Wie Kinder sprechen lernen

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Es beginnt im Mutterleib

Der Mensch ist also als ein horchendes, merkendes Geschöpf zur Sprache natürlich gebildet.

(Johann Gottfried HerderHerder, Johann Gottfried)

Warum es »Muttersprache« heißt

Das Abenteuer des Hörens, Zuhörens und Hinhörens beginnt drei Monate vor der Geburt. Damit setzt auch das Abenteuer Sprache ein, lange bevor das Kind auf die Welt kommt, den Mund auftut und zu babbeln anfängt.

Mit sechs bis sieben Monaten ist der Menschenkeimling in der Lage, auf Laute zu reagieren. Zu diesem Zeitpunkt ist das Innenohr in seiner Grundstruktur angelegt. Ultraschallaufnahmen konnten zeigen, daß das Ungeborene auf akustische Reize hin mit einem Lidschlag reagiert. Was es hört, ist vor allem die Stimme seiner Mutter, die es einmal über das Mitschwingen des Knochenskeletts vernimmt, zum anderen – abgeschwächt, wie auch die Stimme des Vaters und aller anderen – über die Bauchdecke und die Flüssigkeitsleitung des Fruchtwassers.

Entspinnt sich bereits hier der intime DialogDialog zwischen Mutter und Kind, wie wir ihn nach der Geburt miterleben können? Oder ist diese Kommunikation nicht doch nur ein passives Vernehmen? Das Ungeborene kann zwar nicht verstehbar antworten, aber es lauscht, nimmt Anteil an der Stimme der Mutter, merkt sie sich, prägt sie sich ein. Sie ist im Uterus deutlich präsent, wenn sie auch im Fruchtwasser anders klingen muß als draußen, wo sich die Schallwellen im Medium der Luft ausbreiten.

Gewiß, die Wortinhalte bleiben verborgen. So gesehen, sagt die Mutter dem Ungeborenen nichts. Doch darf man spekulieren, daß sich ihm über die Stimme, ihre Rhythmen, Klangfarben und Kadenzen sehr wohl etwas mitteilt: Erregung oder Ruhe, Sanftmut oder Anspannung, Festigkeit oder Zweifel, Gefühlswärme und Liebe, aber auch Ärger und Zorn. StimmeStimme, das ist eben Stimmung und Gestimmtsein, der Spiegel der Seele. Stimme, Sprache und Gefühl sind eins. Ob das Ungeborene auch spürt, wenn sich die Mutter ganz ihm zuwendet, ihm ein Liedchen singt, nur ihm? Warum nicht? Jedenfalls wissen wir, daß es den Klang der mütterlichen Stimme geradezu erforscht. Es entziffert nicht nur die einzigartige Klangschrift der mütterlichen Stimme, sondern auch die ihrer Sprache. Denn Neugeborene können Äußerungen in der Muttersprache von solchen in einer unvertrauten, fremden Sprache unterscheiden. Vier Tage alte französische Babys zeigten eine deutliche Vorliebe für Französisch im Vergleich zum Russischen, auch wenn es nicht die Mutter selbst ist, die spricht. Zwei Monate alte amerikanische Babys reagierten positiv auf Englisch im Gegensatz zur Fremdsprache Italienisch. Zwischen zwei fremden Sprachen, die beide Gruppen von Babys nicht kannten, machten sie hingegen keinen Unterschied. So reagierten die französischen Babys gleichermaßen teilnahmslos, ob ihnen nun englische oder italienische Texte vorgespielt wurden. Den amerikanischen Babys wiederum war es egal, ob sie französische oder russische Texte zu hören bekamen.1

Die Lebenswelt des Säuglings wird erforscht

Woher weiß man heute, daß das Neugeborene an schon Vorhandenes anknüpft und sich an etwas erinnert, das noch vor der Geburt liegt; daß es so etwas wie Gedächtnis hat? Wie kann man ein Neugeborenes darüber ausfragen? Wie kann man es überlisten, uns seine Geheimnisse zu verraten?

