Wie Kinder sprechen lernen

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»Erziehung« kommt später

Das Kleinkind braucht die eine Person, bei der es Zuversicht und Trost findet, zu der es flüchten kann. Es kann aber von Anfang an mehr als eine Bindungsperson verkraften, wenn diese regelmäßig verfügbar sind. Sie müssen ihm die Treue halten, so wie es ihnen die Treue hält. Aus diesem Urvertrauen heraus kann sich ein Kind seelisch-geistig gesund und störungsfrei entwickeln. Das Kind, das immer wieder diesen Trost und Rückhalt findet und nicht zu oft darum betteln muß, hat alle Chancen, weitere Bindungen zu anderen Personen aufzunehmen und seine Intelligenzen zu entwickeln. In diesem Sinne kann man ein Kind im ersten Lebensjahr überhaupt nicht verwöhnen. Hier gibt es kein Zuviel an Bemutterung. Später wohl!

Ein Wolfswelpe hat eine Schonfrist von ca. acht Wochen, in denen er sich so gut wie alles erlauben kann, bis die Aufsicht ziemlich unvermittelt von der Mutter an das Rudel übergeht, das ihn zurechtstutzt: Die Sozialisierungsphase (8.–12. Woche) hat begonnen.1 So kommen auch beim Kind Verbote erst später, wenn es Sprache verstehen, mitdenken und in Ansätzen vernünftig sein kann. Der weinende Säugling aber ist in Not. Vielleicht braucht er nur die Anwesenheitsbestätigung seiner Mutter. Aber er braucht sie, wenn sich nicht die Angst des Verlassenseins einstellen soll. Die Mutter ist für ihren Säugling nicht anwesend, wenn sie ruhig im Nebenzimmer sitzen bleibt. Diese Vorstellung von Anwesenheit ist ihm noch nicht möglich. Er muß erst lernen, daß die Mutter noch da ist, auch wenn sie außer Sichtweite ist, genauso wie er erst langsam begreift, daß es den Ball noch gibt, wenn er unter den Schrank gerollt ist (im Fachjargon: der Säugling hat noch keine Vorstellung von der Objekt-PermanenzObjekt-Permanenz und Person-PermanenzPerson-Permanenz). Wie einsam kann er in seinem schicken Kinderzimmer sein, wenn ihn die Eltern, oft von den besten Absichten geleitet, dort kräftig schreien lassen! Erklärt wird die extreme seelische Verwundbarkeit des Säuglings mit der Tatsache, daß der Mensch im Vergleich mit verwandten Säugetieren zu früh auf die Welt kommt. Er braucht dann noch eine Zeitlang den sozialen Uterus der Familie, um möglichst vollkommene Geborgenheit zu erfahren. Die Schonfrist muß allerdings langsam auslaufen, schon weil das Kind immer beweglicher und selbständiger wird und damit auch in Gefahren kommt, vor denen es nachdrücklich – vielleicht auch mal mit einem leichten Klaps – gewarnt werden muß.

Es ist aber ein unsinniger Gedanke, ein Säugling könne es darauf anlegen, seine Eltern zu tyrannisieren. Man muß das Kind nicht dazu erziehen, allein bleiben zu können und es in die Unabhängigkeit drängen. Das in emotionaler Geborgenheit aufwachsende Kind lernt das von selbst, ergreift selbst die Initiative. So macht es sich auf dem Spielplatz selbst los von der Mutter, braucht aber noch ihre Nähe und läuft in regelmäßigen Abständen zu ihr zurück.

