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Der blaurote Methusalem

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»Weg mit der Flinte, sonst trifft meine Kugel dich eher, als mich die deine! Was haben wir euch gethan, daß ihr uns in dieser Weise überfallt?«

Der Angeredete, welcher der Anführer zu sein schien, mochte seinem Schießholze kein großes Vertrauen schenken; er senkte den Lauf und antwortete mit finsterer Miene:

»Ihr entheiligt unser Ma-la-bu? Was habt ihr hier zu graben?«

Also war, wie Degenfeld vermutet hatte, das Gebäude wirklich ein Marabu, das Grab eines durch seine Frömmigkeit ausgezeichneten Mohammedaners. Da dem Chinesen das r nicht geläufig war, verwandelte er es in das leichtere l, also Ma-la-bu.

»Seid ihr Hoei-hoei?« erkundigte sich der Student.

»Ja.«

»So habt ihr keine Veranlassung, uns feindselig zu behandeln. Wir achten euren Glauben und ehren Mohammed als euren Propheten.«

»Und doch grabt ihr diese heilige Erde auf!«

»Nicht um sie zu entweihen. Wir gingen in den Wald, um nach den Vorschriften der Yithung Pflanzen zu suchen. Da sahen wir hier den Griff dieses Messers aus dem Boden ragen. Wir zogen es heraus, um es zu betrachten, und eben stand ich im Begriff, es wieder an seine Stelle zu legen, als ihr erschient. Nun sagt, ob wir eine Sünde begangen haben!«

»Zeige das Messer!«

Er nahm es in Empfang, betrachtete es prüfend, untersuchte dann die aufgegrabene Stelle und sagte, als er nichts fand:

»Das ist ein ganz gewöhnliches Tscha-dse, welches jedenfalls ein Arbeiter hier versteckt hat, um es später, wenn er es braucht, zu finden. Ich dachte, ihr wolltet nach einem Pao-ngan suchen, welcher bei einem armen Ma-la-bu unmöglich vorhanden sein kann. Die Buddha-min sind alberne Menschen, welche unsere Gebräuche und heiligen Orte nicht achten.«

»Wir gehören nicht zu ihnen.«

»Nicht? Was seid ihr denn?«

»Wir sind Tien-schu-kiao-min.«

»Wenn das wahr ist, so sind wir Freunde, denn wir und die Christen verehren einen wirklichen Gott, dessen Propheten Mohammed und I-sus (Jesus) waren. Aus eurem Glauben schließe ich und an eurer Kleidung erkenne ich, daß ihr aus einem fernen Lande kommt. Habt ihr denn einen Paß bei euch?«

»Ja, ich habe einen großen, besondern Kuan des erhabenen Herrschers.«

Wie unvorsichtig diese Mitteilung war, sollte Degenfeld sofort erkennen, denn der Chinese sagte:

»So hast du mich betrogen, denn einen solchen Kuan bekommt nur ein Chinese. Ich werde das streng untersuchen, und ihr habt uns jetzt zu folgen.«

»Als Gefangene etwa?«

»Ja. Eine Gegenwehr würde nur zu eurem Schaden sein, denn blickt einmal hinauf nach der Brücke!«

Erst jetzt bemerkten die drei Gefährten, daß oben eine Schar von wohl fünfzig Reitern hielt. Diese konnten von ihrem hohen Standpunkte aus die Scene überblicken. Dennoch antwortete der Student:

»Wir fürchten uns gar nicht vor euch, denn wir haben in diesen kleinen Waffen so viele Kugeln, daß wir euch alle töten können. Aber da wir euch die Wahrheit gesagt haben, so ist für uns nichts zu besorgen. Wir gehen also mit.«

»So kommt zum Einkehrhause! Aber versucht ja nicht, uns zu entfliehen; es würde euch nicht gelingen.«

Er wendete sich nach der Brücke und gab mit dem erhobenen Arme ein Zeichen, auf welches seine Reiter sich nach dem Hause hin in Bewegung setzten. Die drei wurden in die Mitte genommen. Während man an der Seite des Thales emporstieg, sagte der Anführer:

»Es sind Soldaten in dem Hause, welche einen meiner Leute töten wollten. Er ist ihnen entkommen und hat uns, die wir in der Nähe lagen, herbeigeholt, damit sie bestraft werden.«

»Hat er erzählt, auf welche Weise er der Gefahr entrann?« fragte der Methusalem.

