Ruf der Pflanzen

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Etwa fünfzig Meter vor ihr stand der Fremde, der Peiniger Cobas, und spießte sie mit dem Blick seiner eisblauen Augen auf. Neben ihm hielt ein Schwarzer, den Ife nicht kannte, ein Buschmesser in der erhobenen Hand. Auf dem Boden stand eine Kiepe, in der sich Zweige und Blätter stapelten. Die dritte im Bunde war ihre alte Freundin Coba. Coba starrte sie an, ohne ein Zeichen des Wiedererkennens zu geben. Sie stand gebeugt und auf einen Knüppel gestützt und sah noch älter aus, als Ife sie in Erinnerung hatte. Ihr Körper schien nur noch halb bewohnt zu sein, die Wintis schwebten schon über ihr, um sich nach einem neuen Haus umzusehen.

Im Raum zwischen ihnen spielte sich ein unsichtbarer Kampf ab, bei dem alle Beteiligten äußerlich bewegungslos blieben. Der Fremde würde Ife nicht als ehemalige Sklavin von Sugar Creek erkennen, und der andere Sklave konnte ein Neuer sein. Coba würde sie niemals verraten. Doch auch wenn sie sie für eine Waldbewohnerin, eine entlaufene Sklavin einer anderen Plantage hielten, würde ihr dadurch ein gnädigeres Schicksal beschieden sein?

Als Ife noch auf Sugar Creek lebte, hatte sie zwei Überfälle erlebt. Die Waldmenschen waren nachts gekommen, einmal hatten sie nur zwei Schweine und einen Sack Hirse gestohlen, ein anderes Mal hatten sie zwei Wachen erledigt, den halben Geräteschuppen ausgeräumt und die Hütte anschließend angezündet. Ife musste wissen, dass alle Freien in den Wäldern für die Weißen böse waren. Es wäre das Klügste, die Beine in die Hand zu nehmen und zu verschwinden. Sie konnte nur hoffen, dass der fremde Sklave mit dem Messer sie nicht verfolgen würde.

Doch selbst wenn Ife entkam, würden sie danach sicher den Wald durchkämmen und damit wären vielleicht sogar Adjoa und die anderen in Gefahr. Ife hätte in die falsche Richtung laufen können. Doch sie blieb einfach stehen. Wer Menschen für Pekaris hielt, musste seiner gerechten Strafe entgegensehen.

5

Der Rotgesichtige sagte etwas zu seinem Sklaven, was Ife nicht verstand. Sofort ging dieser auf Ife zu, umklammerte ihre freie Hand und näherte sein Buschmesser ihrem Hals, ohne dabei aber besonders überzeugend zu wirken. Mit dem freien Arm drückte Ife ihre Palmblätter an die Brust. Nun kam auch der Rotgesichtige näher, fixierte Ife weiter mit seinen blauen Augen. Sein Blick verriet deutlich, dass er darauf brannte, Ife ihr Bündel zu entreißen.

Eine Frage kam aus seinem Mund auf Ife zugeschossen, doch Ife konnte seine Worte nicht verstehen. Sie klangen nur entfernt wie Englisch.

»Was hast du da?«, sprang der Sklave ein.

»Blätter.«

»Was hast du damit vor?« Der Sklave übersetzte weiter die Worte des Fremden.

»Medizin.«

»Für wen ist die Medizin?« War es besser zu behaupten, dass sie von Sugar Creek kam oder im Gegenteil, dass sie sich nur zufällig hierher verlaufen hatte?

»Meine Leute«, antwortete sie ausweichend.

»Wer sind deine Leute?«

»Wir sind nur unbedeutende Neger, was spielt das denn für eine Rolle?«

»Gib mir das Bündel«, übersetzte der Sklave weiter.

Ife drückte die piekenden Palmblätter noch fester an sich. Es war Adjoas geheime Botschaft der Liebe. Sie durfte sie nicht verlieren, so kurz vor dem Ziel.