Fortschritte in der Wissenschaft verdanken wir nicht nur neuen Theorien. Manchmal sind es einfach neue Untersuchungstechniken, die Ideen findiger Bastler, die weiterführen. Neugeborene können noch nicht »Ja« oder »Nein« antworten, aber sie verfügen über andere Signale, die man zu Antworten umfunktionieren kann. Sie können schon ansatzweise eine Schallquelle orten, können schon ihre Augen wandern lassen, bevor sie richtig den Kopf drehen, sie können etwas länger oder kürzer anschauen. Vor allem können sie saugen und verändern ihren Saugrhythmus (wie wir das wohl auch tun würden), wenn sie plötzlich etwas stört oder ihnen etwas auffällt. Diese Leistungen machen sich die Forscher zunutze. Wir fragen: Was schauen sie sich bevorzugt an? Wem oder was hören sie interessiert zu? Welche Veränderungen in ihrem Gesichtsfeld nehmen sie wahr? Wodurch lassen sie sich überraschen? Was langweilt sie? Vielen Experimenten mit Säuglingen liegt das Schema »HabituierungHabituierung/Gewöhnung – Dishabituierung/Unterbrechung« zugrunde. Der Säugling wird an ein Reizmuster gewöhnt, er wird darauf eingestimmt, sagen wir auf eine lange Folge von deutsch »papa papa papa …«. Dann wird das Reizmuster an einem Punkt verändert: Dasselbe deutsche »papa« wird jetzt nach französischer Manier auf der zweiten Silbe betont. Reagiert er nun, fällt ihm der Wechsel des Wortakzents auf? Bei der SaugfrequenzmethodeSaugfrequenzmethode (engl. high amplitude sucking) verfährt man wie folgt: Dem Baby wird während des Nuckelns ein Seh- oder Hörreiz dargeboten. Nach einer Weile nuckelt das Baby still vor sich hin, d.h. es hat sich an den Reiz gewöhnt, das Interesse scheint verflogen. Dann wird die Reizvorlage in einem Detail verändert. Wenn nun die Neugier des Babys erneut entfacht wird, es also wieder länger hinschaut oder wieder heftiger saugt, hat es die vorgenommene Veränderung entdeckt. Ein anderer Test funktioniert so: Die Babys bekommen einen Schnuller, der mit einem Tonbandgerät verbunden ist. Je nachdem, ob sie schnell oder langsam saugen, wechselt das Gerät von einem Hörprogramm auf ein anderes. Diesen Zusammenhang bekommen sie schnell heraus. Sie merken, daß sie mit einer bestimmten Art zu nuckeln ein bestimmtes Hörerlebnis gewissermaßen anwählen können. Was wird häufiger »herbeigesaugt«? Oder welches Reizmuster wird durch Drehen des Kopfes nach links oder rechts häufiger angeschaut? (PräferenzmethodePräferenzmethode)

Solche und davon abgeleitete Techniken haben u.a. gezeigt: Neugeborene zogen die Stimme ihrer Mutter anderen Frauenstimmen vor. Auch die Stimme des Vaters ließ sie kalt. Selbst dann, wenn die Väter bei der Geburt dabei waren und zwei Tage lang ausgiebig die Gelegenheit genutzt hatten, zu ihren Babys zu sprechen. Erst nach einigen Wochen zogen sie auch die väterliche Stimme fremden Männerstimmen vor.

Offensichtlich lernen die Kinder schon vor der Geburt nicht nur die mütterliche Stimme, sondern auch den Klang ihrer Sprache kennen. Den interessantesten Beweis dafür lieferte ein Experiment, in dem die Mütter angehalten wurden, in den letzten sechseinhalb Wochen ihrer Schwangerschaft ihren Ungeborenen zweimal am Tag ein bestimmtes Kindergedicht vorzulesen. Nach der Geburt wählten die Babys dieses Gedicht viel häufiger als jedes andere von der Mutter später auf Band gesprochene. Ein ähnliches Experiment wurde mit zwei Liedchen wiederholt. Neugeborene wollten das Liedchen hören, das ihnen durch tägliches Vorsingen zwei Wochen vor der Geburt schon vertraut war.1

Heute haben sich die pränatale (= vorgeburtliche) und perinatale (= um die Geburt herum) Medizin und Psychologie zu einem eigenen Forschungsgebiet entwickelt. Man hat das Schallmilieu der Gebärmutter mit akustischen Sonden erkundet, dazu physikalische Experimente über die Weiterleitung des Schalls durch das Knochengerüst durchgeführt sowie Frühgeborene beobachtet. Wenn letztere schon auf Schallreize reagieren, dürften auch Ungeborene gleichen Alters hörfähig sein.

