Wrong turn

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2. Kapitel

Im blauschwarzen Himmel stand ein Halbmond. Wie Weihnachtszierrat hing er am höchsten Geäst der Wacholdergruppe. Dreihundert Meter unterhalb und südöstlich davon bahnte sich ein Fluss seinen zerfurchten Weg durch den Fels – Fels, der eine Vielzahl an unterschiedlichen Leben Platz bot und über ein erstaunliches Ökosystem verfügte.

Der Regen hatte sich in jenen feinen Nieselregen verwandelt, den man erst fühlt, wenn man sich mit den Händen durchs Haar fährt und merkt, dass sie feucht sind. Es war kühl, herbstlich kühl, aber der Regen war noch warm von den letzten Wehen eines sehr heißen Sommers.

Max trat von der Gulfire weg und nickte zufrieden. „Ein kleiner Spaziergang bis zur der Anhöhe, dann dreihundert Meter durch eine Schlucht. Können Sie es schon hören?“

Hansen hatte aufgehört, sich zu übergeben und begann sich den Mund abzuwischen. Er horchte in der Ferne. „Stampfen?“

„Kommen Sie?“ fragte Max und ging mit der Umhängetasche einfach los. „Das Ganze erinnert mich an Utah und Arizona. Die Landschaft, meine ich. Das Terraforming hat wirklich ganze Arbeit geleistet. Doch hier und da gibt es Mutationen. Fliegenlarven gehen ein oder bilden sich neu. Pflanzensamen folgen einem chaotischen Code. Sehr komplexes Thema“, fuhr er fort und begann rasch in seiner schnellen Gangart zu gehen. „Aber regelmäßig bekommen wir auch Anfragen von Umweltämtern, ob Forschungen möglich wären. Nur zu gern würde ich sie lassen, aber wenn Banden auf sie aufmerksam werden würden, wäre es vorbei. Schade eigentlich.“

„Müssen Sie die ganze Zeit reden?“ ätzte Hansen schwer und schien Mühe Schritt zu halten. Dann hielt er plötzlich inne. „Moment! Mutationen!? Wovon reden Sie?“

„Wir haben uns den Planet mit Gewalt geholt, Spiro“, erklärte Max und zeigte auf das ausladende Areal vor sich. „Terraforming ist nicht unumstritten. Stellen Sie sich vor, jemand anderes verwandelt sie in einen Elefanten oder in einen Nachttisch. Die Umstrukturierung dauert Jahre, kostet Ressourcen und Geld, aber letztendlich ist es eine Vergewaltigung. Dasselbe haben wir mit dem Mond gemacht, aber dort lebt eh nichts mehr. Den Gesteinsbrocken ist es egal. Ein voller Erfolg – aber hier stemmt sich ein ganzes Ökosystem gegen die aufgezwungene Natur. Es wird dauern, aber die Welt wird Kompromisse eingehen. Daher Mutationen. Und wenn wir nicht aufpassen, werden die Menschen sich hier auch verändern…“

„… oder zur Seite geschoben.“

„Ich sehe, Sie begreifen schnell.“ Er lächelte sanft und atmete tief durch. „Genießen Sie das hier. Irgendwann machen wir den Laden dicht. Das ist unvermeidlich. Sobald wir hinter der Anhöhe sind, werden wir langsam und gemächlich in eine Welt eintauchen, die Sie so noch nie erlebt haben. Zentrale, hören Sie mich?“ Max legte zwei Finger unter sein rechtes Ohr. Ein implantiertes Modul, mit Bioenergie versorgt, meldete sich in der Ohrmuschel mit einem Knacken. „Hier Zentrale, alles gut bei ihnen?“

Hansen sah sprachlos zu, wie Max scheinbar mit sich selbst sprach. „Haltet weiter Kontakt und folgt uns. Wir gehen langsam vor. Geben Sie uns die Zielkoordinaten.“ Er sah Hansen fragenden Blick und deutete gen Himmel. „Die da oben werden uns lotsen. Weichen Sie mir nicht von der Seite, Hansen.“

In seiner Ohrmuschel knackte es erneut. „Roger, Captain. Zielperson lokalisiert. Wetterbedingungen klar und deutlich. Aufkommende Präsenz feindlich, aber abgelenkt. Wünschen viel Erfolg.“