»Sie sagt nicht die ganze Wahrheit«, mischte sich Coba mit heiserer Stimme ein. »Sie kommt von Sugar Creek. Wir waren zusammen im Wald, um Kräuter zu suchen. Plötzlich war sie verschwunden. Ich habe sie gerufen, konnte sie aber nirgends mehr entdecken. Die Herrschaften haben behauptet, sie wäre fortgelaufen, aber bedenken Sie, wer möchte schon dort draußen alleine überleben? Sehen Sie, dieses Mädchen weiß zwar ein wenig über Medizin, aber sie weiß nicht, wie sie sich alleine Nahrung beschafft. Sie hat sich verlaufen, sie wäre niemals freiwillig in den Wald gegangen. Sie war eine gute Sklavin, sie hat mir in der Krankenbaracke geholfen. Die Herrschaften haben ihr viel Vertrauen geschenkt.«

Der Sklave übersetzte nicht mehr. Der Fremde schien zu verstehen. Er stellte Coba eine Frage und Coba nickte langsam. Demnach verstand sie das Kauderwelsch des Fremden, das bei genauem Hinhören doch ein wenig nach Englisch klang, nur so, als würde er ein bekanntes Lied zu einer völlig falschen Melodie anstimmen. Ife konzentrierte sich auf die Worte, und glaubte in der nächsten Frage die Worte »Wie« und »überlebt« zu erkennen.

»Das weiß ich nicht. Fragen Sie sie selbst, aber lassen Sie George das Messer von ihrem Hals wegnehmen, das lähmt die Zunge. Margaret heißt sie.«

»Margaret, stimmt das, was die Alte sagt?«

Margaret, wie lange war sie nicht mehr mit diesem Namen angesprochen worden. Dem Namen, den der Mister in seinen Büchern vermerkt hatte, weil Ife für ihn kein Name war. Doch ihre Mutter hatte den Namen nie in den Mund genommen, und auch die anderen Sklaven hatten sie stets Ife gerufen. Ife brauchte immer einen Moment, um zu reagieren, wenn sie jemand Margaret nannte.

Sie nickte beflissentlich.

Der Rotgesichtige kniff das Gesicht zusammen, und das Rot ging in Purpur über. Die folgenden Sätze spuckte er so sehr aus, dass ein paar Fetzen Speichel mit hinausflogen. Ife starrte fasziniert in das verzerrte Gesicht, was es ihr unmöglich machte, sich auf die Worte zu konzentrieren. Erst nachdem die Worte aus dem Gesicht des Fremden geflogen waren, machte sich der Sklave schüchtern an die Übersetzung. Der Junge ließ die Sätze so monoton verlauten, dass sie fast ihren Sinn verloren.

»Hat dir niemand beigebracht, in ganzen Sätzen zu antworten. Gib mir gefälligst eine vernünftige Antwort, wenn ich mit dir rede. Weißt du denn nicht, wer vor dir steht. Ich bin ein Gesandter des Königs und Mitglied der Königlichen Societät der Wissenschaften. Erzähl jetzt sofort, was du im Wald gemacht hast, oder ich werde dich auspeitschen lassen, dass dir hören und sehen vergeht.« Ife hörte mit gesenktem Blick zu. Jetzt bloß keine falsche Reaktion zeigen. Wenn Coba für sie in die Bresche gesprungen war, hatte sie eine Chance.

Ein brüllender Tiger reißt keine Beute, beruhigte sich Ife.

»Verzeihen Eure Hoheit.« Eure Hoheit sagte man doch zu Königen? Ife hatte trotz der Hilfe des Sklaven nicht verstanden, was der Fremde nun mit einem König zu tun hatte. Ife sprach sanft, wie um ein Kind zu besänftigen. »Ich werde versuchen, alle Eure Fragen zu Eurer Zufriedenheit zu beantworten. Es stimmt, dass ich mit meiner Lehrerin Coba im Wald war. Sie sehen, Coba ist nicht mehr so gut zu Fuß, und ich bin vorgelaufen, wir brauchten die Rinde von Quina, denn das Fieber verbreitet sich gerade wieder. Ich lief in die Richtung, wo die Bäume gestanden hatten, doch ich konnte sie nicht mehr finden. Plötzlich war alles fremd und ich rief nach Coba, aber ich bekam keine Antwort. Da bekam ich es mit der Angst, und ich begann zurück zur Plantage zu laufen, aber ich muss wohl in die falsche Richtung gegangen sein, denn nach Stunden hatte ich die Plantage immer noch nicht erreicht. Die Dunkelheit brach herein und ich musste dort auf der Stelle auf dem Boden zusammengerollt übernachten. Was glauben Sie, was ich für eine Angst vor den wilden Tieren hatte! Aber es half ja nichts, ich musste nun mutterseelenallein dort draußen im Wald schlafen. Auch am nächsten Tag fand ich den Weg nicht. So ging das Tag um Tag, ich weiß gar nicht mehr, wie lange ich dort draußen herumgeirrt bin.«

Mitleid zeigte sich nicht auf dem Gesicht der fremden Hoheit, eher eine Spur von Ungeduld.

