Der Altersfaktor beim fortgeschrittenen Zweitspracherwerb

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Der Altersfaktor beim fortgeschrittenen Zweitspracherwerb
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Kamil Długosz

Der Altersfaktor beim fortgeschrittenen Zweitspracherwerb

Die Wortstellung im Deutschen bei polnisch-deutsch bilingualen Kindern

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Die Publikation des Buches wurde vollständig durch die Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań (Szkoła Nauk o Języku i Literaturze UAM) finanziert.

ISBN 978-3-8233-8498-4 (Print)

ISBN 978-3-8233-0302-2 (ePub)

Inhalt

  Vorwort

  1 Einleitung und Zielsetzung

 2 Entwicklung der kindlichen Zweisprachigkeit2.1 Generativer Ansatz in der Spracherwerbsforschung2.1.1 Erstspracherwerb2.1.2 Zweitspracherwerb2.2 Bilinguale Erwerbsszenarien im frühen Alter2.2.1 Bilingualer Erstspracherwerb2.2.2 Kindlicher Zweitspracherwerb2.3 Einflussfaktoren auf den kindlichen Zweitspracherwerb2.4 Spracheneinfluss beim kindlichen Zweitspracherwerb2.5 Fazit

 3 Wortstellung im Deutschen und im Polnischen3.1 Allgemeines zur Wortstellung im Deutschen3.2 Untersuchte Wortstellungsmuster3.2.1 Inversion im Deklarativsatz3.2.2 Verbalklammer3.2.3 Verbendstellung im Nebensatz3.2.4 Negationsstellung3.3 Wortstellung in der Ausgangssprache Polnisch3.4 Zusammenfassung

 4 Einfluss des Alters auf den Erwerb der Wortstellung im Deutschen4.1 Zur Kontroverse um das Alter bei Erwerbsbeginn4.2 Altersbedingte Phänomene beim Wortstellungserwerb4.2.1 Erstspracherwerb4.2.2 Zweitspracherwerb Erwachsener4.2.3 Kindlicher Zweitspracherwerb4.2.4 Einblick in fortgeschrittene Erwerbsphasen4.3 Erklärungen für altersbedingte Phänomene beim Wortstellungserwerb4.3.1 Neuronale Reifungsprozesse4.3.2 Alternative Erklärungsvorschläge4.4 Zusammenfassung und Fragestellung der vorliegenden Studie

  5. Methodisches Vorgehen der Studie 5.1 Probanden 5.2 Methode und Material 5.3 Datenanalyseverfahren

 6. Ergebnisse der Untersuchung6.1 Sentence Repetition Task6.1.1 Allgemeine grammatische Korrektheit6.1.2 Wortstellung6.2 The Multilingual Assessment Instrument for Narratives (MAIN)6.3 Grammaticality Judgment Task6.3.1 Korrektheit6.3.2 Reaktionszeit6.4 Forced Choice Task6.4.1 Korrektheit6.4.2 Reaktionszeit6.5 Produktionsdaten und Urteilsdaten im Vergleich6.6 Regressionsanalyse6.7 Vertiefte Analysen des Erwerbsalters

  7. Diskussion der Untersuchungsergebnisse 7.1 Beantwortung der Forschungsfragen 7.2 Zur Rolle des Alters bei Erwerbsbeginn für den langfristigen Erfolg in der Zweitsprache 7.3 Zum Einfluss der Kontaktdauer, des kumulativen Inputs und des Alters zum Testzeitpunkt auf den fortgeschrittenen Zweitspracherwerb 7.4 Zur Rolle des Spracheneinflusses beim fortgeschrittenen Zweitspracherwerb 7.5 Diskussion der Ergebnisse im Rahmen der generativen Zweitspracherwerbsforschung

  8 Implikationen für die Sprachdiagnostik bei zweisprachigen Kindern

  9 Zusammenfassung und Ausblick

  Streszczenie w języku polskim

 AnhangAnhang A: Ausschnitte des ElternfragebogensAnhang B: ANOVA-Statistiken für die Modelle, die nicht an die Daten angepasst sind