Typisch auch die Begebenheit, die die Eltern ScupinScupin, Ernst und Gertrud von ihrem dreijährigen Bubi berichten:

Drollig ist des Knaben Verhalten dem kleinen Schwein gegenüber, er fürchtet sich wohl etwas vor ihm, besonders, wenn es ihn mit dem Rüssel betastet und täppisch-wild auf ihn zugaloppiert kommt; das Tier läuft oft auf der Wiese vor dem Hause frei herum. Mutig wird Bubi erst dann, wenn ein Erwachsener in der Nähe ist. Fühlt er sich durch uns im Rücken gesichert, so tritt er beinahe energisch einen Schritt vor und schilt nun auf das Schweinchen: Du unartses Schweindel, gehste hier weg, Du, ich hau Dich, Du bist so smutzig, alter Nuck! Macht nun aber das Tier eine plötzliche Bewegung nach ihm hin, so verschwindet Bubi eiligst hinter uns.2

Die Keckheit ist schon da, macht sich verbal Luft, bedarf aber noch der Rückversicherung und bricht zusammen, wenn sich die Situation anders entwickelt als erwartet.

Was immer die Eltern tun, das Kind gestaltet seine Entwicklung aktiv mit. Schon der Embryo schafft sich weitgehend seine Entwicklungsbedingungen selbst. Er bildet die Plazenta, stellt damit die zur Fortführung der Schwangerschaft notwendigen Hormone her und löst hormonell den Geburtsvorgang aus, nicht die Mutter. Dabei zeigen Neugeborene bereits große individuelle Unterschiede. Sie kommen nicht als unbeschriebene Blätter zur Welt. Einige wechseln abrupt vom Schlafen zum Schreien, sind anfangs durch nichts zu beruhigen. Andere sind viel pflegeleichter, verlangen den Eltern viel weniger Kraft ab, sind in dieser Zeit viel liebenswerter. Einige sind schon in den ersten Wochen aufmerksamer als andere und verstärken so die Aufmerksamkeit, die ihnen die Eltern entgegenbringen. Es entstehen Wechselbeziehungen, die sowohl auf den individuellen Eigenschaften des Kindes wie der Eltern aufbauen. D.h. auch, daß Eltern nicht nur erziehen, sondern umgekehrt auch erzogen werden. Eltern, die von dem jeweils »schwierigeren« Kind genau das erwarten, was das Geschwisterkind freiwillig zu geben bereit war, lernen um. Menschen unterscheiden sich auf allen Altersstufen stark – von Anfang an.

Geborgenheit befreit

Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit.

(Astrid LindgrenLindgren, Astrid)

Beobachten Sie Ihr Kind, wie es spontan und ohne Anleitung seine Welt auskundschaftet, wenn es sich behütet weiß. Der niederländische Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Nico TinbergenTinbergen, Nico erzählt, wie ein einjähriger Junge über eine Sanddüne kriecht: Tante und Großmutter sind in Sichtweite. Auf der Sanddüne wachsen Wegerich, vereinzelt auch Disteln. Nachdem er schon über einzelne Wegerichpflanzen hinweggekrochen ist, ohne ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, stößt er mit dem nackten Füßchen an eine Distel. Er zuckt leicht zusammen, kriecht aber erst etwas weiter, hält dann an und schaut zurück. Probierend fährt er mit dem Fuß noch einmal über die Distel, um sie sich schließlich genau anzuschauen. Er berührt sie mit der Hand und macht dann, was Tinbergen »das perfekte Kontrollexperiment« nennt: kriecht zu einem Wegerich, fährt ebenfalls mit dem Händchen darüber und prüft die Distel jetzt noch einmal. Erst danach setzt er seine Reise über die Düne fort.1

Eines Morgens erklärte uns Gisa, sie gehe nun auf Besuch, und machte, ungebeten, ihre Runde bei den Nachbarsfrauen, egal, ob es da Spielgenossen gab oder nicht. Geborgenheit befreit. Wer sich im Schutz der Familie aufgehoben weiß, ist schneller selbständig und bereit, es mit der Welt aufzunehmen und Erfahrungen zu sammeln. Eine Gruppe von Babys im Alter von sechs bis vierzehn Wochen wurde beim freien Spiel in der Gegenwart ihrer Mütter beobachtet. Dabei wurde festgehalten, wie oft und wie lange sie jeweils den Blickkontakt mit ihrer Mutter suchten. Es gab »Viel-Schauer«, die also immer wieder die BindungBindung, personale B. zur Mutter suchten und fanden, »Wenig-Schauer« und »Blickvermeider«. Dieselben Kinder wurden zwei Jahre später noch einmal gefilmt, wie sie sich an einem neuen, dafür extra konstruierten Spielzeug zu schaffen machten, an dem es viel auszuprobieren gab. Bei den Viel-Schauern, die schon früh und intensiv Bindung gesucht und gefunden hatten, war die Bereitschaft, den neuen Gegenstand zu begucken, zu betasten und auszukundschaften – mit anderen Worten: die Lernbereitschaft – am stärksten ausgeprägt! Das Kleinkind muss zwei Bedürfnisse, die miteinander in Widerstreit geraten können, austarieren: das Bedürfnis nach Sicherheit and das Verlangen, Neues zu unternehmen und hinzuzulernen.