»Wovon hast du dich ernährt?«

»Von Früchten und Wurzeln, Eure Hoheit. Einmal habe ich mir auch gehörig den Magen verdorben, mir war zwei Tage lang übel und ich konnte keinen Schritt mehr gehen. Es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre dort draußen verreckt.«

Er musterte sie, sein Blick verriet, dass er nicht gerade erpicht auf Schilderungen ihres Elends war. Dann spürte Ife, wie sein Blick auf den Rundungen ihrer Brüste hängenblieb. »So schlecht siehst du eigentlich gar nicht aus«, murmelte er. »Hast du dort draußen Menschen getroffen? Indianer? Entlaufene Sklaven?«

Ife schüttelte langsam und nachdrücklich den Kopf.

Wieder lief der Fremde rot an und brüllte diesmal Coba an. Der Junge, der nicht genau wusste, wem die Rede galt, übersetzte weiter.

»Recht hast du, die Wahrheit sagt deine junge Freundin nicht. Schamlose Lügengeschichten sind das. Ihr steckt doch alle unter einer Decke! Will da draußen alleine überlebt haben, ohne einer Menschenseele begegnet zu sein! Das glaubt doch kein Mensch. Die Plantagenaufseher werden schon wissen, was mit ihr zu tun ist, ich will mich jedenfalls nicht länger mit ihr befassen.«

»Mister, Sie wollten doch das Bündel sehen, das die Sklavin bei sich hat?«, meldete sich Coba ungefragt zu Wort.

Mürrisch streckte der Fremde die Hand aus. Nichts half, sie musste ihm die zusammengebundenen Blätter überlassen.

Der Fremde legte das Bündel auf den Waldboden und entknotete es mit der größten Vorsicht. Seine Finger, unglaublich lang und schmal mit knubbeligen Gelenken, beschäftigten sich ruhig mit den faserigen Schnüren, die mit der Machete viel leichter zu durchtrennen gewesen wären. Dann löste er die Blätter sorgfältig voneinander und breitete sie vor sich auf dem Boden aus. Die beiden Palmwedel von Prasara und Awarra hatten zwei große, glatte und herzförmige Blätter freigegeben, dazwischen wiederum hatte sich ein Mimosenzweig zu einem nahezu unkenntlichen Häufchen gefaltet. Der Stock, den Ife im Inneren des Bündels gespürt hatte, war ein Stück vertrocknete Liane, genauer betrachtet drei Lianen, die sich kunstvoll umeinander geschlungen hatten und eins geworden waren. Der Fremde stand etwas ratlos vor dieser Sammlung und schüttelte unwillig den Kopf. Etwas schien ihm an den Pflanzen zu missfallen.

»Willst du mir nun erklären, was es mit diesen Pflanzen auf sich hat?«, ließ er Ife fragen.

 

Ife war froh, dass sie, abgesehen von dem Lianenstück, die mitgebrachten Pflanzen erkannte.

»Die da nennen wir Awarra. Aus ihren Blättern lassen sich sehr gute und feste Schnüre machen. Außerdem hat sie recht nahrhafte Früchte.«

»Aber du hast nur ein Blatt bei dir? Außerdem hast du gesagt, du brächtest Medizin.«

Ife dachte nach. Sie wusste beim besten Willen nicht, welchen weiteren Nutzen das Blatt haben sollte. Sie hatte schon die Wurzeln und die schwarzen Samen im Inneren der orangefarbenen Früchte benutzt, aber niemals die Blätter. Der Mann hat keine Ahnung, erzähl ihm irgendwas, rüttelte sie eine innere Stimme wach.

»Wir machen ein Bad daraus, mit dem wir die neugeborenen Kinder abreiben, damit sie keine offenen Wunden auf der Haut kriegen«, behauptete sie.

»Hm. Und weiter? Was ist mit der anderen Spezies der Palmaceae?«

Der Übersetzer stolperte fast über die Worte, und auch Ife wusste nicht, wovon der Weiße redete.

Sie starrte ihn verständnislos an.

»Die andere Palme!«, rief er ungeduldig.