„Roger, Ende und Aus.“

„Wieso habe ich so etwas nicht?“

„Warum sollten Sie?“ fragte Max zurück. „Das Implantat hätte unnötig Zeit und Schmerzen gekostet. Für einen einmaligen Gebrauch? Ich hielt es für unnötig.“ Er ging voraus und kam als Erster an der Schlucht an. „Nun zum Problem: Michel Brown ist umgeben von PureSky-Mitgliedern, die gerade am Feiern sind. Wir stoßen vor, trinken ein Bier, tanzen zum Takt und gehen langsam ins Innere des Baus. Hansen, Sie werden keine Max MacLaine-Nummer abziehen, einverstanden? Wenn wir ihren besten Chemiker entführen, werden sie nicht tatenlos zusehen. Haben wir uns verstanden?“

„Jaja.“

Es dauerte vierzig Minuten, bis die beiden vor sich eine stillgelegte Fabrik erblickten. Atemlos starrten sie zu dem Bau, der durch wenige Lampen und einer Menge Fackeln erhellt war. Vor dem Eingang standen eine Vielzahl von Autos, Motorrädern und Busen zwischen denen einzelne Gestalten im Zwielicht auftauchten. Die Nacht wandelte sich zum Tag, und die Partie war im vollen Gang. Hansen überprüfte seine Waffe zum wiederholten Male und steckte sie sich mit dem Schalldämpfer hinten hinter dem Gürtel, während er den Kopf schräg legte. „Techno, Heavy Metal…Dubstep? Können die sich mal entscheiden?“

Max kicherte leise und ging einen schmalen Pfad voraus ins Tal.

Der Bass wummerte hart. Getränke wurden gereicht und reichlich geraucht und getanzt. Kaum war das Team an dem Zaun zum Eingang angekommen, rochen sie Fäulnis, Schweiß, kochendes Essen, brennenden Holz und den unverwechselbaren Geruch von Marihuana. An einigen verrosteten, halbverfallenen Autos gelangten sie zum Haupteingang.

Drei Männer saßen mit gekreuzten Beinen um ein kleines Lagerfeuer herum und brieten eine Katze, die sie auf einen Schirmstock aufgespießt hatten. Sie waren bis zur Taille nackt, und Brust und Gesicht waren mit etwas beschmiert, das die Farbe von Rost hatte. Das hüftlange Haar wurde von Haarbändern zurückgehalten. Einer von ihnen hatte sich grüne und gelbe Papageienfedern in sein band gesteckt und sah wie ein Indianer mit traurigem Kopfschmuck aus. Ihre Waffen lagen griffbereit neben ihnen, lange, im Schein des Feuers glänzende Messer, handgefertigte Bogen und Köcher mit Pfeilen, die aus Angelruten geschnitzt und deren Spitzen mit langen Nägeln bewehrt waren. An dem Zaun lehnte eine lange Stange. Zuerst hielt Max die Dinger, die von ihr herabbaumelten, für Tierfelle. Dann erkannte er, was sie wirklich waren – menschliche Skalps.

Er bedeutete Hansen sich ruhig zu verhalten und schlenderte gemächlich zu der Gruppe. „Nabend.“

Der Ältere blickte kaum auf. „Hast du dich verlaufen, Fremder?“ Die anderen beiden sahen Max mit gemäßigten Interesse zu, wie er umständlich nach seinen Bitcoins kramte. „Wollen mal sehen, wie die Party steigt. Können wir rein?“

„Von welchem Stamm?“

Lauernde Blicke maßen ihn. Jemand nahm sein Messer zur Hand und schien zu warten.

„Von den Ewoids unten um Fluss. Haben den ganzen Tag Bäume gefällt, sag ich.“ Max rotzte gekonnt in eine Ecke und kratzte sich ungeniert am Sack. Er war plötzlich ein ganz anderer. „Die Sache mit Roy hat uns mitgenommen, Mann. Konnte ihn gut leiden. Spencer, richtig?“

„Er ist Spencer. Ich bin Trevor“, half der Ältere aus und nickte knapp. „Roy hätte besser aufpassen sollen. Verdammte Schande, sage ich.“ Er maß ihm mit einem nicht unfreundlichen Blick. „Die Ewoids sind in Ordnung. Sag Pjotr, dass er mir noch zehn Bitcoins schuldet.“

Max tat genervt. „Himmel, wie oft muss ich das noch hören!? Ständig leiht er sich Geld.“

Alle drei nickten sich zu. Ja, das war Pjotr.

Schließlich nickte der Ältere und wies auf den Eingang. „Na, geht schon rein.“

Eine breite Neonlichtreklame strahlte in kreischend hellen Farben das Wort Lagoony in den Himmel.