Freuen Sie sich also, wenn Ihr Krabbelkind alle Schubladen ausräumt, an die es herankommt. Es folgt einem Lerntrieb, durch den es später auch die Sprache meistern wird. Und es wagt sich nur an das Unbekannte heran, weil es sich bei Ihnen behütet fühlt, weil es ihm momentan gut geht. Ist es hungrig, müde, ängstlich oder gar krank, dann sucht es Trost und klammert sich an die Mutter. Das ExplorierenExplorieren – und damit das Lernen – hört schlagartig auf. Hier zeigen sich schon früh Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Mädchen waren gegenüber neuen Spielsachen zurückhaltender, Jungen erkundeten länger, wagten sich weiter weg, riskierten einfach mehr, weinten aber auch häufiger und heftiger, wenn etwas schiefging und ihre Sicherheit zusammenbrach.2

»Der sich entwickelnde Mensch braucht nicht motiviert zu werden«, schreibt Leo Montada, Mitherausgeber des führenden Lehrbuchs zur Entwicklungspsychologie, »seine Erkenntnismöglichkeiten drängen nach Erprobung und Anwendung. Ein Kleinkind, das gerade werfen gelernt hat, wirft, was immer ihm in die Hände kommt.«

Nur Menschen ist es zugedacht, diesen Zauber des Anfangs durch die Zeit zu retten – bis ins Alter hinein.

Was Babys uns lehren

Kinder brauchen die Nestwärme einer beständigen Kleingruppe. Zu dieser Nestwärme gehört die Vertrautheit, die durch fortwährende Kommunikation von der Stunde der Geburt an entsteht und in die – zunächst nur auf Seiten der Eltern – Sprache untrennbar verwoben ist.

Der Bettelmönch und Geschichtsschreiber Salimbene von ParmaSalimbene von Parma berichtet über ein Experiment seines Kaisers, des Hohenstaufen Friedrich II.Friedrich II (der Staufer):

Und deshalb befahl er den Ammen und Pflegerinnen, sie sollten den Kindern Milch geben, daß sie an den Brüsten saugen möchten, sie baden und waschen, aber in keiner Weise mit ihnen schön tun und zu ihnen sprechen. Er wollte nämlich erforschen, ob sie die hebräische Sprache sprächen, als die älteste, oder griechisch oder latein oder arabisch, oder aber die Sprache ihrer Eltern, die sie geboren hatten. Aber er mühte sich vergebens, weil die Knaben und (andern) Kinder alle starben. Denn sie vermöchten nicht zu leben ohne das Händepatschen und das fröhliche Gesichterschneiden und die Koseworte ihrer Ammen und Näherinnen.Salimbene von Parma1

 

Der Mensch lebt eben nicht von Brot allein. Die auf kaiserliches Geheiß gewiß gut umsorgten Babys starben, wie Salimbene wohl richtig vermutet, weil es ihnen an liebevollem Zuspruch fehlte. Seelische Leiden – so wissen wir heute – können das Immunsystem schwächen, und auf diese Weise könnten die Kinder für allerlei Infektionen anfällig geworden sein. So zeigen uns die Kleinkinder, was wir auch später noch brauchen, wenn wir an Körper und Psyche gesund bleiben wollen. Wir brauchen Beständigkeit. Häufiger Wechsel kann uns auf die Dauer nicht zufriedenstellen. Wir brauchen einige wenige, aber echte Freunde. In der Not sorgen wir für sie und sie für uns. Unmittelbarer Ausdruck solcher Freundschaft und Fürsorge ist – ähnlich wie beim Baby – der Körperkontakt: Händedruck und Umarmungen, aus Freude oder um zu trösten. Erst die Geborgenheit der Kleingruppe macht weitere wechselnde Kontakte, die auch der geistigen Erneuerung dienen, lohnend und sinnvoll.