  Literaturverzeichnis

  Abkürzungsverzeichnis

Vorwort

Die vorliegende Dissertation ist im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem Nationalen Forschungszentrum (Narodowe Centrum Nauki, kurz: NCN) finanzierten Forschungsprojekts KiBi: Polnisch-deutsche Zweisprachigkeit bei Kindern: Die Rolle des Alters bei Erwerbsbeginn für den langfristigen Spracherwerbserfolg entstanden, das zwischen 2016 und 2020 von Frau Prof. Dr. Aldona Sopata und Herrn Prof. Dr. Bernhard Brehmer geleitet wurde.

An dieser Stelle möchte ich all jenen danken, die durch ihre fachliche und persönliche Unterstützung zum Gelingen dieser Dissertation beigetragen haben.

Mein besonderer Dank gilt zunächst meiner Doktormutter Prof. Dr. Aldona Sopata für die hervorragende Betreuung und die enorme Unterstützung bei der Umsetzung der gesamten Arbeit. Sie hat mich für das Thema des kindlichen Zweitspracherwerbs begeistert und war trotz ihres vollen Terminkalenders jederzeit für ein Treffen mit mir bereit. Es war eine Ehre für mich, ihr Doktorand zu sein.

Mein großer Dank gilt auch allen wissenschaftlichen und studentischen Mitarbeitenden des KiBi-Projekts, insbesondere Raina Gielge für ihr Verständnis in schwierigen Momenten, ihr enormes Engagement und die vielen inspirierenden Gespräche, die meinen Horizont erweitert haben. Ich danke auch dem Nationalen Forschungszentrum, das meine Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter im KiBi-Projekt finanziert hat, sowie den beteiligten Kindern und ihren Eltern, ohne die diese Studie nicht entstanden wäre.

Unermesslicher Dank gebührt Michał Piosik für sein scharfes Auge beim Korrekturlesen, vor allem aber dafür, dass er mir den Einstieg ins Promotionsstudium in Poznań erleichtert und mich auf meinem Weg mit Rat und produktiven Gesprächen begleitet hat.

Zu Dank verpflichtet bin ich Tabea Schleinitz und Dr. Nadja Zuzok, die meine Arbeit sprachlich-stilistisch optimiert haben.

Ich danke auch der Leitung der Neophilologischen Fakultät der Adam-Mickiewicz-Universität zu Poznań, insbesondere Frau Prof. Dr. Aldona Sopata und Frau Prof. Dr. Dominika Skrzypek, sowie der Direktorin des Instituts für Angewandte Linguistik, Frau Prof. Dr. Izabela Prokop, für das Schaffen optimaler Bedingungen für die wissenschaftliche und didaktische Arbeit.

Schließlich möchte ich mich besonders bei meinen Eltern, meiner Schwester Ania und ihrem Mann für die aufbauenden Worte und immer offenen Ohren bedanken. Ganz besonders danke ich Maciej für seine unendliche Unterstützung und seinen Glauben an mich.

1 Einleitung und Zielsetzung

Es wird heutzutage davon ausgegangen, dass mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung mindestens zweisprachig ist (vgl. z. B. Riehl, 2014a: 10f.). Aus diesem Blickwinkel ist Mehrsprachigkeit der Normalfall und Einsprachigkeit eher die Ausnahme. Auch für mitteleuropäische Verhältnisse klingt das nicht mehr befremdlich, wenn man das Ausmaß der Migration in den letzten Jahren betrachtet. Im Jahr 2018 hatte jede vierte Person in Deutschland einen Migrationshintergrund, wobei Polen, nach der Türkei, den zweiten Platz unter den Herkunftsländern der Migranten einnahm (vgl. Statistisches Bundesamt, 2019).1 Sie führt zu intensiven Kontakten zwischen verschiedenen Kulturen, die ihrerseits die sprachliche Vielfalt fördern. Die Kenntnis mehrerer Sprachen wird von der Europäischen Union als ein bedeutendes sprachpolitisches Ziel aufgefasst:

„Sprachenvielfalt ist ein grundlegender Bestandteil der europäischen Kultur und des interkulturellen Dialogs, und die Fähigkeit, in einer anderen Sprache als seiner Muttersprache zu kommunizieren, wird als eine der Schlüsselkompetenzen anerkannt, deren Erwerb die Bürger anstreben sollten.“ (Rat der Europäischen Union, 2014: 26)

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Mehrsprachigkeit verstärkt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wissenschaftlicher Betrachtungen rückt. Zu den Disziplinen, die sich mit mehrsprachigen Individuen befassen, zählt insbesondere die Zweitspracherwerbsforschung, die Prozesse des Erwerbs und Erlernens von Zweitsprachen untersucht. Eine besondere Position innerhalb der Zweitspracherwerbsforschung nehmen Untersuchungen zur Entwicklung der kindlichen Zweisprachigkeit ein, die sowohl aus erkenntnistheoretischer als auch praxisorientierter Sicht eine sehr wichtige Aufgabe darstellen (vgl. z. B. Sopata, 2009; Chondrogianni, 2018). Sie ermöglichen es einerseits, Erkenntnisse über die Funktionsweise der menschlichen Kognition zu gewinnen; andererseits leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur Optimierung der Sprachvermittlung und Sprachdiagnostik. Daher bemühen sich die Forscher, den kindlichen Zweitspracherwerb mit all seinen Facetten zu beschreiben und zu erklären.

 

Die vorliegende Arbeit schließt sich diesen Bemühungen an, indem sie den natürlichen Zweitspracherwerb polnisch-deutsch bilingualer Kinder untersucht. Das Haupterkenntnisziel besteht darin, einen Einblick in die Prozesse des Erwerbs der deutschen Wortstellung innerhalb des Haupt- und Nebensatzes bei kindlichen Zweitsprachlernern2 zu gewinnen. Viele Studien befassen sich mit dem Syntaxerwerb des Deutschen als früher Zweitsprache (vgl. Kapitel 4.2). Sie fokussieren aber meistens nur die ersten Monate oder Jahre der sprachlichen Entwicklung bis zu dem Zeitpunkt, in dem Kinder ein gewisses Erwerbskriterium, z. B. 90 % produktiver Verwendung einer syntaktischen Regel in allen obligatorischen Kontexten (vgl. z. B. Czinglar, 2014a), erreichen. Die Frage nach dem späteren Erwerbsverlauf wird dabei jedoch außer Acht gelassen. Es liegen meines Wissens bisher keine Studien vor, die sich explizit mit späteren Erwerbsphasen beschäftigen.

Die vorliegende Arbeit zielt daher darauf ab, diese Forschungslücke zu schließen, indem sie den fortgeschrittenen Zweitspracherwerb der grundlegenden Wortstellungsmuster im Deutschen ergründet. Angesichts der aktuellen Befunde, nach denen Kinder, die im Alter von bis zu vier Jahren in Kontakt mit dem Deutschen treten, die Satzstrukturen einschließlich Frage- und Nebensätzen innerhalb von acht bis 18 Monaten erwerben (vgl. Rothweiler, 2006; Thoma & Tracy, 2006), und nach denen die Erwerbsgeschwindigkeit bei älteren Kindern sogar höher sein kann (vgl. Czinglar, 2014a, 2014b), wird hier der fortgeschrittene Zweitspracherwerb als Erwerb konzeptualisiert, der nach dem 18. Kontaktmonat erfolgt. Damit wird er zwischen dem frühen Verlauf und dem Endzustand des Spracherwerbs positioniert, wobei er vielmehr dem Letzteren näher ist. Der Endzustand wird in der englischsprachigen Fachliteratur vor allem mit den Begriffen endstate und ultimate attainment beschrieben und kann Herschensohn (2013: 321) zufolge als „a putative stage after which there is very little change in L2 competence“ definiert werden.