„Passender Name. Werden Sie gleich sehen.“

Hansen folgte Max über einen schmalen Weg, der zur Haupthalle führte. Schon jetzt fiel es ihnen schwer sich bei dem Lärm zu verstehen. „Infos, Hansen. Die Hälfte des Erfolgs.“

Die Fabrik war sehr alt. Sie hatte angefangen, alt und überholt zu sein, als die ersten Schiffe den Planeten verließen und war jetzt eine riesige, zugige Halle, die in Aufbau und Aussehen des einfachen Philosophen der Technokraten des neunzehnten Jahrhunderts wiederspiegelten. Auf den gut zehn Meter hohen Pressstanzen hatten sich Schaulustige und Unterhaltungssüchtige versammelt, deren Ränder nur notdürftig mit Paketband abgesperrt waren. Zahllose Discokugel drehten sich synchron und warfen glänzenden Schein an die Wände und an die Gesichter von rund sechshundert Personen, die tanzten, grölten, tranken oder sich prügelten. Je nach Laune. Max atmete tief den Gestank der Dekadenz und des ungezügelten Lotterlebens ein und grinste Hansen zu.

Vorne auf einer Schwebebühne sorgten Boxen für Lärm, während drei Gitarristen sich anstrengten, der Party den passenden Sound zu liefern. Vor ihnen eine nackte Frau, die ungezügelt mit einem Mikrofon Strophen sang, als hinge ihr Leben davon ab. Was wohl stimmte. Der Menge gefiel es.

Nach nicht mal zehn Sekunden hatte Max begriffen, worum es den PureSkys in erster Linie ging: Lärm, Sex und reichlich Bier.

Er setzte sich an die Bar und legte einen Bitcoin hin. Der Wirt, ein Riese mit zwei gelben Augen, die wie Urinlöcher im Schnee anmuteten, reichte zwei Dosen und putzte weiter seine Gläser.

Max, kahlköpfig, weiß und mit breitem Bizeps wurde schnell akzeptiert. Verhärmte Gesichter maßen ihn mit freundlichen Blick. Ohne zu fragen stellte der Wirt eine zusätzliche Schale Erdnüsse vor ihnen hin.

Hansen hingegen entsprach nicht ganz dem Credo dieses Vereins. Nach dem dritten Anrempeln von der Seite hatte er genug, und stellte sich den Leuten, die ihn offensichtlich nicht hier haben wollten. Ein lautes Wortgefecht, kurzes Geschrei und ein demonstratives Zeigen seiner Waffe – schon hatte er seine Ruhe. Erstmals.

Max hatte dafür keinen Blick.

Neben ihm kam es zum Streit: zwei betrunkene Kerle schlugen und traten auf sich ein und gaben sich Schimpfworte - bis der Erste ein Messer zog.

Plötzlich ging das Licht aus.

 

Murren von allen Seiten, jemand schrie etwas, bis ein Lichtkegel die Bühne aufleuchten ließ. Die Band war verschwunden. Jetzt stand dort eine Frau.

Es wurde still.

In einem roten Bademantel bekleidet blickte die dralle Schönheit mit dem feuerrotem Haar zu den Massen und hob das Mikrofon an ihre Lippen. Max runzelte die Stirn und beugte sich vor.

„Willkommen im Lagoony“, gurrte sie kokett und begann mit der anderen Hand an dem Kabel zu spielen. „Wir möchten kurz innehalten und uns daran erinnern, was unsere Gründerväter mit auf dem Weg gegeben haben. Ich sehe in jedes einzelne Gesicht und erkenne Güte, Stärke und… Reinheit. Auf euch, meine Freunde.“ Sie stolzierte los und von der Seite schoben kräftige Männerhände ein Klavier auf die Bühne, an dem sich schnell ein Pianist setzte. Das Klavier war nicht gestimmt, aber das spielte keine Rolle: die Frau traf jeden Ton perfekt und ihre hohe Falsettstimme sang tönend und voll.

The snow glows white on the mountain tonight

Not a footprint to be seen

A kingdom of isolation

And it looks like I'm the queen

The wind is howling like this swirling storm inside

Couldn't keep it in, heaven knows I've tried

Don't let them in, don't let them see

Be the good girl you always have to be

Conceal, don't feel, don't let them know

Well, now they know

Mit allem hatte Max gerechnet – nur nicht damit. Langsam ließ er sein Bier sinken und starrte wie getroffen zu der Frau, die sich schamlos aus einem bekannten Musical bediente. Den anderen Männern und Frauen schienen es ähnlich zu gehen: gaffende Blicke, schmachtend und voller Ehrfurcht, starrten sie alle gebahnt zu der reizenden Schönheit, die sich langsam auszuziehen begann.