»Ach so. Sie heißt Prasara. Man kann sie für sehr viele Sachen verwenden. Ihre Früchte essen wir auch manchmal. Man kann auch ihr Herz essen.« Wenn man auf die gefällte Palme pinkelte und dann einige Tage wartete, kamen schmackhafte dicke Maden, dachte Ife noch, aber sie wusste schon, dass die Leute auf der Plantage nichts mit dem Genuss von Maden anfangen konnten. Für Prasara fielen ihr noch mehr Verwendungen ein als für Awarra, doch wieder keine einzige, bei der die Blätter gebraucht wurden. Sie hatte auch gehört, dass sich mit einem kalten Aufguss aus der Rinde ein ungewolltes Kind in die Welt der Yorka schicken ließ. Aber das würde sie dem Weißen bestimmt nicht verraten.

»Und? Du hast wieder nur ein Blatt mitgebracht. Wirst du jetzt endlich aufhören, mich zum Besten zu halten!«

Er sprach jetzt schneller und lauter, wobei seine Stimme am Ende der Sätze fast kippte.

»Ich hatte sie geschickt, Mister«, ging Coba dazwischen. »Ich hatte ihr aufgetragen, diese Pflanzen zu bringen. Dieses Blatt hier ist überhaupt keine Medizin. Sie hätte es auch nicht die ganze Zeit mit sich herumtragen müssen, es zeigt nur, was sie für eine gehorsame Schülerin ist. Ich wollte es nur haben, um daraus einen Besen zu machen, um die Krankenbaracke zu fegen. Sie hätte es einfach auf dem Rückweg mitbringen können.«

Dem fremden Mister war anzusehen, dass er ihr nicht glaubte. Trotzdem beruhigte er sich nun etwas und forderte Coba auf, ihm die restlichen Pflanzen zu erklären.

»Aya tete wird gekocht, und man trinkt den Tee gegen Wunden im Mund«, erklärte Coba die herzförmigen Blätter. Wie fahl ihr Gesicht ist, dachte Ife. Seltsamerweise wurde ihr Gesicht bei der Betrachtung der Pflanzen immer blasser. Irgendetwas beunruhigte sie. Ob sie wusste, von wem sie kommen?

»Ein Tee aus Mimosenblättern bringt die Patienten zum Schwitzen«, kommentierte Coba weiter. »Manche Krankheiten verlassen mit dem Schweiß den Körper.«

»Und was soll das da?« Der Mister deutete auf die ineinander verschlungenen Lianen.

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Coba mit tonloser Stimme.

Ife konnte sich nicht vorstellen, dass Coba es wirklich nicht wusste. Aber wenn sie es ihm nicht sagen wollte, warum dachte sie sich nicht einfach etwas aus?

»Eure Pflanzen sind komplett nutzlos! Ohne Blüten lassen sie sich nicht klassifizieren. Und ein Stück Holz ohne Blätter, von dem ihr selber nicht wisst, wozu es gut ist, dass ich nicht lache! Und da soll eine tagelang durch den Wald geirrt sein, um diesen Plunder zu sammeln.«

»Mister, ich weiß, ich bin nur eine kleine Sklavin, aber vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein. Sehen Sie, Coba war mir stets eine gute Lehrerin, und ich sehe, dass sie Ihnen den Weg weist zu den Quellen unserer Medizin. Coba ist alt und nicht mehr gut zu Fuß. Ich könnte Ihnen viel schneller und einfacher die Pflanzen bringen, die Sie benötigen, dort stehen sie mit Blättern und Blüten und Wurzeln, was auch immer Sie für Ihre eigene Medizin benötigen.«

Der Fremde rümpfte die Nase. »Medizin würde ich die Tätigkeit von euch Kräuterweiblein nicht gerade nennen. Außerdem geht es nicht um die Medizin, es geht um reine Wissenschaft.«

»Sie dürfen nicht so hart zu ihr sein«, mischte sich nun wieder Coba ein, »sie ist nur eine junge Sklavin. Niemand hat sie je zur Schule geschickt, von Wissenschaft hat sie nie etwas gehört.«

»Für ihr bescheidenes Dasein erscheint sie mir aber ganz schön dreist zu lügen. Wenn sie sich halb so gut auskennen würde, wie sie behauptet, hätte sie sich wohl kaum im Wald verlaufen und giftige Wurzeln genossen.«

»Sie urteilen zu schnell. Haben Sie schon einmal versucht, alleine in den Tiefen dieses Waldes zu überleben? Margaret steht hier lebendig vor Ihnen, ist das kein Zeugnis ihres scharfen Verstandes?«

»Wir müssen sie trotzdem auf der Plantage abliefern«, entschied der Mister. »Ich kann nicht weiterarbeiten, solange George mit ihr die Hände gebunden sind. George, pass du auf sie auf, dass sie nicht wieder in den Wald entwischt.«

Die alte Coba musste vorausgehen, die anderen folgten im Gänsemarsch. Zuerst der Weiße, dem die alte Frau nur bis kurz über den Bauch reichte, dann Ife, die froh war, dass so niemand die Ängste in ihrem Gesicht lesen konnte, und zuletzt George, der ihr zusätzlich einen Schauer in den Rücken jagte. Wenn sie nur ein paar Worte mit Coba im Vertrauen wechseln könnte.