»Ja. Ein seltsam gekleideter Mandarin hat ihn in Schutz genommen.«

»Kein Mandarin, ich selbst war es.«

»Du? Wenn es sich zeigt, daß dies wahr ist, so ist es gut für dich.«

Man hatte die Höhe erreicht und konnte nun zwischen den Bäumen hindurch das Einkehrhaus an der Straße liegen sehen. Vor demselben standen einige Soldaten. Sie sahen die Reiter kommen und eilten augenblicklich hinter das Haus, indem sie riefen:

»Kuei-tse lai, kuei-tse lai. Suk tschu-kiü ni-men – Kuei-tse kommen, kuei-tse kommen. Reißt schnell aus!«

Die andern kamen aus dem Hause gerannt und liefen auch in höchster Eile hinter das Haus nach ihren Pferden. Im nächsten Augenblicke sah man sie im Galopp fliehen, und zwar nach der Richtung, aus welcher sie, die tapferen Beschützer, mit ihren Schützlingen vorher gekommen waren.

»Da jeben unsere Helden Fersenjeld,« sagte der Gottfried. »Wer weiß, ob wir ihnen jemals wiedersehen!«

»Wohl schwerlich,« meinte Degenfeld. »Ein Glück, daß sie unsere Pferde und die Packtiere nicht mitgenommen haben!«

»Dazu haben sie sich nicht die Zeit jegönnt. Ich wünsche ihnen Jesundheit und ein langes Leben, uns aberst einen Ausweg aus die Tinte, in welche wir jeraten sind.«

Die Mehrzahl der mohammedanischen Reiter war den Soldaten nachgaloppiert. Die übrigen hielten auf der Straße, um den Anführer zu erwarten. Unter ihnen befand sich derjenige, den Degenfeld in Schutz genommen hatte. Als er den letzteren erkannte, drängte er sein Pferd herbei und sagte:

»Sind diese drei Herren gefangen? Sie sind meine Wohlthäter, denn sie haben mich vom Tode errettet.«

»So haben sie mich also nicht betrogen,« antwortete der Kommandierende. »Es gilt nun, zu untersuchen, ob sie wirklich Christen sind, was ich nicht glaube, da sie einen besonderen Kuan des Kaisers besitzen.«

Die auf der Straße haltenden Reiter waren in gleicher Weise bewaffnet wie ihre Gefährten, deren Pferde sie am Zügel führten. Sie stiegen ab.

Turnerstick, der Mijnheer und die beiden Brüder waren aus dem Hause getreten.

»Was soll das heißen?« rief der erstere dem Studenten entgegen. »Das sieht ja ganz so aus, als ob Sie gefangen seien!«

»Es ist auch so,« antwortete der Genannte.

»So hauen wir Sie heraus!«

»Nein. Die Sache wird sich friedlich lösen. Kommt nur mit herein!«

Man band die Pferde vor dem Hause an und begab sich in die Stube, deren Besitzer sich aus Angst vor den »Teufelssöhnen« nicht sehen ließ. Dort mußte der von Methusalem in Schutz Genommene erzählen, wie er von den Soldaten überfallen worden war, und in welcher Weise sich der Retter seiner angenommen hatte. Das Gesicht des Anführers wurde dabei immer freundlicher. Er musterte die Fremden mit prüfendem Blicke und fragte dann:

»Aus welchem Lande seid ihr denn nach der Mitte der Erde gekommen?«

»Aus dem Lande der Tao-tse-kue,« antwortete Degenfeld.

»Ist das wahr? Ich kenne einen Tao-tse-kue, welcher sehr reich und uns freundlich gesinnt ist. Er hat die Unserigen, welche vertrieben wurden und sich in Not und Gefahr befanden, oft unterstützt.«

»Wie heißt dieser Mann?«

»Er nennt sich hierzulande kurzweg Schi, hat aber in seiner Heimat Sei-tei-nei geheißen.«

»Ah! Er ist der Besitzer eines Ho-tsing?«

»O, mehrerer Ho-tsing. Es gehört ihm eine Gegend, in welcher eine Flüssigkeit aus der Erde dringt, welche Schi-yeu genannt wird und in Lampen gebrannt werden kann.«

»Er wohnt in Ho-tsiang-ting?«

»Ja. So hat er den Ort, aus welchem eine Stadt geworden ist, genannt, der Ho-tsing wegen, welche dort zu Tage treten. Kennst du ihn?«

»Jawohl. Dieser mein Gefährte, welcher Liang-ssi heißt, ist bei ihm angestellt.«

»Den Namen Liang-ssi kenne ich, denn er wurde mir von Genossen, welche dort Wohlthat empfingen, rühmend genannt.«

»Und dieser Jüngling ist der Bruderssohn von Sei-tei-nei, der ihm geschrieben hat, daß er zu ihm kommen soll.«

»Das stimmt, denn ich weiß, daß er keinen Sohn hat und in sein Land nach einem Sohn des Bruders geschrieben hat. So wollt ihr zu ihm?«