Eine Peepshow.

Max Snow schluckte schwer und spürte, wie er rot wurde. Vergessen war der Auftrag, die ganze Vorsicht und seine militärische Laufbahn. Jetzt gab es nur sie und ihre Stimme.

Neben ihm steckte der Kerl sein Messer wieder ein und vergaß anscheinend seinen Kontrahenten, der sich mit einem Ärmel die Nase putzte.

Mitten im Song verlagerte sich das Stück vier Ganztonschritte höher, und ihr Gesang wechselte ohne Mühe vom Englischen ins Russische, dann ins Japanische und ins Französische. Die Meute seufzte nickend und ergeben. Max konnte es ihnen nicht verdenken. „Hey“, stupste er den Wirt an. „Wer ist das?“

„Culdoras“, sagte der Riese und zwinkerte ihm kurz zu. „Roxanne. Vergiss es, Alterchen. Die ist für niemanden zu haben.“

„Machen wir jetzt weiter, oder was!“ herrschte Hansen ungerührt und zog ihn zur Seite. „Was ist jetzt!?“

„Jaja“, murmelte Max, setzte sich aber wieder. „Keine Eile.“

Die Fabrik zitterte vor ekstatischem Applaudieren, als Roxanne Culdoras endete. Culdoras, dachte Max versonnen, das bedeutet Hintertür. Wie backdoor. Wenn das kein Zeichen ist…

Er lächelte entspannt, als die Sängerin gleich mit dem nächsten Lied begann.

Sie sang von Sternen, die noch in aller Ewigkeit schienen, von Liebenden die sich niemals entfremdeten und von der Sehnsucht, die manch altes Herz ergriff. Max glaubte ihr jedes Wort.

Es war der Moment, an dem er sich noch später gern erinnerte: selbst die Kriminellen um ihn herum lauschten den Worten der Sirene, die sie alle in den Untergang führen würde. Er begriff aus einzelnen Gesprächsfetzen, dass sie die Menge führte und den Ton angab – sprichwörtlich. In einen Untergang, in den sich auch selbst Captain Max Snow bald wiederfinden würde.

Als er sich nach dem dritten Lied kurz umdrehte, war Hansen verschwunden.

Spiro Hansen näherte sich vorsichtig dem Keller der Fabrik, bereit loszuschlagen. Er umrundete geschickt die erste Wache, die sich zu einer Bedienung vorbeugte, um sich ihre Nummer geben zu lassen und tauchte in die Dunkelheit ab. Langsam verzog er sich in die Schatten, passierte einen Kontrollpunkt, indem er vorgab einen Kasten Bier für den Wirt zu suchen und stand schließlich vor der Tür des Drogenlabors. Dass es die besagte Tür war, wusste er, weil jemand freundlicherweise mit krakeliger Handschrift es draufgeschrieben hatte. Aus dem Inneren drangen dumpfe Geräusche, die sich wie ein Gespräch anhörten.

Schnell huschte er hinein und stand bald in einem Wald aus Zylindern, Bechergläsern, Reaktionsgefäßen, Erlenmeyerkolben, Pulvertrichtern und Laborwaagen. An den Wänden stapelten sich Kisten und Kästen, große Bottiche und ein Kühlschrank, vor dem, dem Rücken ihm zugewandt, ein Mann hockte. Als hätte er das Brennen von Hansens Blick in seinen Nacken gespürt, drehte er sich plötzlich um.

Er hatte ein großes, breitflächiges Gesicht und kaum Haare. Offensichtlich lebte er in besseren Verhältnissen als die anderen, denn er war nicht halb so abgezehrt und schmutzig wie sie. Mit einem halboffenen Laborkittel bekleidet, unter dem man fleckige Unterwäsche und Badeschlappen erkennen konnte, wirkte der unrasierte Mann wie die Karikatur eines Laboranten. „Kumpel, mach doch bitte die Tür zu, ja?“ Er schnappte sich ein Bier und schien in Geberlaune zu sein. Mit einem Lächeln reichte er Hansen eins.

Michel Brown.

Hansen grinste zurück, griff nach dem Bier und wollte gerade auf ihn zugehen, als ihn ein harter Schlag traf und ein heftiger Schmerz durch seine Schulter jagte.

Der Hieb ließ ihn in die Knie gehen, aber brach nicht zusammen. So hart war er nun doch nicht gewesen. Langsam und mit verzehrten Gesicht drehte er sich herum.