Bald schon hörten sie den Bach, der die Grenze zwischen Wald und Ackerland markierte. Beim Anblick des Wassers, auf dem die Sonne unruhige Muster zeichnete, musste Ife an das Yorka ihres Kindes denken, das sie hier vor gar nicht langer Zeit verlassen hatte. Ob es noch manchmal hierher kam, um sich den Platz anzusehen, an dem es nie leben sollte? Ob es dann froh war, dass Ife es zurück in die Arme seiner Dyodyo geschickt hatte? Ob die Dyodyo einen besseren Ort finden würden, wohin sie es wieder als Kra schicken konnten?

Über dem Wasser spielten zwei blaue Schmetterlinge, als wäre seit jenem Tag keine Zeit vergangen, als wäre Ife nie fortgewesen. Das Lichtspiel auf dem Wasser wurde von einem pferdeförmigen Schatten unterbrochen.

Der Reiter grüßte den Weißen, den man eigentlich Roten nennen sollte, mit einem Handzeichen und nahm keine weitere Notiz von seiner Begleitung.

Sie wateten durch das knietiefe Wasser und bald schon sah Ife die Wellenbewegung der Frauenrücken auf dem abgeernteten Feld, wie sie ihre Hacken hoch in die Luft schwangen und auf den lehmigen Boden herabsausen ließen. Der Wind trug leise Fetzen ihres Gesangs heran, der von ihrem schweren Atem zerstückelt wurde. Auch wenn Ife wusste, wie hart es war, wochenlang Löcher für die frischen Zuckerrohrsetzlinge aufzureißen, wo der Regen den Boden fest verbacken hatte, weckte der Anblick der Frauen in Ife doch für einen Moment den Wunsch, eine von ihnen zu sein.

Eine Taube umkreiste das Türmchen des zweistöckigen weißen Holzhauses, in dem der Mister und die Missus wohnten, um dann in seiner Fensteröffnung zu landen und einsam Wache über die Anlage zu halten. Der Wachturm schien für niemanden gebaut zu sein außer die Vögel, die sich dort gerne zu einer kleinen Pause niederließen. Die weißen Fensterläden im ersten Stock waren verschlossen. Zum Haus hinauf führte eine fünfstufige Treppe, die auf eine Veranda mündete. An der Treppe und dem Geländer der Veranda blätterte schon die Farbe ab, das Holz färbte sich grau bis grün, der Moder kroch von unten in das Gebäude. Die Treppe hatte Ife nie betreten, niemals hatte sie den verschnörkelten Giebel passiert, der die Verandatür schmückte. Dies war der Eingang für den Mister und die Missus und ihre Gäste. Doch benutzten selbst die Herrschaften diesen Eingang nur, wenn sie ihre guten Kleider trugen, die Missus die Röcke angelegt hatte, die ihre zierliche Hüfte auf ihre dreifache Breite anwachsen ließen. Ein verwaister Schaukelstuhl auf der Veranda vermoderte in der feuchten Luft. Auf der schmucklosen Rückseite gab es einen weiteren Eingang für die Sklaven. Ife war als Kind regelmäßig durch diese Tür gegangen, beladen mit schweren Wäschekörben, die in ihrer Erinnerung so groß waren wie sie selbst, mit Wassereimern für die Küche und für den Hausputz, mit verführerisch rauchigem Speck aus der Vorratskammer, mit einem Krug Melasse oder Rum, kurzum mit allem, worum man ein Kind schicken konnte.

Die Missus hatte sich eine Zeit lang in den Kopf gesetzt, Ife zur Haussklavin heranzuziehen, aber sei es ihr Gang, wenn Ife heimlich Indianerin spielte, sei es das Muskelspiel ihrer immer drahtiger werdenden Arme, irgendetwas hatte am Ende den Mister bewogen, Ife aus dem Haus zu verbannen und zu den Feldgangs zu schicken.

