellen will, gibt es doch Privatstellen genug, die besser bezahlt werden als diejenigen des Staates. Und meine Absicht war es ja niemals gewesen, Volks- oder gar Fabrikschullehrer zu bleiben; ich hatte ganz Anderes geplant und plante das auch noch heut. Ich ließ den Mann mitten auf der Straße stehen und entfernte mich, ohne ihm einen Vorwurf zu machen.

Ja, ich ging fort, aber wohin?! Das ahnte ich damals nicht. Ich habe im letzten Verlaufe dieser Darstellung gesagt, daß die Abgründe hinter mir lagen, vor mir aber keine, und daß ich die Absicht hegte, Großes zu leisten, vorher aber Großes zu lernen. Das Erstere war falsch. Die Abgründe lagen ganz im Gegenteile nicht hinter mir, sondern vor mir. Und das Große, was ich zu lernen und zu leisten hatte, war, in diese Abgründe zu stürzen, ohne zu zerschmettern, und jenseits frei hinaufzusteigen, ohne jemals wieder zurückzufallen. Dies ist die schwerste Aufgabe, die es für einen Sterblichen gibt, und ich glaube, ich habe sie gelöst. – — —