»Ja.«

»Dann möchten wir euch gern als gute Freunde betrachten, wenn nur der Kuan nicht wäre, von dem du gesprochen hast. Der Kaiser von Tschin ist unser Unterdrücker, und wen er liebt, den müssen wir hassen.«

Degenfeld beeilte sich, den Fehler, welchen er begangen hatte, wieder gut zu machen, indem er erklärte:

»Ich habe mich vielleicht nicht richtig ausgedrückt, da ich der hiesigen Sprache nicht vollständig mächtig bin. Ich wollte nicht Kaiser, sondern König sagen. Hier ist der Kuan.«

Er zog anstatt des kaiserlichen Passes den Kuan des Bettlerkönigs hervor und gab denselben hin. Als der Mohammedaner einen Blick darauf geworfen hatte, rief er überrascht aus:

»Ein T‘eu-kuan! Das ist ja etwas ganz anderes! Der T‘eu ist unser bester Freund und Beschützer, und sein Paß wird bei uns heilig gehalten. Aber, da du« – — – er stockte verlegen und fuhr dann, sich tief verneigend, fort: »Da Sie diesen so seltsamen Kuan von ihm besitzen, so müssen Sie ein sehr hervorragender und hoher Gebieter sein und ihm große Dienste geleistet haben. Betrachten Sie uns als Ihre Sklaven und befehlen Sie, was wir für Sie thun sollen.«

»Ich befehle nichts,« antwortete Degenfeld nun auch in höflicherem Tone als vorher. »Es freut uns, Sie als Freunde von Sei-tei-nei kennen zu lernen, und ich bitte Sie nur um das eine, mir zu sagen, ob ich ihm vielleicht eine Botschaft von Ihnen überbringen kann.«

»Ich danke dem erlauchten Fremdling! Von einem so hohen Erretter kann ich das nicht verlangen. Also sind Sie unser nicht bedürftig?«

»Nein.«

»Sie kennen den Weg von hier nach Ho-tsing-ting?«

»Liang-ssi muß ihn kennen.«

»So gestatten Sie uns, unsern Ritt fortzusetzen, dessen Ziel ich freilich nicht gern sagen würde?«

»Ich habe kein Recht, nach demselben zu fragen. Reiten Sie in Allahs Namen!«

»So werden wir sofort aufbrechen und sagen Ihnen unsern geringfügigen Dank. Ich hatte den, welchen Sie erretteten, vorausgesandt, um zu erfahren, ob der Weg für uns und unsere Zwecke frei sei. Dabei wollte ich dem Ma-la-bu einen ehrfurchtsvollen Besuch abstatten und war so verblendet, Sie dort für Feinde und Schänder des Heiligtums zu halten. Ihre beglückende Gnade wird mir das verzeihen. Die Soldaten, welche Ihre Reise verunzierten, sind entflohen und werden nicht wiederkehren. An ihrer Stelle mag Ihr Erretteter bei Ihnen bleiben und Sie bis an das Ziel begleiten. Seine Anwesenheit wird Ihnen, falls Ihnen streitfertige Genossen von uns begegnen, mehr nützen als ein ganzes Heer von feigen Soldaten. «

 

Degenfeld nahm dieses Anerbieten natürlich dankbar an, dann entfernten sich die zu Freunden gewordenen Feinde unter wiederholten Verbeugungen und ritten davon. Ob die Kuei-tse, welche übrigens chinesischer Abkunft waren und sich auch chinesisch kleideten, die flüchtigen Soldaten ereilten, das war nun freilich nicht zu erfahren.

Als sie sich entfernt hatten, ließ der Wirt sich sehen, um demütig nach den Befehlen der Herren zu fragen. Es gab für ihn nicht viel zu thun, da der Mohammedaner die Bedienung übernahm, und alles Nötige, was die Soldaten nun allerdings im Stiche gelassen hatten, mitgebracht worden war. Nur für kochendes Theewasser hatte der Wirt zu sorgen.

Während des Essens fragte der Student den neuen Begleiter nach den Verhältnissen der Kuei-tse und seinen eigenen aus. Er erfuhr, daß derselbe vorher ein Bekenner der Lehre des Kung-fu-tse gewesen und später aus Zorn über Bedrückung seiner Familie zu den Hoei-hoei übergetreten sei. Er stammte aus der Provinz Kwéi-tschou, war dann nach Hunan gezogen, hatte von dort flüchten müssen und war vor einigen Monaten unter dem Schutze seiner Glaubensgefährten und der gegenwärtigen Verhältnisse wieder zurückgekehrt. Er gab an, in einem Dorfe zwischen Kun-jang und Kue-tong zu wohnen.

»Das ist ja ganz in der Nähe unseres Reisezieles,« sagte Liang-ssi.