Im Mittelpunkt der Studie steht der Altersfaktor, also die Frage danach, welche Auswirkungen das Alter bei Erwerbsbeginn (= AbE, age of onset, age of acquisition), d. h. bei erstmaligem Kontakt mit der Sprache, auf den fortgeschrittenen Zweitspracherwerb der deutschen Wortstellung bei polnischen Kindern hat. Zusätzlich zur Wortstellung werden in dieser Studie auch die allgemeine grammatische Kompetenz der Kinder und die Geschwindigkeit, mit der sie Sätze verarbeiten, untersucht. Diese Fragestellung ist deswegen relevant, weil der Altersfaktor beim kindlichen Zweitspracherwerb noch wenig untersucht ist und viele Meinungsverschiedenheiten hervorruft: „(…) until recently there has been little systematic investigation of the potential role of age of onset WITHIN childhood and its impact upon child L2 development [Hervorhebung im Original]“ (Unsworth, 2016: 609). Die Arbeit setzt sich auch zum Ziel, den Einfluss anderer Faktoren zu ermitteln. Hierzu zählen (I) das Alter zum Testzeitpunkt, (II) die Kontaktdauer mit der Zweitsprache und (III) der kumulative Input in der Zweitsprache. Die Einbeziehung all dieser Variablen ermöglicht es, ihr Zusammenspiel zu erfassen und herauszufinden, welcher Faktor den fortgeschrittenen Syntaxerwerb bilingualer Kinder determiniert.

Dem untersuchten Sprachpaar wurde bisher in der Zweitspracherwerbsforschung eher wenig Beachtung geschenkt. In den meisten Studien zum Deutscherwerb werden vornehmlich türkisch- und russischsprachige Kinder untersucht (vgl. Kapitel 4.2). Dies ist insofern erstaunlich, als die Anzahl der in Deutschland lebenden Polen sehr groß ist. Da sich Polnisch und Deutsch in Bezug auf syntaktische Regularitäten deutlich voneinander unterscheiden, bilden sie eine Steilvorlage für die Untersuchung des Erwerbs der Wortstellung. Die vorliegende Studie liefert somit neue Evidenz aus der in der Forschung unterrepräsentierten Sprachkonstellation.

Um die Ziele der vorliegenden Arbeit zu erreichen, wurden im Rahmen einer Querschnittstudie vier Aufgaben durchgeführt, die sowohl auf die Repräsentation als auch auf die Produktion der untersuchten Wortstellungsmuster in fortgeschrittenem Zweitspracherwerbsstadium eingehen. Erstere umfassten zwei Aufgaben des Grammatikalitätsurteils und der Strukturauswahl, in denen auch die Reaktionszeit als Indikator der Verarbeitungsgeschwindigkeit gemessen wurde. Außer kindlichen Zweitsprachlernern wurden zusätzlich simultan bilinguale und monolinguale deutsche Kinder untersucht, die miteinander verglichen wurden. Dies ermöglichte eine bewusste Trennung bestimmter Einflussfaktoren voneinander, z. B. sprachlicher von außersprachlichen. Mittels entsprechender statistischer Verfahren wurden auch Korrelationen zwischen den Leistungen der Kinder und den anvisierten Einflussfaktoren unter besonderer Berücksichtigung des Alters zu Beginn des Zweitspracherwerbs festgelegt.

Die zentralen Forschungsfragen lauten somit:

 (F1) Wie entwickeln sich die einzelnen Wortstellungsphänomene im fortgeschrittenen Stadium des Zweitspracherwerbs?

 (F2) Gibt es Unterschiede zwischen den sukzessiv bilingualen Kindern und den monolingualen und simultan bilingualen Kindern im fortgeschrittenen Stadium des Wortstellungserwerbs?

 (F3) Gibt es Unterschiede zwischen den Urteils- und Produktionsdaten in den einzelnen Gruppen?