Vor ihm stand ein großer Kerl mit einem Kopf wie eine Billardkugel, der direkt auf dem Rumpf zu sitzen schien und von einer schwarzen Matte bedeckt war. In seinen Augen lag ein stumpfsinniger Ausdruck, und seine dicken Lippen zuckten ununterbrochen. Er hielt eine große Metallstange in der Hand, mit der er herausfordernd in seine andere Hand klatschte. Platsch. Platsch.

„Wie bist du hereingekommen?“ fragte der Riese.

Brown schien nicht zufrieden. „Mensch, Charlie, kein Wunder, das ich keine Freunde habe. Lass den Mann doch in Ruhe.“

Hansen bewegte seine Schulter und versuchte, den Schmerz zu ignorieren. „Durch die Tür“, antwortete er gehorsam.

Der große Mann wandte sich an Michel Brown, wobei er seinen ganzen Körper herumdrehte, als wäre es ihm aufgrund des fehlenden Nackens unmöglich, allein den Kopf zu bewegen. „Was zum Teufel macht der Kerl hier, Michel?“

Brown gab sich unbeeindruckt. „Muss wohl reingeschlüpft sein.“

Der Mann mit der Stange schüttelte den Kopf, worauf sein ganzer Körper zu wackeln begann. „Roxanne will nicht, dass du den Raum verlässt. Das schließt Besuch mit ein, hörst du?“

„Jetzt gib dich nicht so wichtig, Charlie. Ich brauche auch mal Luft zum Atmen. Hier“, er griff zu einem Becher, zog eine gerollte Zigarette hervor und steckte sie dem Riesen in den Mund. „Geht aufs Haus, Mann. Und jetzt lass ihn in Ruhe!“

Ohne eine Antwort abzuwarten, schnappte er sich Hansens Arm und führte ihn weg, rund um den Labortisch zu seinem fleckigen Sofa auf dem eine nackte Frau schlief. „Wolltest mal ein bisschen checken, was wir so machen, was?“ fragte er nicht unfreundlich und hielt ihm ein Feuerzeug hin. „Kann ich verstehen, Mann. Sind doch alle gleich. Ist kein Geheimnis. Jeder will ein bisschen Glück. Ich sitze schon seit Monaten hier unten. Scheint die Sonne? Ist gerade Vollmond? Ich weiß es nicht“, stöhnte er leise und setzte sich neben ihm. „Bin VIP-Gast. Drauf geschissen, sag ich. Ständig nur Arbeit, Arbeit, Arbeit. Urlaub wäre schön.“

Hansen starrte benommen auf sein Bier und seinen Joint und legte sie beide zur Seite. „Aber es gab auch mal andere Zeiten, was?“

„Kannste laut sagen“, grunzte Brown und zündete sich seinen Joint an, den er sich von irgendwoher geschnappt hatte. Erst jetzt bemerkte Hansen überall Teller, Kästen und Wannen in denen Dosen, Pakete und kleinere Tütchen offen herumlagen.

Hansen war kein Fachmann, aber er erkannte ein Drogenlabor wen er eins sah. Designerdrogen sind synthetisch hergestellte Rauschmittel, deren Molekülstruktur auf der Basis von Leitstrukturen entworfen wurde, mit der Absicht, ein Rauschmittel herzustellen. Und in dem Keller lagerten Millionen von Credits, mit denen man auf der Erde eine Großstadtszene versorgen konnte. Doch wegen einer kleinen Traumreise ins Lala-Land war er nicht hier.

„Möchte gerne wissen, wie es früher war.“

Brown stieß einen perfekten Rauchkringel aus. „War früher ein verdammt guter Laborant. Die steilen Miezen an der Uni haben mich geliebt. Ich bekam Preise. Verdammt gute Noten“, säuselte er bereits in andere Sphären und deutete mit einem obszönen Zeichen in Richtung des Riesen, der sich immer noch nicht wegbewegt hatte. „Charlie sehe ich jeden Tag. Kanns ihm nicht verübeln, dass er neidisch ist. Der ist doch zu blöd, um einen Erlenmeyerkolben von einer Tischlampe zu unterscheiden.“ Er kicherte leise.