»Allerdings. Sie werden durch mein Dorf reiten müssen und dann nach rechts in ein Seitenthal des Lai-kiang biegen, wo die Steinölquellen entspringen und Sei-tei-nei wohnt. Ich war vor kurzer Zeit bei ihm. Steht nicht auch ein Tao-tse-kue in seinem Dienste?«

»Nein. Der, den Sie meinen, stammt aus einem Lande, welches Belgien heißt.«

Der Mijnheer verstand nicht chinesisch; das Wort Belgien aber hörte er sofort heraus. Er fragte gleich, wovon die Rede sei, und als er erfuhr, daß der Onkel Daniel einen Oelingenieur, welcher ein geborener Belgier sei, aus den Vereinigten Staaten habe kommen lassen, um ihm die technische Leitung seines Etablissements anzuvertrauen, rief er aus:

»Dat is goed! Dat verheugd mi bij uitnemendheid! Ik bid, spreekt hij ook nederlandsch – das ist gut! Das freut mich ausnehmend! Ich bitte, spricht er auch niederländisch?«

»Ja, er spricht französisch, deutsch, englisch und auch niederländisch.«

»Heiza, zoo moeten wij maken, dat wij henkomen en dat ik met hem spreken kan – juchhe, so müssen wir machen, daß wir hinkommen, und daß ich mit ihm reden kann!«

Nach dem Essen rauchte man noch ein Viertelstündchen, und dann wurde aus den vorhandenen Decken, Tüchern und dem Heu, welches der Wirt lieferte, das Lager bereitet. Als die Pferde versorgt und angebunden waren, legte man sich zur Ruhe. Liang-ssi meinte, daß es hier in den Bergen wilde Hunde gebe, gegen welche man die Pferde eigentlich schützen müsse, doch der Methusalem beruhigte ihn durch die Versicherung:

»Machen Sie sich keine Sorge! Hören Sie, welchen Lärm der Mijnheer macht? Da wagt sich bis auf tausend Schritte im Umkreise sicherlich kein wildes Tier heran.«

Und er hatte nicht unrecht. Der Dicke schnarchte, daß man meinte, das Dach wackeln zu hören. Was der gute Mann einmal that, das that er ordentlich.

Am andern Morgen wurde zeitig aufgebrochen, nachdem der Wirt eine so reichliche Bezahlung erhalten hatte, daß sein Gesicht vor Entzücken glänzte. Der Mijnheer wurde wieder auf das Roß gebunden, und der Hoei-hoei nahm sich der Packpferde an.

Es ging jenseits des Gebirges hinab, was viel leichter war als der Aufstieg während der beiden letzten Tage. Die Scenerie war, doch nun in umgekehrter Reihenfolge, ganz dieselbe.

Der Methusalem hielt sich vorzugsweise zu dem Mohammedaner. Bei Gelegenheit fragte er ihn, ob er Kinder habe, und erhielt die Antwort:

»Nein, denn ich habe mir kein Weib genommen. Dennoch besitze ich Familie, denn es wohnt eine Verwandte mit ihren beiden Töchtern bei mir, welche mich vergessen lassen, daß ich kinderlos bin. Der Mann dieser Frau mußte fliehen, weil er ganz unschuldigerweise der Teilnahme am Aufruhr angeklagt war.«

»Solche Fälle scheinen in China sehr häufig vorzukommen.«

»Leider, Herr. Wer bei einer solchen Gelegenheit auf der Straße betroffen wird, den ergreift und verurteilt man, ohne die wirkliche Schuld oder Unschuld zu untersuchen. Und die Verwandten nächsten Grades müssen dieselbe Strafe erleiden.«

»Fand dies auch in dem diese drei Frauen betreffenden Falle statt?«

»Ja. Der Mann war gewiß unschuldig; aber nicht nur er, sondern auch sein Weib und seine Kinder wurden gefangen genommen. Es waren zwei Söhne und zwei Töchter.«

Diese letzte Bemerkung erregte die Aufmerksamkeit des Methusalem. Er erkundigte sich.

»Hat eine dieser Personen die Todesstrafe erlitten?«

»Nein. Der Mann hatte einen Freund, einen Mandarin, der sich der Armen heimlich annahm. Dieser ließ erst den Vater entkommen und später im Zwischenraume von einigen Tagen, da es nicht anders möglich war, auch die beiden Söhne. Diese letzteren sollten an einem bestimmten Orte dann auf ihre Mutter und ihre Schwestern warten.«

»Vereinigten sie sich glücklich mit ihnen?«

»Leider nicht. Der Mandarin stieß auf Hindernisse, und die Knaben konnten unmöglich länger warten. Sie sind also fort und spurlos verschollen. Als später die Mutter mit ihren Töchtern befreit wurde und den festbestimmten Ort aufsuchte, kam sie zu spät. Die Söhne waren fort, und sie hat nie wieder etwas von ihnen vernommen.«