 (F4) Welchen Einfluss hat das Alter bei Erwerbsbeginn auf den fortgeschrittenen Zweitspracherwerb der Wortstellung?

 (F5) Welchen Einfluss haben das Alter zum Testzeitpunkt, die Kontaktdauer und der kumulative Input auf den fortgeschrittenen Zweitspracherwerb der Wortstellung?

 (F6) Welcher der vier Faktoren, d.h. das Alter bei Erwerbsbeginn, das Alter zum Testzeitpunkt, die Kontaktdauer oder der kumulative Input, hat den größten Einfluss auf den fortgeschrittenen Zweitspracherwerb der Wortstellung?

 (F7) Gibt es Unterschiede zwischen dem fortgeschrittenen Zweitspracherwerb und dem fortgeschrittenen (bilingualen) Erstspracherwerb in Hinblick auf die allgemeine grammatische Kompetenz und die Reaktionszeit?

 (F8) Welcher der vier Faktoren, d.h. das Alter bei Erwerbsbeginn, das Alter zum Testzeitpunkt, die Kontaktdauer oder der kumulative Input, hat den größten Einfluss auf die allgemeine grammatische Kompetenz und die Reaktionszeit?

Der Gegenstand und die Ziele der Arbeit spiegeln sich in ihrer Struktur wider. Das zweite Kapitel ist als Einführung in die Entwicklung der kindlichen Zweisprachigkeit im natürlichen Kontext konzipiert und bildet den Bezugsrahmen für die Untersuchung des Zweitspracherwerbs bei Kindern, indem es die relevantesten Begriffe und Themenbereiche beleuchtet. Im dritten Kapitel wird ein linguistisch definiertes Beschreibungsinstrument für die deutsche Wortstellung überblicksartig skizziert, um den Erwerbsgegenstand der untersuchten Kinder zu veranschaulichen. Das vierte Kapitel setzt sich mit dem Altersfaktor beim Erwerb der grundlegenden Wortstellungsmuster im Deutschen auseinander, indem es zuerst allgemein die Kontroverse um altersbedingte Phänomene beim Zweitspracherwerb thematisiert und daran anknüpfend die relevantesten Studien zum Erwerb der deutschen Satzstruktur sowohl bei monolingualen als auch bei bilingualen Kindern unterschiedlichen Alters kritisch referiert. Im Anschluss daran wird der Versuch unternommen, spätere Erwerbsphasen zu erfassen und die in diesen Studien ermittelten Alterseffekte zu erklären. Im fünften und im sechsten Kapitel werden das methodische Vorgehen und die empirischen Daten theorieneutral dargestellt. Erst im siebten Kapitel werden sie vor dem Hintergrund des theoretischen Bezugsrahmens wie auch im Lichte der bereits existierenden Studien diskutiert und interpretiert. Das achte Kapitel hat das Ziel, einige praxisbezogene Schlussfolgerungen zu ziehen und mögliche Implikationen für die sprachliche Diagnostik bilingualer Kinder vorzuschlagen. Das neunte Kapitel zielt schließlich darauf ab, die wichtigsten Befunde kurz zusammenzufassen und einen forschungsorientierten Ausblick zu geben.