Was genau haben die angeführten amerikanischen und französischen Babys an ihren Muttersprachen erkannt? In Bezug auf die Lautung unterscheiden sich Sprachen

 nach ihrem Lautinventar

 nach den Kombinationsmöglichkeiten dieser Laute (der PhonotaktikPhonotaktik)

 nach den lautübergreifenden Merkmalen von Melodie (Intonation/Tonhöhenverlauf) und Rhythmus.

Nun kann man Hörtexte so manipulieren, daß der einer Sprache eigene charakteristische Rhythmus erhalten bleibt, aber nicht deren Intonation. So weiß man heute, daß Babys jedenfalls den Sprachrhythmus wieder erkennen, auch ohne die Intonation. Die Forschung geht weiter!2

Fest steht: Neugeborene sind keine bloßen Reflexbündel.

 Sie unterscheiden die Stimme der Mutter von anderen Stimmen.

 Sie unterscheiden die Sprache der Mutter von anderen Sprachen.

 Sie unterscheiden Texte, die ihnen während der Schwangerschaft vorgelesen wurden, von anderen Texten.

So wundert es nicht, dass schon die ersten Schreimuster Melodiebögen zeigen, die für die jeweiligen Muttersprachen typisch sind. Auf sie können die später folgenden Lautproduktionen aufbauen. Das Neugeborene hat das vorgeburtliche Erlebnis der Stimme, Sprache und Texte seiner Mutter aufbewahrt. Sein Gedächtnis hört mit. Dies bildet sich also schon vor der Geburt und bindet das Baby an die Mutter.

Gedächtnis aber ist die Grundlage jeder Lernfähigkeit. Alles, was uns begegnet, beziehen wir auf Bekanntes, vergleichen wir mit Erinnertem. Jedes Lernen ist ein Hinzulernen. Auch das Lernen von Sprache baut auf frühen Voraussetzungen auf. Sprache wird nicht aufgepfropft, sobald die ersten Wörter erscheinen; sie wird schon vor der Geburt angebahnt, vom Vernehmen. Vom Vernehmen aber kommt uns die Vernunft, das Wort selbst und das, was es meint.

Stimmungen: Das Ungeborene hört mit

Das Innenohr, die Hörschnecke, ist mit dem Vestibularapparat und seinen Bogengängen verbunden, die uns Raumlageveränderungen rückmelden. Gleichzeitig sind diese Bogengänge sensible Rezeptoren für Rhythmik und Schwingungen, so daß wohl rhythmische Sprachelemente auch mit Hilfe dieses Vestibularapparates analysiert werden. Bei Menschen mit schwersten Behinderungen sind vestibuläre Anregungen (Schüttelbett, beschallte Wasserbetten) Entwicklungsanstöße dafür, den eigenen Körper in seiner Gesamtheit zu erfahren, sich selber aufzurichten (Auseinandersetzung mit der Schwerkraft), und ein Anreiz zum Hören und zur Sprachentwicklung.1

 

So kann die Mutter durchaus schon einmal mit dem kleinen Wesen in ihrem Leib Zwiesprache halten oder ein Liedchen anstimmen. Die im Takt mitschwingenden Körperbewegungen gehören unmittelbar dazu und helfen, die Reizzufuhr zu gliedern.