»Was hat sie dann begonnen?«

»Sie mußte natürlich die Provinz verlassen, da sie dort gewiß ergriffen worden wäre, und zog als Bittende in der Fremde von Ort zu Ort. So kam sie mit den beiden Mädchen auch zu mir. Ich fragte nach ihrem Namen und Herkommen. Ihr Stamm- und ihr Geschlechtsname stimmte mit denen meiner Familie; ich erkundigte mich weiter und erfuhr, daß ihr Vater ein Vetter des meinigen gewesen sei. Ich hatte weder Weib noch Kind und nahm alle drei bei mir auf. Kurz nach dieser Zeit mußte ich Hu-nan verlassen und zog in die Provinz Yu-nan, von wo ich erst seit kurzem zurückgekehrt bin. «

»Und die drei Personen sind mit zurückgekehrt und wohnen bei Ihnen?«

»Ja.«

»Hat man denn auch von dem Mann nichts vernommen?«

»Nie. Er ist gewiß zu Grunde gegangen.«

Die Spannung des Methusalem war immer höher und höher gestiegen. Jetzt wußte er sich seiner Sache so gewiß, daß er direkt fragte:

»Ihr Stammname ist Seng-ho?«

»Ja.«

»Und Ihr Geschlechtsname Pang?«

Der Chinese sah erstaunt zu ihm auf und antwortete:

»Ja, Herr. Wie kommt es, daß Sie als Fremder diese Namen wissen?«

»Ich glaube, von diesem Falle vernommen zu haben. War der Mann nicht ein Kaufmann Namens Ye-kin-li?«

»So ist es.«

»Seine Frau hieß Hao-keu?«

»So heißt sie noch. Sie hat ihren Namen nicht verändert, obgleich dies die Nachforschung nach ihr, der Flüchtigen, erleichterte.«

»Hießen die Söhne nicht Liang-ssi und Jin-tsian?«

»Herr, Sie wissen ja alles, alles!«

»Und die Töchter Méi-Pao, und Sim-ming?«

Jetzt machte der Mann ein Gesicht, als ob er das größte Wunder vor sich sehe.

»Hoher Gebieter,« sagte er, »ich weiß wirklich nicht, wie ich es mir erklären soll, daß Sie als Fremdling alle diese Namen so genau kennen!«

»Sie brauchen sich nicht anzustrengen, es zu erraten; ich werde es Ihnen später mitteilen. Indem ich Sie nach diesen Verhältnissen und Namen fragte, hatte ich eine gewisse Absicht, von welcher jetzt noch nichts verlauten soll. Ich ersuche Sie infolgedessen, gegen keinen meiner Gefährten etwas von dem, was wir gesprochen haben, zu erwähnen. Es ist niemals gut, von vergangenen, unangenehmen Dingen zu sprechen.«

Dies schien den Chinesen, welcher wohl eine Erklärung erwartet hatte, nicht zu befriedigen; er wagte aber nicht, dem Gespräche eine Fortsetzung zu geben. Welche Freude aber empfand der brave Methusalem, die Gesuchten nun endlich, und zwar so ganz unerwartet, ohne alle Anstrengung, ohne sein Zuthun gefunden zu haben. Das war auch schon bei den beiden Söhnen des Händlers der Fall gewesen; er mußte es für Gottes Schickung nehmen.

Es stand bei ihm fest, daß der Mohammedaner den eigentlichen Stand der Sache nicht erraten werde, so lange er verhindert wurde, mit den beiden Brüdern über diesen Gegenstand zu sprechen, was ja nicht schwer erreicht werden konnte. Vielleicht wußte er bereits, daß der eine dieser Brüder Liang-ssi hieß, da dieser Name öfters genannt worden war; da aber dieser letztere in China sehr häufig ist, so brauchte nicht gerade gefolgert zu werden, daß der Träger desselben der verschwundene Liang-ssi sei.

Eigentlich trieb es den Methusalem innerlich, den Brüdern schleunigst mitzuteilen, daß ihre Mutter und ihre Schwestern am Leben und gefunden seien; aber er freute sich auf die außerordentlich freudige Ueberraschung, wenn die Verwandten sich gegenseitig erkannten, ohne vorher etwas davon geahnt zu haben. Daher war er entschlossen, seine Entdeckung einstweilen noch geheim zu halten, da es sich ja nur um höchstens zwei Tage handelte, welche Zeit man bedurfte, um die angegebene Gegend zu erreichen.