2 Entwicklung der kindlichen Zweisprachigkeit

In diesem Kapitel wird der Versuch unternommen, die relevantesten Aspekte der kindlichen Zweisprachigkeit aus erwerbstheoretischer Perspektive zu besprechen. Dargestellt werden vor allem diejenigen Themenbereiche, die für den Erwerb der Wortstellung von Belang sind. Angefangen mit dem generativen Ansatz in der Spracherwerbsforschung wird zunächst seine theoretische Fundierung beschrieben, um dann daran anknüpfend auf die Hypothesen des Erst- und Zweitspracherwerbs detaillierter einzugehen. Die Studien, die explizit dem Wortstellungserwerb im Deutschen gewidmet sind, werden hier absichtlich nicht berücksichtigt und erst in Kapitel 4.2 separat behandelt. Als Nächstes werden mögliche Wege zur Zweisprachigkeit im frühen Alter unter besonderer Berücksichtigung der grammatischen Entwicklung diskutiert. Einen wichtigen Teil dieses Kapitels bilden ferner interne und externe Einflussfaktoren auf den kindlichen Zweitspracherwerb, die vor allem in Bezug auf die Entwicklung grammatischer Phänomene besprochen werden. Zentral ist hier die Frage, welcher Faktor die Entwicklung der Syntax bestens zu erklären vermag. Abschließend werden relevante Manifestationen von Spracheneinfluss im syntaktischen Bereich, einschließlich der ihn modulierenden Faktoren, aufgezeigt.

2.1 Generativer Ansatz in der Spracherwerbsforschung

Das generative Paradigma hat die Sprach- und dabei insbesondere die Grammatiktheorie unermesslich stark beeinflusst. Mit der Veröffentlichung seines bahnbrechenden Werkes Syntactic Structures im Jahr 1957 hat Noam Chomsky, der wohl meistzitierte Sprachwissenschaftler des 20. Jahrhunderts, die Fundamente für die generative Linguistik geschaffen. Auf diese Art und Weise hat sich der Paradigmenwechsel vom Strukturalismus zur generativen Sprachwissenschaft vollzogen:

„Angelpunkt der ganzen Absetzung der Generativen Grammatik von der nicht-generativen Systemlinguistik ist eine fundamental andere sprachtheoretische Grundauffassung vom Gegenstand der Sprachforschung. Die Deskriptivisten fragen nach dem Allgemeinen, dem Regelmäßigen in einem äußerlich vorfindbaren Objekt (Korpus), nach den Typen, Klassen und Regeln einer Einzelsprache wie des Deutschen. Die Frage der Generativisten aber lautet: Was weiß jemand oder hat jemand im Kopf, der eine Sprache, z. B. die deutsche Sprache, beherrscht? Mit dieser Frage wird zum Gegenstand des Sprachwissenschaft eine mentale, eine kognitive Fähigkeit, ein Teil des geistigen Besitzes des Menschen.“ (Linke et al., 2004: 103)

Die Linguistik wird folglich zu einer Teildisziplin der Kognitionswissenschaft und setzt sich als solche zum Ziel, die Sprache als eine kognitive Fähigkeit des Menschen zu untersuchen, der ein Sonderstatus innerhalb der Kognition zuerkannt wird.1 Damit hängt die Modularitätshypothese zusammen, der zufolge der menschliche Geist aus mehreren relativ autonomen Modulen besteht, denen verschiedene kognitive Leistungen zugeordnet werden können (vgl. z. B. Sadownik, 2010: 59). Ein spezielles Modul bildet im generativen Paradigma insbesondere die Syntax, die ein eigenständiges, in sich geschlossenes System von mentalen Repräsentationen bzw. kognitiven Strukturen darstellt, dem eigene Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen, welche in keiner anderen Wissensdomäne vorzufinden sind (vgl. Fanselow & Felix, 1990: 66f.).2 Das syntaktische Wissenssystem kann mithin nicht von anderen kognitiven Wissensbeständen abgeleitet werden und bildet daher den wichtigsten Teil der menschlichen Sprachkompetenz. Der Begriff Kompetenz spielt aus generativer Perspektive eine besondere Rolle und wird der Performanz gegenübergestellt. Während die Kompetenz das implizite Sprachwissen umfasst, wird unter Performanz die Anwendung dieses zugrunde liegenden Wissens in konkreten Sprachsituationen verstanden (vgl. Chomsky, 1965: 3).3

 