Nach BowlbyBowlby, John, dem Londoner Kinderarzt und Senior der Bindungsforschung, sind enge BindungenBindung, personale B. an andere Menschen der Angelpunkt unseres Lebens bis ins Greisenalter.2 Aus ihnen gewinnen wir die Stärke, das Leben zu meistern und zu genießen.

Harry und Margaret HarlowHarlow, Harry und Margaret unterscheiden fünf Arten von Liebe bei Affen und Menschen: die Liebe der Mutter zum Kind (1), die Anhänglichkeit des Kindes an die Mutter (2), die Zuneigung des Vaters zum Kind (3) und umgekehrt (4), und, nicht zu vergessen, die Freundschaft der Geschwister und Spielkumpane untereinander (5). Fehlt in der Kindheit eine von ihnen, so ist mit Entwicklungsstörungen zu rechnen.3

Später ermöglichen diese frühen Liebeserfahrungen auch die geschlechtliche Liebe.4 In kulturvergleichendenKulturvergleich Untersuchungen hat sich herausgestellt, daß es vor allem auf die Responsivität der Mutter ankommt.5 Wenn wir geliebt werden, halten wir uns auch für wert, geliebt zu werden. Daraus fließt unser Selbstwertgefühl und die Sicherheit, die uns befähigt, die Welt zu erkunden.

TrotzenTrotz ist natürlich

Verena holt ihre Tochter bei der Tagesmutter ab. Statt wie immer freudig auf sie zuzulaufen, blickt sie kurz auf, sagt »nein« (eines ihrer ersten Wörter) und wendet sich wieder ihrer Beschäftigung zu. Nein – aus heiterem Himmel. Das schmerzt, braucht es aber nicht. Die 14 Monate alte Olivia ist einfach dabei, ihren eigenen Willen zu entdecken und probiert ihn aus: sie will eben jetzt noch nicht abgeholt werden. In diesem Alter beginnt das Kind sehr deutlich Wut und Ärger zu äußern, wenn es etwas nicht soll oder nicht bekommt, was es haben will. Aber Verbote müssen sein, und Regeln müssen eingehalten werden. Sie werden umso wichtiger, je selbständiger das Kind in die Welt ausgreifen und sich auch selbst in Gefahr bringen kann. Ziel jeder Erziehung muß sein, die Einhaltung von Regeln und Verboten einsichtig zu machen. Die folgenden Episoden vom 16 Monate alten Bubi zeigen, wie Sprache hier mitwirkt:

Er hat eine besondere Vorliebe für Nippessachen, Blumentöpfe und Aquariengläser und versucht trotz vieler Verbote immer wieder danach zu greifen. Doch bewies er schon sehr niedlich, daß er das Verbot begriffen hat, indem er beim Vorbeigehen an den verbotenen Gegenständen die Hände fest an sein Kleid legte, den Kopf schüttelte und »nein, nein!« sagte, wobei er uns so recht verständig und brav ansah.

Heute kratzte er die Mutter und schüttelte, als sie ihn zürnend ansah, schnell den Kopf und sagte: »Nein, nein!« Als wolle er dadurch seine Missetat zurücknehmen.