Der Riese funkelte ihn böse an und ließ erneut seine Keule in die Hand klatschen. „Herumlungern gibt es hier nicht! Was ist mit den Aufträgen...?“

Brown zeigte auf verschiedene Ecken des Raums: „Die Samstaglieferung steht dort, die Montagslieferung steht dort und dort hinten ist die Toilette, die du saubermachen kannst.“

„Michel, ich warne dich!“

„Nein, ich warne dich, mein Freund“, bellte Brown und stieß sich selbst den Finger auf die Brust. „Wenn du weg bist, sucht Roxanne einfach einen anderen Abiturabrecher, der Muskeln statt Hirn hat. Davon gibt es hier reichlich. Aber wenn ich weg bin… tja, dann sieht es zappenduster aus, mein Freund.“ Hässlich lachte er den Riesen aus, bis es Charlie zu dumm war und lieber wieder verschwand.

„Den sind wir los!“ Er nahm einen großzügigen Schluck und prostete Hansen zu. „Sag mal, was geht den draußen ab?“

„Gute Party“, meinte Hansen leise. „Du kommst aus London, wie?“

Brown hob eine Braue. „Hört man das immer noch heraus? Ich dachte, ich wär ihn los.“

„Du stammst aus Croydon.“

Brown zögerte beim Trinken und blinzelte.

Hansen sah ihn äußerlich ruhig an.

„Was wird das hier?“ fragte er lauernd.

„Das stimmt doch, oder?“

„Wer bist du?“

„Du bist Michel Brown.“

„Wer bist du?“

Hansen schluckte hart und verengte die Augen zu Schlitzen. „Donnerstag, den 26. Mai 2067. Na, klingelt es da?“

Die Fackel der Erkenntnis glomm schwach in Browns Gehirn, der Weg war versperrt durch Selbsttäuschung, Verleumdung und dem Missbrauch von Drogen.

Hansen wartete geduldig ab.

Dann …

Brown schluckte und rollte wild mit den Augen und suchte verzweifelt nach einer Erklärung. „Bin ich nicht gewesen.“

Die Hand schoss vor und umpackte Browns Genick.

„Lass mich!“ Schützend hielt Brown die Arme vors Gesicht und rollte sich gleichzeitig flink vom Sofa. Die umgestoßene Dose Bier lief über den Boden, während Hansen sich über den Laboranten aufbaute.

Die Tür ging auf. „Marsch, zurück auf deinen Platz“, brüllte der Riese, während Brown auf allen Vieren unter dem Labortisch kroch. Hansen war schneller.

Der Revolver bewegte sich wie von selbst in Spiros Hand, während er seitlich stehend anlegte und in einer einzigen fließenden Bewegung einen Schuss abgab. Mochte Charlie Muskeln und den Drang zum Verletzen haben – eine Kugel im Kopf änderte daran alles.

Nur ein sanftes Plopp war zu vernehmen gewesen.

Der massige Körper stürzte nach hinten und riss dabei ein ganzes Regal mit Gläsern und Kolben nach unten. Vom Lärm wurde die Frau auf dem Sofa wach.

Und schrie.

Von dem Moment ging alles schief.

Max war nervös.

Sein instinktives Unbehagen steigerte sich ins Bodenlose; so hatte er sich zuletzt bei der Theoretischen Prüfung gefüllt und die lag Jahre zurück. Das hier war eine Nummer schmerzhafter, gruseliger, denn tief in seinem Inneren wusste er, wenn er scheiterte, würde er die Sonne nie mehr so sehen wie bislang. Sie würde nur ein Gasplanet sein.

Das ist doch verrückt, dachte er genervt und blickte zerknirscht zu Boden. Du bist ein hochdekorierter Mann mit tadellosen Lebenslauf. Er konnte einen Hubschrauber fliegen, seine Steuererklärung selbst machen und hatte sogar einmal bei einer Geburt ausgeholfen.

Das ist alles falsch.

 

Die Hände zitterten.

Wie betäubt klopfte er an die Tür.

„Herein.“

Die Abstellkammer war nicht der Rede wert, aber wegen den Räumlichkeiten war er auch nicht gekommen. Vor dem einzigen Spiegel stand sie – hochaufgerichtet und stolz, während sie mit einem Lippenstift die Lippen nachzog. Fragend blickte sie ihn an.

Er stockte kurz. Was sollte er sagen?

„Was macht ein schöner Ort an einer Frau wie diesen?“

Nein.

Er blinzelte, lächelte dümmlich und grinste dann schief.