Während das weiße Haus sich totenstill der Welt verschloss, feierten die knallroten Blüten der Drillingsblumen vor dem Haus, umschwirrt von dicken Hummeln und Fliegen, ein Fest des Lebens. Doch bei genauerem Hinsehen waren sie merkwürdig in Reih und Glied gepfercht, standen Spalier hinter einer niedrigen Hecke, die den Hauptweg zum Haus begrenzte. Ife scheute diesen Weg wie die Treppe, derer ihrer Füße nicht würdig waren, aber der Fremde schien genau darauf zuzusteuern. Ife hatte Angst, dass sich plötzlich die Tür unter dem Schnörkelgiebel öffnen könnte und die Gestalt des Mister oder der Missus hinaustreten könnte. Wahrscheinlicher war es, dass die Missus durch die Lamellen der Fensterläden im ersten Stock hinaus in die Welt spähte, während sie ihrem Mann und ihren Sklavinnen gegenüber eine Migräne vorschützte. Ob sie die Welt wahrnahm, wenn sie von ihrem einsamen Reich den Blick ins Grün der Plantage schweifen ließ, konnte man nicht sagen. Vielleicht träumte sie sich auch fort, in eine Heimat, von der sie Ife als Kind oft hatte schwärmen hören, die sich Ife jedoch nie hatte vorstellen können.

Der fremde Mister tat ihnen den Gefallen, nicht in den Hauptweg zum Haus zu einzubiegen, stattdessen näherten sie sich nun dem Wirtschaftskomplex, in dessen Mitte die Siederei und das Lagerhaus zum Trocknen des Zuckers standen. Direkt neben dem Lagerhaus wohnte der Aufseher Pieter, der streng über den Reichtum der Plantage wachte. Einmal mehr stockte Ife das Herz im Hals. Wollte der Fremde sie nun nicht der Gerichtsbarkeit des Misters überantworten, sondern sie gleich dem schlimmsten Folterknecht überlassen?

Umso mehr staunte Ife, als sie die Hütte betraten. Es war ein einfaches Holzhaus, kleiner als die Sklavenunterkünfte, aber solider gebaut. Auf der einen Seite stand ein Tisch, auf dem eine Reihe merkwürdiger Gegenstände lagen, Werkzeuge, die viel zu filigran wirkten, um damit auf dem Feld zu arbeiten oder ein Haus zu errichten. Der Platz unter dem Dach war vollgestellt mit Körben und Kisten, Bücher türmten sich zu einem riesigen Stapel, doch das Seltsamste waren die Gläser, in denen Schlangen reglos im Wasser lagen. Ife hatte das Gefühl, die Hütte eines Schamanen zu betreten. Was hatte dieser hässliche Mann mit ihnen vor? Konnten ihre Winti sie gegen seine unbekannte Magie beschützen?

Der fremde Mister legte Ifes unfreiwillige Gaben auf den Tisch neben die glänzenden Utensilien. Dann zog er ein dickes, ledergebundenes Buch aus dem Stapel hervor. Er blätterte durch die Seiten, auf denen Blätter, Blüten und ganze Pflanzen aufgemalt waren. An den Seitenrändern lehnten sich spitze, handgeschriebene Buchstaben gleichmäßig zur rechten Seite. Ife hatte noch nie ein solches Buch gesehen.

Sie hatte die Missus manchmal in einem Buch lesen sehen. Meistens in einem schweren und in dunkles Leder gebundenen, auf dessen Vorderseite ein goldenes Kreuz prangte. »Die heilige Bibel«, hieß es, in dem es nur eine dichte Folge schnörkeliger Buchstaben, aber keine Bilder gab. Die Bibel, das hatte die Missus ihr erklärt, war die Geschichte von ihrem Gott und seinem Sohn, der in die Welt kam und von den bösen Menschen ermordet wurde. Aber nicht nur das, es war die Geschichte der ganzen Menschheit, wie Gott sie geschaffen und aus dem Paradies vertrieben hatte. Ife hatte sie gefragt, ob es in dem Paradies auch Sklaven gegeben habe. Die Missus war bei der Frage erschrocken. Natürlich konnte es im Paradies, dort, wo es kein Leiden gab, auch keine Sklaven geben. Aber sie musste in dem Moment bemerkt haben, dass es in ihrem Paradies auch keine Neger gab.