Die generative Theorie zielt darauf ab, Antworten auf zwei spezifische Fragestellungen zu liefern: (1) die Frage nach der mentalen Organisation des sprachlichen Wissens im Geist/Gehirn und (2) die Frage nach dem Erwerb dieses Wissens (vgl. Fanselow & Felix, 1990: 7, 15). In Bezug auf die zweite Frage ist die generative Spracherwerbstheorie daran interessiert, universale Gesetzmäßigkeiten beim Erwerb von Sprachstrukturen aufzudecken, zu beschreiben und vor allem zu erklären. Nach Fanselow und Felix (1990: 137) handelt es sich hierbei vor allem um die Aufdeckung universaler Prinzipien, die der Sprachfähigkeit zugrunde liegen und als Teil der Biologie und Kognition des Menschen die Sprachaneignung erst möglich machen. Angestrebt wird eine explanatorische Theorie, die alle Sprachen auf diese fundamentalen Prinzipien zurückführen könnte. Ihre Universalität impliziert die Existenz biogenetisch verankerter Strukturen, die die Klasse natürlicher und erlernbarer Sprachen einschränken würden. Der generative Ansatz ist somit eng an die Idee des Nativismus gekoppelt, nach der bestimmte Fähigkeiten angeboren und von Geburt an im Gehirn verankert sind. Aus erwerbstheoretischer Sicht bedeutet das, dass Kinder mit einem vorprogrammierten sprachlichen Wissen, das den Anfangszustand des Spracherwerbs konstituiert, pränatal ausgestattet sind.4 Chomsky (1986: 3) spricht in diesem Zusammenhang vom angeborenen initial state, dank dem der Spracherwerbsprozess in Gang kommt. Im Widerspruch dazu steht der Empirismus, dem zufolge die Sprache nicht genetisch determiniert, sondern erlernt und erfahrungsabhängig ist (vgl. Rohmann & Aguado, 2002: 263), was zwangsläufig jegliche angeborenen Prädispositionen, die das Kind zum Spracherwerb nutzen würde, infrage stellt, wenn nicht völlig ausschließt. Diese klassische Kontroverse zwischen Nativismus und Empirismus wird in der Fachliteratur als Nature-Nurture-Dichotomie bezeichnet und kann mit der Entstehung der modernen Spracherwerbsforschung in Verbindung gebracht werden. Es ist jedoch mit Wode (1993: 53f.) hervorzuheben, dass man nicht mehr darüber diskutieren sollte, ob etwas angeboren ist, sondern vielmehr wie viel und was.

Die im Rahmen der generativen Grammatik entwickelte Konzeption der Sprache ist jedoch nicht die einzige.5 Es gibt zahlreiche, zum Teil recht unterschiedliche Auffassungen darüber, wie Sprache zu beschreiben und zu erklären ist. Aus soziolinguistischer Perspektive wird sie z. B. als Bedingung und zugleich als Produkt des sozialen Lebens und nicht außerhalb desselben verstanden (vgl. Coulmas, 1997: 1ff.). Funktional gesehen kann sie wiederum als kommunikatives Instrument definiert werden, mit dem verschiedene kommunikative Ziele erreicht werden (vgl. Schwarz-Friesel, 2013: 22f.). Die Art und Weise, wie man Sprache definiert, determiniert die Herangehensweise an den Spracherwerb. In der vorliegenden Arbeit wird erstens davon ausgegangen, dass Sprache keine externe Entität ist; sie wird als reine Struktur bestimmter Funktionen des menschlichen Gehirns verstanden, die eine nicht-materielle Struktur aufweist und sehr tief im Menschen verankert ist (F. Grucza, 1993a, 1993b; vgl. auch S. Grucza, 2010). Zweitens wird angenommen, dass sie ein modulares System von mentalen Repräsentationen darstellt, wobei der Syntaxautonomie besondere Bedeutung eingeräumt wird. Der Erwerb des syntaktischen Wissens wird als ein relativ autonomer Prozess aufgefasst, der sich zum Teil unabhängig von der kognitiven Entwicklung des Kindes vollzieht. In den darauffolgenden Subkapiteln wird auf die generativen Erklärungsmodelle in Hinblick auf den Erst- und Zweitspracherwerb eingegangen.