Sie blickte ihn vom dem Spiegel aus an und zog eine einzelne Braue nach oben. „Versuch es nochmal, Casanova. Oder besser: raus aus meinem Zimmer!“

„Ähm… ich wollte nicht unhöflich sein…“

„Wo ist Charlie?“

„Kenn ich nicht.“ Er räusperte sich kurz. „Ich muss mich entschuldigen…“

„Musst du?“ Fragend drehte sie sich um und maß ihn aufmerksam. „Was denn? Keine Blumen!? Der Typ vor dir hat mir seine Maxe geschenkt.“

„Du singst toll.“

„Weiß ich selbst.“ Sie bedachte ihn mit einem spöttelnden Blick und machte eine leichte Wegwerfbewegung, als wäre sie es müde mit Typen wie ihn zu reden. Es traf ihn.

Also…

…setzte er alles auf eine Karte:

„Ich bin niemand, der gerne flirtet. Mir fallen keine schönen Redewendungen ein, noch bin ich auf ein kurzes Abenteuer aus. Eine schöne Frau kennenzulernen ist eine Sache, aber ich glaube nicht an eine kurze Romanze oder an die wahre Liebe. Ich bin ein Mann der Zahlen, der Fakten. Bezaubert hat mich deine Stimme, deine Art zu singen… nicht dein äußeres Erscheinen. Ich bin kein Narr.“ Er hielt ihren konzentrierten Blick nicht länger aus und blickte zu seinen Stiefeln. „Aber ich weiß, wer so singt, der kann kein schlechter Mensch sein.“

Stille.

Langsam senkte sie den Lippenstift, beobachtete ihn aufmerksam. „Du sagst, du glaubst nicht an die Liebe. Wie sollte eine Partnerschaft sonst aussehen?“

„Sie wird zementiert durch Freundschaft. Nicht durch ein Gefühl.“

„Ich glaube nicht an Freundschaften zwischen Männern und Frauen.“

„Das tut mir leid. Ich wünsche dir daher neue Erfahrungen.“ Er kratzte sich umständlich am Kopf. „Wir könnten kaum unterschiedlicher sein, aber eine Gewissheit teilen wir: nämlich, dass wir unterschiedliche Wege gehen müssen.“

Sie machte ein sonderbares Gesicht, als wäre sie sich nicht sicher, was er eigentlich wollte.

„Bitte?“

„Ich sage nicht auf Wiedersehen, denn das wäre gelogen. Goodbye.“

Sie starrte ihn an, während seine Hand krampfhaft versuchte den Türknauf zu drehen. Wieso ging sie nicht schnell auf und entließ ihn aus diesem Drama?

Er rüttelte fester.

Doch zu spät…

… langsam kam sie näher.

„Willst du mir nicht deinen Namen sagen?“

„Hab ich… das nicht...?“

„Für gewöhnlich tut man das“, berichtigte sie ihn und stand auf. Groß, größer als er. Das merkte er erst jetzt.

„Ähm…. Ja, Max. Max heiße ich.“

„Also Max. Schön, Max. Ich heiße Roxanne.“

Und hielt ihm die Hand hin.

Wie betäubt griff er danach.

„Nur die Ruhe, Max.“ Endlich lächelte sie, halb amüsiert über seine Versuche und spielte kokett mit eine ihrer Locken. „Mir scheint, du bist keiner dieser erbärmlichen Kriminellen. Oder etwa doch?“

„Ganz erbärmlich, sogar.“

Grüne Augen.

Fasziniert sah er sie an: rote Haare, grüne Augen… und der Rest war auch weit über den Durchschnitt.

„Wirklich.“ Ihr Lächeln wuchs in die Breite. „Du bist keiner von meinen Leuten, oder? Nein, so jemand wäre mir vorher aufgefallen. Lass dich mal anschauen.“ Ihre manikürten Finger fuhren über seinen Adamsapfel. „Seltsam“, bemerkte sie leise, „dass du sauber bist.“

„Ich mache mich immer frisch, wenn ich ausgehe“, sagte er lächelnd.

„Wie recht du hast. So sollte es sein.“ Sie schnupperte, und kam näher.

Kurz vor seinem Hals verharrte sie. „Gut riechst du, Max. So gepflegt und erholt.“ Sie blickte ihn von der Seite aus an. „Wo kommst du wirklich her?“

Max spürte, dass es eng wurde. Gut, genug der Romantik. Langsam ging er auf Distanz.

„Du, ich muss dann los…“

Plötzlich war da die Waffe. Ihr Lauf zielte auf seinen Hals. Zu nahe, viel zu nahe.

Langsam verkrampfte er sich.

Das gefiel ihr.