Die Missus las nicht nur in ihrer heiligen Bibel, sie liebte auch die Geschichten anderer Menschen, und wenn sie gut gelaunt war, las sie Ife etwas vor. Sie las wahllos die Stelle, an der sie selbst gerade war, ohne zu erklären, was vorher geschehen war. Da gab es die Geschichte eines gewissen Robinson, der alleine auf einer Insel in der Mündung des Orinoko lebte und sich gegen Kannibalen verteidigen musste. Außerdem liebte die Missus die Geschichte eines einfachen Dienstmädchens, das Pamela hieß und in einem englischen Haushalt lebte. Wenn die Missus in dem Buch las, rollten ihr manchmal Tränen über die Wangen. Ife konnte nie verstehen, warum die Missus mit dem Dienstmädchen, das in der Geschichte schlecht behandelt wurde, mitfühlte, schließlich würde sie selbst niemals so leben müssen. Es wunderte Ife noch mehr, dass ein schriftkundiger Engländer sich die Mühe gemacht hatte, diese unbedeutende Geschichte mit so vielen Worten niederzuschreiben.

 

Der Fremde hatte Ifes Pflanzen auf dem Tisch ausgebreitet und verglich sie mit den Bildern in seinem Buch. Ganz so nutzlos konnten sie also nicht sein. Er zupfte ein Blatt von der Mimose und legte es unter eine goldschimmernde Röhre. Dann hielt er sein rechtes Auge an das obere Ende, während er das linke Auge angestrengt zusammenkniff. Seine Hand drehte dabei an einem Rad an der Seite der goldenen Röhre. Beim besten Willen konnte sich Ife nicht vorstellen, was dieser Apparat mit dem Blatt machte. Als der Fremde das Blatt wieder hervorzog, sah es genauso aus wie vorher. Auch er schien mit dem Ergebnis nicht zufrieden zu sein. Er blätterte weiter in seinem Buch und winkte Ife, die ihm ohnehin gebannt über die Schulter schaute, zu sich heran. »Sieht die Blüte ungefähr so aus?« Er zeigte auf ein Bild, auf dem, nicht miteinander verbunden, die zart gefiederten Blätter der Mimose und ihre kugeligen Blüten gemalt waren. Jedenfalls glaubte Ife, dass es sich um eine Mimose handeln sollte.

»Ich glaube ja. Sie hat nicht geblüht, als ich den Zweig gepflückt habe.«

»Aber du hast zuvor schon Mimosen blühen sehen. Und sahen die dann so aus?«

Ife nickte. Sie sahen nicht so aus. Ihre Blüten waren von leuchtendem oder blassem Rosa. Wenn sie von der Mittagshitze müde waren, sahen sie ganz zerzaust aus. Das dort waren nur ein paar Striche auf einem Blatt Papier.

»Ich gehe davon aus, dass es Mimosa pudica ist, die Linnaeus ja schon beschrieben hat. Ich werde gleich vermerken, dass sie auch in Guyana vorkommt.« Er sprach wohl zu sich selbst, aber sein Sklave übersetzte wie ein zuverlässiger Papagei.

»Diese Palme, wie sagst du, nennt ihr sie?«, wandte er sich wieder an Ife.

»Prasara.«

Er zeigte auf ein Bild in seinem Buch. »Ist es die hier?«

Ife fand, dass die Zeichnung noch weniger mit Prasara zu tun hatte, als die vorherige mit der Mimose. Es gab so viele Palmen, wie sollte sie sagen, ob es Prasara war, wenn sie nicht gegen den Stamm klopfen konnte, wenn sie das Rascheln der Blätter nicht hörte, das Grün sich nicht auf der Zunge zergehen lassen konnte? Instinktiv wusste Ife, dass er mit ihrer Antwort nicht zufrieden sein würde, dass sie den Baum im Wald vor sich haben musste. Sie wollte ihn aber zufriedenstellen, also sagte sie einfach: »Ja.«

»Nun, wir werden wohl ihre Blüten in Augenschein nehmen müssen. Kannst du mir ihre Blüte beschreiben?«

»Nein Mister, sie sind wohl recht klein. Wir sammeln wie gesagt alles Mögliche, die Früchte, die Blätter, die Rinde, wir essen auch manchmal ihr Herz, aber mit den Blüten kann niemand etwas anfangen.«

»Gut, du wirst mich dahin führen, wo diese Palme steht, und du wirst mir noch viele andere Dinge zeigen. Quina, sagtest du, hättest du gesucht. Wieso hast du keines mitgebracht? Ist es in dieser Gegend so selten?«

»Wir müssen immer tiefer in den Wald gehen. Es ist, als wollten sich die Bäume vor uns verstecken. Die, deren Rinde wir letztes Jahr geschnitten haben, sind verschwunden. Dabei haben wir immer nur ein Stück von einer Seite genommen, damit der Baum nicht an seiner Verletzung stirbt. Es ist als würden sie sich vor den Plantagen erschrecken, als würde der Anblick des Zuckerrohrs ihnen sagen, dass sie längst nicht mehr im Wald stünden.«