Zudem steht das Ungeborene physiologisch in engster Verbindung zur Mutter. Es spürt ihre Stimmungsschwankungen nicht nur über die StimmeStimme, sondern auch über die Veränderungen im Hormonspiegel. Die mütterliche Wärme hält auch das Kind warm. Ihr Blutzucker versorgt das Blut des Fötus. Was sie ißt, trinkt und einatmet, gelangt in irgendeiner Form auch in den Körper des Kindes. Wenn sie raucht und trinkt, gibt sie Nikotin und Alkohol auch an das Kind weiter. Müßten nicht die Mütter mit ihrer Leibesfrucht seelisch ebenso innig verschmolzen sein, wie sie es körperlich sind? Eine Mutter berichtet:

Ein einziges Mal in zwanzig Jahren als Lehrerin habe ich mich zu einer Ohrfeige hinreißen lassen. Das Kind hatte mich dermaßen gereizt, und die Hand ist mir ausgerutscht. Danach war ich so erschrocken, daß mir das passieren konnte. Ich war damals schwanger. Noch am Nachmittag spürte ich, wie auch mein Kind erschrocken war. Nie zuvor und nie danach hat es so in meinem Leib rumort.

Medizinisch gesprochen: Die Streßhormone, die ihr Körper ausgeschüttet hat, sind auch in den kindlichen Blutkreislauf gelangt.

So spüren wir auch ohne gelehrte Untersuchungen, daß es für Mutter und Kind gleichermaßen sinnvoll ist, wenn sich die Mutter immer wieder Momente der Ruhe gönnt, in denen sie sich dem Kind nahe fühlt, in ihren Gedanken Raum schafft für das ungeborene Leben und ihre Gelöstheit und Heiterkeit an ihr Kind weitergeben kann. Momente, in denen sie sich vielleicht heller und heiterer Musik hingibt, etwa den Verspieltheiten und Arabesken der Violinkonzerte von MozartMozart, Wolfgang Amadeus. Momente, in denen sie ihr Kind teilhaben läßt am Wohlklang und Rhythmus ihrer Stimme und Sprache.

Wer sich bewußt ist, daß sein Kind stets mithört, hat guten Grund, Streit zu vermeiden. Die Härte und der schneidende Tonfall kränken den Partner. Könnten sie nicht auch das Ungeborene krankmachen? Die Mutter kann nicht einfach die Tür zum Kinderzimmer zumachen und eine Meinungsverschiedenheit mit ihrem Partner ausfechten. Zwar ist man unter vier Augen, doch sechs Ohren sind dabei.

Ursympathie und die Gunst der Stunde

Das Menschenbaby kommt im Vergleich zu Säugetieren etwa 12 Monate zu früh auf die Welt. Da verwundert es nicht, daß es noch lange auf engste Verbindung mit der Mutter angewiesen ist. Was aber verwundert, ist, daß die Medizin – gewiß in den besten Absichten – so unbekümmert in die natürlichen Abläufe eingegriffen und diese Verbindung erst einmal unterbrochen hat. Denn es ist noch nicht lange her, da wurde in den Geburtskliniken der Mutter das Baby unmittelbar nach der Entbindung kurz gezeigt und dann für Stunden weggenommen.

Aus der Verhaltensforschung wissen wir aber, daß in bestimmten Fällen die Zeit unmittelbar nach der Geburt ungeheuer wichtig ist, um das Junge auf die Mutter und die Mutter auf das Junge zu prägen. Das Mutterschaf leckt sein Junges unmittelbar nach der Geburt ab, nimmt dabei seinen Geruch auf und erkennt es daran wieder. Bei vielen Säugern hängt die mütterliche Brutpflege davon ab, ob sofort ein Kontakt mit den Jungen erfolgt. Wenn nicht, erwacht auch die Mutterliebe nicht; das Junge wird verstoßen oder getötet. Die Erforschung des PrägungsvorgangsPrägung verdanken wir Konrad LorenzLorenz, Konrad, der seine Entdeckung machte, als er ein frisch geschlüpftes Gänschen mal eben unter der Hausgans hervorholte, um es näher zu betrachten. Das Gössel gab Laut, er antwortete, und es war passiert: Für dieses Küken war er hinfort die Mutter, der es immer folgen würde, unwiderruflich.

Solche Unumkehrbarkeit gibt es jedoch bei dem auf Freiheit angelegten Menschen nicht. Die Mutter-Kind-Beziehung entsteht nicht durch einen einmaligen Akt der Prägung, sondern in häufigen, intensiven und ungestörten Kontakten, frühen wie späteren. Richtig ist aber, daß die meisten Babys in der Stunde nach der Geburt wach und aufnahmebereit bleiben. Sollte das Zufall sein?