„Magst du es grob, Max?“ Ihre Stimme wurde um eine Oktave tiefer. Ein seltsamer Glanz ging von ihren Augen aus, als hätte sie einen Schalter umgelegt. Das war nicht mehr die verführerische Sängerin vor ihm. „Ob Mann oder Frau – ich mache es so, wie es mir gefällt.“

Er lächelte hart. „Ist es schräg, dass ich dich noch besser kennenlernen will?“

Sie lachte und ließ plötzlich ab. Maß ihn mit einem amüsierten Blick. „Witzig.“

Jetzt roch er sie auch. Süß. Schwerer Duft.

Schließlich nickte sie und deutete zur Tür. „Nun geh. Ich habe noch zu tun“, befahl sie.

An ihrem Blick erkannte er, dass sie keinen Widerspruch duldete.

Kaum war die Tür hinter ihm zu, musste er verschnaufen.

Captain Max Snow, weit über vierzig Jahre alt und Leiter einer streng geheimen Abteilung eines privaten Sicherheitsunternehmens, hatte sich wie ein pubertierender Trottel vor seinem ersten Tanz aufgeführt. Erbärmlich.

Zwei HellsAngels kamen vorbei und zählten eins und eins zusammen – und grinsten wissend.

Max kam sich dämlich vor.

„Mach dir nichts draus“, höhnte einer von ihnen, „La Muerte lässt jeden abblitzen.“

Er nickte verstehend und wandte sich um. Natürlich hatten sie recht. Hoffentlich bekam das niemand in der Kommandobasis mit – den drohenden Tratsch hinter seinem Rücken würde er nicht ertragen können.

La Muerte.

Langsam machte es Klick in seinem Verstand.

Sofort suchte er einen stillen Ort auf und drückte an seinem rechten Ohr, um Kontakt herzustellen. „Smith?“

„Boss?“ Preston Smiths Stimme klang besorgt. „Was geht da unten vor?“ wollte er wissen.

Max schluckte hart. „Was… meinst du?“

„Wir haben schon sieben Ausfälle. Genau unter dir. Das ist Hansen, was?“ Sieben. „Er hat jetzt Michel Brown. Du solltest schleunigst verschwinden!“

Sieben Leben.

„Wie meinst du das…Oh, verdammt!“ Max wartete nicht lange, sondern schob sich durch die Menge und versucht bloß nicht aufzufallen. Wummernde Techno-Musik begleiteten seine dunkelsten Gedanken, während er sich seinen Weg bahnte. Zügig umrundete er die den Tanzplatz und war schon halb draußen, als ein Alarmsignal ertönte. Sofort endete die Musik und Rufe wurden laut. Dringende, sehr bedrohliche Rufe.

Sofort änderte er die Richtung und huschte in einen Gang, dessen Treppe zum Dach des Gebäudes führte. Abstand gewinnen. Überblick verschaffen. Das war jetzt wichtig. Während er die Treppe nahm, rannten unter ihm die Menschen.

Er verspürte keine Lust sich erklären zu müssen.

Hanson, dachte er bitter. Du hast dir wirklich einen Arschtritt verdient!

Oben angekommen, bemerkte er eine Wache auf dem Dach, die aber gottlob am anderen Ende des Daches stand und angestrengt in die Ferne blickte. Hinter einem Schornstein kauerte er sich in dem Schatten und nahm Kontakt auf: „Was ist passiert? Die Kurzfassung!“ Seine Stimme klang gepresst.

Smith sprach deutlich und langsam, als wolle er den Zorn seines Chefs teilen: „Der Mistkerl hat wie wild um sich geschossen und ist mit Brown in die nähere Siedlung. Beide fliehen in nordwestlicher Richtung. Ich sehe auf dem Wärmebild, dass man sie schon entdeckt hat. Drei Fahrzeuge nähern sich schnell. Sollen wir abbrechen?“

Max schloss kurz die Augen. Fassungslos. „Dieser Arsch! Nein“, entgegnete er schroff. „Halt eine Gulfire bereit. Er rennt in die falsche Richtung! Gott, das wird ihm noch leidtun.“ Ich hätte ihm seine Waffe abnehmen sollen, dachte er verbittert. Doch dafür war es zu spät.

Ein Schuss knallte hinter ihm. Max unterbrach das Gespräch und wandte sich vorsichtig um. Die Wache hatte jetzt auch die Flüchtenden entdeckt und eröffnete mit einem Jagdgewehr das Feuer.

Geduckt schlich er über das Dach und kurz vor dem Mann nahm er Anlauf.

Die Wache schien ihn zu spüren, drehte sich herum und legte an, als Max schon bei ihm war und mit einer schnellen Rechts-Links-Kombination ihn außer Gefecht setzte.