Er kannte die Namen der Familienglieder, weil Ye-kin-li sie ihm mitgeteilt hatte. Die Bedeutung derselben war folgende: Die Mutter Hao-keu = lieblicher Mund; die Söhne Liang-ssi = gutes Geschäft, und Jin-tsian = Güte des Himmels; die Schwestern Méi-pao = schöne Gestalt, und Sim-ming = Herzenslicht. Es ergibt sich daraus, in welcher Weise die chinesischen Eltern ihre Kinder benennen.

Kurz nach Mittag wurde die Stadt Kue-jang erreicht, durch welche man ritt, ohne sich aufzuhalten, da man kein Bedürfnis dazu hatte. Zwei Stunden später gelangten die Reisenden an den Fluß Lai-kiang, dessen Lauf sie aufwärts folgten, um dann die Nacht in einem an der am Ufer hinführenden Straße liegenden Einkehrhause zu verbringen. Am ändern Morgen wurde die angegebene Richtung weiter verfolgt.

Dieser Fluß kommt von einem schmalen, langgestreckten Höhenzuge, welcher vom Nan-ling-Gebirge ausläuft und sich bis nach der Stadt Kin-gan erstreckt. An seinem rechten Ufer steigt das Land als schiefe Ebene nach diesem Höhenzuge empor, während das linke durch eine Bergkette von einem östlich liegenden weiten und fruchtbaren Becken getrennt wird, in welchem europäische Kenner unbedingt nach Kohle graben würden. Dieses Becken ist mit dem Flusse durch Querthäler verbunden, welche die erwähnte Bergkette durchbrechen. Es wird von dem Flüßchen Dschang durchströmt, an welchem der Wohnort des Onkels Daniel liegen sollte.

Daß in einem kohlenreichen Becken Petroleum gefunden wurde, war leicht erklärlich. Uebrigens ist die Meinung, daß man in China dieses Produkt gar nicht kenne, eine irrige, denn schon in einem Jahrhunderte alten chinesischen geographischen Werke, dem unseren Gelehrten noch wenig bekannten Schen-si-king, lautet eine Stelle: »In dieser Provinz liegt die Stadt Yen-gan-fu, wo ein dunkles, übelriechendes Oel aus der Erde fließt, welches man in Lampen und Laternen brennt, da es ein besseres und billigeres Licht als dasjenige der Talgkerzen und gewöhnlichen Oellampen gibt.«

Kurz nach dem Mittage dieses zweiten Tages sah man ein kleines Dörfchen am Ufer des Flusses liegen, und der Hoei- hoei erklärte, daß dieses sein gegenwärtiger Wohnsitz sei, wo sich mit ihm noch mehrere Mohammedaner niedergelassen hätten.

Daß hier der Islam eine Stätte gefunden habe, wenn auch nur eine kleine, konnte man aus dem schlanken, hölzernen Türmchen ersehen, welches die Baumwipfel der Gärten überragte. Es war das Minareh der Li-pai-sse, welche die Bekenner der Lehren Mohammeds sich hier errichtet hatten.

Der Methusalem hatte sich seit gestern früh alle Mühe gegeben, ein längeres Gespräch des Hoei-hoei mit den Brüdern zu verhindern. Diese letzteren hatten also nicht die Spur einer Ahnung, daß sie hier ihre Mutter und Geschwister finden würden.

Links von der Straße lag der Fluß, welcher sich hier seeartig erweiterte. Auf dem Wasser hielten Kähne mit Leuten, welche Fische fingen, wozu sie sich aber nicht der Angeln oder Netze, sondern der bekannten Vögel bedienten, welche Tschu-tsche oder Wasserraben heißen.

Rechts zogen sich die kleinen Häuser und hinter denselben die Gärten längs der Straße hin. Die Fensterhöhlen waren entweder ganz leer, oder sie hatten an Stelle der Glasscheiben jenes starke, sehr durchscheinende Papier, welches in bester Qualität aus Korea bezogen wird. Dennoch hatte das Dorf den Anschein ungewöhnlicher Wohlhabenheit. Die Sauberkeit desselben machte einen sehr guten Eindruck.

 

Damit stimmte freilich der an Kienöl erinnernde Geruch nicht überein, welcher sich bemerkbar machte. Er kam von mehreren dunklen, fettigen Kähnen, welche am Ufer lagen und mit ebenso dunklen Fässern beladen waren. Das waren Petroleumfässer, welche von hier aus in kleinen Booten nach King-gan oder Tschang-scha gingen, um von dort aus auf größeren Flußdschunken den Jang-tse-kiang hinabtransportiert zu werden. Dieser Petroleumgeruch war das erste Anzeichen, daß man sich dem Ziele der Reise, der Niederlassung des Onkels Daniel, genähert habe.