Wird der Knabe wegen einer Unart gescholten, versucht er recht schlau unsere Aufmerksamkeit von sich abzulenken, indem er plötzlich auf etwas zeigt: »Da, tickta. Da, bau!«

Hat man den Jungen durch einen leichten Schlag auf die Finger oder ein unfreundliches Wort oder durch Wegnahme eines als Spielzeug erwählten Gegenstandes beleidigt, so steht er erst mürrisch da, auf alle Fragen antwortet er nur finster: »nein!« Dann ignoriert er unsere Anwesenheit vollständig, tut, als wären wir Luft und beginnt allein für sich zu spielen; begegnen sich zufällig unsere Blicke mit denen des Knaben, so dreht er uns sofort den Rücken zu: »Nein!«1

Die Blickvermeidung ist typisch. Hat er das Schmollen jemandem abgeguckt? Die Trotzszenen, die sich im dritten Lebensjahr häufen, sind wohl nur Kehrseite eines stärker werdenden Ichbewußtseins des Kindes, das sich aus der sicherheitsspendenden Einheit mit der Mutter gelöst hat. Wenn man weiß, was hier vor sich geht, wird man mehr Geduld und Gelassenheit aufbringen. Das Kind kann jetzt auch seinen eigenen Willen klar artikulieren: »Will aber« oder »Will nich« usw. Es weiß, was es will, und sieht sich durch die Eltern klar gehindert. Unterschwellig mag es sich dagegen wehren wollen, daß es gegen die Eltern einfach nicht ankann und ihnen auch sprachlich noch weit unterlegen ist, so daß es sich mit ihnen auf keinen Wortstreit einlassen kann. Also greift es zu anderen Mitteln. So mag man den Wutausbrüchen, so unangenehm sie sind, auch etwas Positives abgewinnen. Jedenfalls waren in Hildegard HetzersHetzer, Hildegard Beratungsstelle weit überdurchschnittlich viele jener Kinder, die sich später als unselbständig erwiesen und ständig an die Hilfe der Erwachsenen appellierten, solche, die sich nie in einer den Eltern erinnerlichen Weise trotzig gezeigt hatten.2

Hören wir den Stoßseufzer einer genervten Mutter, die uns mitteilt, was sich während einer Wanderung in den Pyrenäen abspielt (zugleich ein schönes Beispiel dafür, wie beim Grammatiklernen Satzmuster ausgereizt werden):


Ici, c'est »veux pas!« en vacances dans les Pyrénées…
Hier herrscht das »will nicht!« In den Pyrenäen, in den Ferien, heißt es: Will nicht die Berge Will nicht laufen Will nicht in den Kinderwagen Will nicht den See Will nicht die Kühe Will nicht auf Papas Schultern Will nicht Mama Will nicht die Blumen Will nicht »Wie schön die Landschaft ist«.
Okay, das ist ja nur eine Minute der Wanderung als Beispiel, oder?
Nein, so geht’s den ganzen Tag und leider nicht nur in den Pyrenäen.

Das Kind wird von den eigenen Affekten überwältigt und ist keinem Zuspruch zugänglich. Nachgeben wäre in den meisten Fällen falsch, noch törichter aber, den »Trotz« brechen zu wollen. Das Beste: sich mit Gelassenheit wappnen, dem eigenen Ärger so wenig wie möglich Raum geben und den Anfall vorübergehen lassen. Später, wenn die Erregung abgeklungen ist, sagen: »Ich hab dich trotzdem lieb«. Denn ganz bewußt wollen Kinder jetzt auch »lieb« sein. Sie buhlen um die Gunst der Erwachsenen. Das ist nach HansenHansen, Wilhelm die Kompensation der Trotzphase:

Die Bewegtheit des Gefühlslebens während dieser Zeit zeigt sich auch in einem erhöhten Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes. Es sucht die Mutter mehr als sonst, will sie beim Zubettbringen lange bei sich behalten, schmiegt sich an und möchte liebgehalten werden.3

Die schönste Trotzgeschichte, die uns erzählt wurde, leistete sich die dreijährige Jana. Sie beschloß nach einem Verweis durch die Mutter auszuziehen. Sie schulterte ihren Rucksack, in den sie sich eine Flasche Sprudel gepackt hatte, ließ sich aber dann schon auf der Einfahrt des Nachbarhauses nieder, wo sie allen, die es wissen wollten oder nicht, erzählte, daß sie ausziehe. Nach einer guten Stunde kam die Mutter auf sie zu und fragte sie, ob sie nicht doch zurückkommen wolle. Sie fühle sich sehr allein im Haus. Na gut, erklärte Jana und ging heim.