»Wenn es nur gelänge, ihre Sämlinge zu finden und sicher über den Ozean zu bringen …« Der Europäer murmelte mehr vor sich hin, als dass er zu den Anwesenden sprach. »Vielleicht könnten sie in einer Orangerie gedeihen. Die Apotheker würden mir die Quinarinde aus den Händen reißen. Ja, es wäre etwas, was die Leute vom Sinn der Expedition überzeugen würde. Auch wenn sie keine Ahnung haben.«

George übersetzte zwar die Worte des Mannes, doch so recht begreifen wollte Ife nicht.

Coba, die die ganze Zeit über geschwiegen hatte, bedachte ihn mit einem halb missbilligenden, halb erstaunten Blick. »Man kann einen Baum des Waldes nicht verpflanzen, Mister, er kann nur dort wachsen, wo sein Same zu Boden fällt. Der Kräuter und des Zuckerrohrs, derer nimmt sich die fremde Erde an, aber ein Baum will sich von anderen Bäumen umschmeichelt wissen. Aber ich bitte Sie, mir eine Sache zu sagen: Werden die Menschen in Ihrer Heimat nicht vom wechselhaften Fieber gequält?«

»Doch, das Fieber steigt auch in Europa aus manch fauligem Sumpf auf. Aber in den Tropen ist es weit verbreiteter als in den nordischen Lüften. Aber wer es einmal in sich trägt, bringt es mit von seiner Reise. Das Verpflanzen der Bäume lass getrost meine Sache sein, es ist schon anderen, weniger geschickten Botanikern gelungen. Aber ob sie mir den Export von Quina genehmigen würden?« Den letzten Satz sprach er wieder zu sich, warf dann einen sehnsüchtigen Blick hinaus.

»Wir müssen von dieser Plantage weg, sie birgt nur Monotonie und Dummheit. Da draußen liegt ein Reichtum an Pflanzen, der nur auf den ersten Blick unbeschreibbar ist. Wir müssen nun bald die Expedition zusammenstellen. Wir brauchen Indios, die uns über die Flüsse navigieren und uns den Weg durch den Wald weisen. Oder wir brauchen ein paar Mann von diesen Entlaufenen, diesen Buschnegern, die zwar ungebildet sind, aber sich doch in dieser Wildnis nach den Indios am besten auskennen. Wie gerne möchte ich in dieses Gebirge vordringen, diese unglaublichen Plateaus sehen, von denen La Condamine berichtet hat.« Die drei Sklaven standen etwas ratlos um seinen Tisch herum. Wen mochte er nur mit »wir« meinen?

Alle vier harrten eine ganze Weile schweigend aus. Ife schickte hilfesuchende Blicke zu Coba, deren Gesicht jedoch eine geschnitzte Maske war, die keinen Gedanken an die Oberfläche ließ. Coba, bitte erklär mir, was hier los ist, Coba, bitte führe mich an einen Ort, wo wir alleine sein können und ich dir von Adjoa und den anderen Waldleuten erzählen kann. Lass mich dir Adjoas Botschaft verkünden, auf dass ich wieder in diesem Wald verschwinden kann, für immer diesmal, solange immer auch währen mag.

»Wir müssen sie abliefern«, sagte der Mister schließlich zu George. Dann wandte er sich an Coba: »Ich brauche dich heute nicht mehr. Du kannst gehen.«

Nein, schrie Ife innerlich auf, du kannst sie nicht fortschicken, meine einzige Beschützerin, nicht bei dem, was mich erwartet.

Coba sagte nichts, sondern ging ohne einen Blick zurück langsamen Schritts aus der Hütte. Ife war erstaunt, wie sehr ihre Beine über den Boden schleiften. Ob es an dem lag, was sie Coba angetan hatten?

Wieder umklammerte George Ifes Arm, wieder gingen sie auf das weiße Herrenhaus zu, doch diesmal tat ihr der Mister nicht den Gefallen, daran vorbei zu laufen. Stattdessen nahm er die Treppe auf die hölzerne Veranda, die unter den ungewohnten Tritten ein hohes Quietschen von sich gab. Er bedeutete George, mit Ife am Fuß der Treppe zu warten. Ein schwarzes Mädchen öffnete die Tür einen Spalt breit, sah den Rotgesichtigen und winkte ihn ins Haus.