Der Hoei-hoei entschuldigte sich, daß er die Herrschaften nicht einladen könne, die Nacht bei ihm zu verbringen. Sein Häuschen war für so viele Gäste zu klein. Doch versicherte er ihnen, daß sie in dem hiesigen Einkehrhause sehr gut logieren würden, da es genug Raum besitze und die Familie des Wirtes eine ungemein aufmerksame und reinliche sei.

Aber das Mahl bei ihm einzunehmen, bat er, ihm ja nicht abzuschlagen. Man möge ihm nur ein kleines Stündchen Zeit gewähren, das dazu Nötige vorzubereiten. Es wurde ihm bereitwilligst zugesagt. Er brachte die Reisenden nach dem Sié-kia, worauf er sich nach seiner Wohnung begab.

Sehr erklärlich waren auch hier die Bewohner zusammengelaufen, um die Fremden anzustaunen. Es war fast unerklärlich, daß in so wenigen Augenblicken, welche man brauchte, vom Anfange bis in die Mitte des Dorfes zu kommen, sich so viele Menschen versammeln konnten. Selbst die Fischer kamen an das Ufer gerudert, um sich vor dem Ruhehause aufzustellen.

Dieses letztere war wirklich weit sauberer gehalten als diejenigen, in die man bisher eingekehrt war. Der Wirt kam aus der Thür und hieß die Gäste unter fortgesetzten tiefen Verbeugungen willkommen. Er rief einige Schi-tse herbei, welche die Pferde versorgen sollten, und führte dann die Ankömmlinge in ein Gemach, welches augenscheinlich nur für bessere Gäste bestimmt war. Dann entfernte er sich, um sofort den Tscha des Willkommens zu besorgen. Liang-ssi, den er kannte, begleitete ihn, jedenfalls um ihm zu sagen, was für hohe Leute er bei sich habe, und ihn aufzufordern, dieselben mit größter Hochachtung zu behandeln.

Der Mijnheer ging, anstatt sich müde zu zeigen und zu setzen, in der Stube auf und ab, reckte und streckte sich und fragte:

»Hoe is het, Mijnheer Methusalem? Kan ik niet goed rijden – wie ist es, Herr Methusalem? Kann ich nicht gut reiten?«

»Allerdings,« nickte der Gefragte. »Sie haben sich schneller eingerichtet, als ich dachte.«

»Ja, het rijden is zeer goed voor den lichaam. Ben ik niet dik geworden – ja, das Reiten ist sehr gut für den Körper. Bin ich nicht dick geworden?«

»Es scheint ganz so, als ob Ihr Umfang auf dem Pferde zugenommen habe.«

»Zeer?«

»Ganz beträchtlich!«

Da glänzte das Gesicht des Dicken vor Freude, und er meinte:

»Ben ik niet ook gewassen – bin ich nicht auch gewachsen?«

»Um einige Centimeter, wie es scheint. Die hiesige Luft scheint Ihnen außerordentlich zu bekommen.«

»Ja, de lucht is goed, is zeer weldadig. Ik ben oneindig gezond; ik word gaarne hier blijven – ja, die Luft ist gut, ist sehr wohlthätig. Ich bin unendlich gesund; ich möchte gern hier bleiben.«

»Das können Sie. Sie wollen sich ja hier in China ankaufen.«

»Aanhijen? Ja, maar wat en waar – ankaufen? Ja, aber was und wo?«

»Kaufen Sie dem Onkel Daniel sein Etablissement ab! Sie können da sich um China verdient machen und ein Millionär, ein Oelfürst werden.«

Der Dicke blieb stehen, öffnete vor Staunen den Mund und antwortete erst nach einer Weile:

»Een olievorst, een olieprins! Seldrement! De Mijnheer van Aardappelenbosch een olieprins! Dat ist goed; dat is zekerlijk goed – ein Oelfürst, ein Oelprinz! Potztausend! Der Mijnheer van Aardappelenbosch ein Oelprinz! Das ist gut; das ist gewißlich gut!«

Er setzte in sehr energischer Weise seinen Spaziergang fort, ohne das Gespräch fortzusetzen, brummte aber zuweilen ein Wort wie »olieprins« oder »zeer goed« vor sich hin. Der Gedanke des Methusalems schien auf einen sehr empfänglichen Boden gefallen zu sein, obgleich er nur im Scherze ausgesprochen worden war.