Der Witz dabei ist, daß die Mutter dem Kind nicht das Unvernünftige seines Tuns klarmacht und damit sein Selbstwertgefühl schwächt, sondern dies sogar stärkt, indem sie auf ihre eigene Abhängigkeit hinweist. Die gefühlsmäßige Abhängigkeit von ihrem Kind ist ja ebenso real wie die emotionale und physische Abhängigkeit des Kindes von ihr.

Nicht immer gelingt es Eltern, so gelassen zu reagieren; viel weniger noch, so phantasievoll wie in der folgenden Begebenheit, die Bernt von HeiselerHeiseler, Bernt von aus seiner Kindheit erzählt:

Es war ein allverneinender Geist in mich gefahren, wie er ja nicht nur Kinder zuzeiten quält. Nichts war mir recht zu machen, ich widersetzte mich jedem freundschaftlichen Vorschlag zu einem Spiel oder Spaziergang. Das ging so lange, bis meine Mutter mich aufhorchen machte mit der Bemerkung, sie könne mich nicht mehr deutlich sehen, und den Vater herbeirief. Schon durch seine Anwesenheit – der tagsüber in seinem Arbeitszimmer verborgen blieb und nur bei besonderem Anlaß sichtbar wurde – war die Situation verändert, aber noch war der Widergeist nicht bezwungen. Auf die väterlich ernste Frage, ob ich jetzt anständig sein wollte, gab ich wieder das Nein zur Antwort.

Kannst du ihn noch sehen? fragte die Mutter. Hm. Undeutlich nur, sagte der Vater. Wer immer nur Nein sagt, der wird zuletzt selber zum Nein, man kann ihn nicht mehr von der Luft unterscheiden; ich fürchte, bald wird er ganz verschwunden sein und wir finden ihn nicht mehr.

Nein, es ist nicht wahr, nein! rief ich mit Grauen. Sein Kopf und die Arme sind schon nur noch ein Schatten, sagte mein Vater mitleidig. Bernt, hörte ich meine Mutter laut, wie von weither, rufen. Willst du nicht lieber mit mir spazieren gehen? Ich schrie Ja, ja! und war für diesmal geheilt.4

Aus Berechnung haben Supermärkte die Süßigkeiten an der Kasse platziert, an der jeder vorbei muß. Da riskieren Eltern ungern einen Aufstand der Kleinen und gewähren ihnen, was sie sonst verweigern würden. Ein Fehler, weil das Kind lernt, gerade auf diese unangenehme Weise seinen Willen zu bekommen. Warum aber diese gefürchteten Überreaktionen von Kindern, die doch gut versorgt werden? Das Kind läuft rot an, bebt am ganzen Körper, schreit wie am Spieß, tobt, schlägt um sich, ist ganz offensichtlich außer sich, nicht Herr seiner selbst. Hier wird ein uraltes Verhaltensprogramm aktiv – so die Evolutionsbiologen. Die Drängler und Brüller, die am kräftigsten Alarm schlugen, hatten bei einem großen Wurf die besten Chancen, gefüttert zu werden und durchzukommen. Selbst bei Einzelkindern tritt dieses Verhalten auf: Wen haben nicht die Fernsehbilder beeindruckt, in denen eine von ihrem futterbettelnden Kind genervte Pinguinmutter schließlich davonläuft und von dem flügelschlagenden Kleinen durch die ganze Kolonie verfolgt wird? Übrigens haben Jungen (im Allgemeinen) ein wenig mehr Trotzanfälle als Mädchen.5 Sie verschwinden in dem Maße, wie das Kind mehr Verständnis für die Forderungen der Erwachsenen gewinnt, Situationen besser einschätzen kann und selbständiger wird. Aber Schmollen und Grollen können wir ein Leben lang.

Mein meistgesprochenes Wort als Kind war »nein«,

Ich war kein einwandfreies Mutterglück.

Und denke ich an jene Zeit zurück:

Ich möchte nicht mein Kind gewesen sein. (Mascha Kaléko)