Die beiden Brüder befanden sich noch immer darüber im Unklaren, welche Pläne der Methusalem in Beziehung der Nachforschung nach ihren Verwandten verfolge. Er hatte sich ihnen seit gestern ganz und gar entzogen, um zu verhüten, daß das Gespräch auf diesen Gegenstand komme. Darum benutzte Liang-ssi die jetzt eingetretene Pause der Unterhaltung zu der Erkundigung:

»Herr, wie lange werden wir hier verweilen, um dann vollends nach Ho-tsing-ting zu gehen?«

»Bis morgen früh nur.«

»Und wie lange bleiben wir dann dort bei dem Onkel Daniel?«

»Das ist unbestimmt.«

»Aber wird es lange dauern?«

»Es ist möglich, daß sich unser dortiger Aufenthalt auf einige Wochen erstrecken wird.«

»So werden wir Sie um einen Urlaub bitten müssen.«

»Warum?«

»Damit wir während dieser Zeit nach unserer Mutter und unseren Schwestern forschen können.«

»Ich kann Sie nicht hindern. Aber wo wollen Sie suchen, und wie wollen Sie es anfangen, um eine Spur von den Verlorenen zu entdecken?«

»Wir werden nach der Provinz Kwéi-tschou, unserer Heimat gehen, wo wir gefangen waren und von wo sie damals entflohen sind. Das ist der einzige Ort, wo wir einen Anhalt finden können.«

»Aber Sie begeben sich dabei in große Gefahr, da auch Sie von dort entwichen sind. Wenn man Sie erkennt, so wird man Sie festhalten.«

»O, es sind seit jener Zeit nun acht Jahre vergangen, und wir waren damals sehr jung. Wir haben uns indessen so sehr verändert, daß es fast unmöglich ist, uns zu erkennen.«

»Das mag sein; aber wie wollen Sie es anfangen, dort eine Spur zu finden? Sie müssen doch forschen und fragen. Dadurch werden Sie die Aufmerksamkeit der Behörde auf sich lenken.«

»Wir werden dabei auf das vorsichtigste verfahren.«

»Das glaube ich sehr wohl; dennoch hege ich keine Hoffnung, daß Sie zum Ziele gelangen werden. Denn, glauben Sie etwa nicht, daß die Polizei damals sehr eifrig nach den Entflohenen geforscht hat?«

»Das ist sicherlich geschehen.«

»Und doch hat man sie nicht entdeckt. Wie wollen nun Sie nach so langer Zeit eine Spur auffinden, besonders, da Sie Ihre Nachforschungen nur heimlich anstellen können und dabei die größte Sorge tragen müssen, daß Sie nicht selbst ergriffen werden?«

»Herr, wollen Sie uns denn alle Hoffnung rauben? Sie haben ja recht, das muß ich zugeben; aber suchen müssen wir doch. Oder wissen Sie eine andere Art und Weise, zum Ziele zu gelangen? Sie hatten uns versprochen, uns behilflich zu sein. Ja, Sie sind ja auch mit zu dem Zwecke, die Familie unseres Vaters aufzusuchen, in das Land gekommen. Und nun bemerken wir, daß Sie sich gar nicht mehr mit dieser für uns so wichtigen Aufgabe beschäftigen.«

»Da irren Sie sich. Ich habe mich bis heute sehr eifrig mit derselben beschäftigt und thue es auch jetzt noch.«

»Ja, nachgedacht haben Sie vielleicht. Oder darf ich annehmen, daß Sie auf einen vorteilhafteren Plan gekommen sind, als der unserige ist?«

»Ja, mein Plan ist besser als der Ihrige. Der Weg, den ich eingeschlagen habe, führt sicher und auch ohne alle Gefahr für Sie zum Ziele.«

»Wirklich? Dann, Herr, teilen Sie uns denselben doch mit! Verharren Sie nicht länger in dem Schweigen, welches uns in Sorge versetzt hat!«

»Nun, mein Plan ist sehr einfach, und dennoch werden Sie ihn nicht verstehen, da er sich darauf gründet, daß – wir werden weiter über diese Angelegenheit sprechen. Jetzt bringt der Wirt den Thee.«

Der Genannte brachte den duftenden Tscha in kleinen, zierlichen Tassen, von denen jeder nur eine leeren durfte, da es der Willkommenstrunk war. Dann bat er die Herren, die für sie bestimmten Schlafstuben in Augenschein zu nehmen, damit er erfahren könne, ob es ihm gelingen werde, ihre Zufriedenheit zu erlangen.

Dabei verging die Zeit, welche sich der Hoei-hoei für die Vorbereitung des Mittagsmahls erbeten hatte. Er kam selbst, um seine Gäste abzuholen. Da er ihnen nicht zumuten wollte, den Weg nach seinem Häuschen, so kurz derselbe war, zu Fuße zurückzulegen, so hatte er alle im Dorfe vorhandenen Sänften in Beschlag genommen, um die Herren zu sich tragen zu lassen. Um Träger brauchte er nicht verlegen zu sein. Jeder Bewohner des Dorfes hielt es für eine Ehre für sich, den »hohen Gebietern« diesen Dienst zu erweisen.