Viele Mütter erleben ein überwältigendes Glücksgefühl, wenn sie ihr Baby gleich nach der Geburt in dessen erster Lebensstunde in ihren Armen halten, in seine offenen Augen schauen und mit ihm eine erste Zwiesprache führen können. Jede Bewegung des Babys, vor allem auch jeder Blick, ist für Mütter in dieser Stimmung ein mit innerem Jubel empfangenes Geschenk,

schreibt Bernard HassensteinHassenstein, Bernard.1 Wahrscheinlich ist das Kontaktbedürfnis des Neugeborenen in seiner ersten Stunde ebenso stark. Schon hier beeinflussen sich Mutter und Kind wechselseitig und lernen voneinander, sind Lehrer und Schüler zugleich.

Alle Sinne sind beteiligt, auch der – von den Menschen zumeist unterbewertete – GeruchssinnGeruchssinn, der sich ebenfalls schon im Mutterleib ausgeformt hat. Babys bevorzugen schon nach wenigen Tagen den Lappen, den die Mutter nach dem Stillen an ihre Brust legt, gegenüber anderen Stilleinlagen. Umgekehrt konnten auch Eltern das Hemdchen ihres Babys durch Riechen wiedererkennen. Und wenn die Mutter mit ihrem Säugling während der ersten halben Stunde seines Lebens zusammen war, konnte sie ihn sechs Stunden später am Geruch identifizieren.2 In den siebziger Jahren haben amerikanische Ärzte das Verhalten von Müttern untersucht, die mit ihrem Baby ausgiebigen Erstkontakt hatten, und sie mit solchen Müttern verglichen, die ihr Baby nur kurz sehen durften, wie es der damaligen Routine auf manchen Entbindungsstationen entsprach. Diese Studien gaben den entscheidenden Anstoß zu einer neuen Praxis der Geburtskliniken, dem Rooming-in, das gewiß den natürlichen Bedürfnissen von Mutter und Kind besser entspricht. Das gleiche gilt für das Stillen. Gestillte Säuglinge nehmen den vertrauten Muttergeruch ungleich stärker wahr als Flaschenkinder.

Allerdings sind allein an eine Stunde gelungenen Kontakts direkt nach der Geburt keine Langzeiteffekte zu knüpfen. Menschliches Leben ist zu sehr auf Lernen und stetiges Erfahren angelegt, als daß ein punktuelles Ereignis für immer Weichen zu stellen vermag. Wir dürfen also nicht dramatisieren. Das Menschenbaby wird nicht wie das Lorenzsche Gössel bei der Geburt reflexhaft ein für allemal auf seine leibliche Mutter geprägt. Wiewohl immer deutlicher wird, daß die leibliche Mutter schon aufgrund der vorgeburtlichen Beziehung die besten Voraussetzungen für eine enge Bindung mitbringt, ist diese mit der Geburt nicht automatisch gegeben. Sie muß erst erarbeitet werden. Damit besteht auch die Chance, daß andere Personen einspringen können. Allerdings wird zwischen dem 7. bis 12. Monat die Beziehung zu den wenigen, ausgesuchten Bezugspersonen so eng, daß sie ganz individuell wird und nicht mehr ohne Belastungen auswechselbar ist.

Nunmehr bestätigt uns auch die Neurobiologie, allerdings bisher nur im Tierexperiment, daß mütterliche Wärme sich auch langfristig auf den Seelenhaushalt des Kindes auswirken kann. Umsorgte Rattenkinder erwiesen sich als viel resistenter gegen Streß als vernachlässigte Altersgenossen, und mehr noch: die von der Mutter erworbene StreßresistenzStreßresistenz – deren molekularen Grundlagen man auf der Spur ist – schlug sich später auch im Verhalten gegenüber dem eigenen Nachwuchs nieder. Die Nachhaltigkeit früher Erfahrungen wird durch Veränderungen am Baby-Erbgut erklärt.3

Mutterliebe könnte also weit ins Leben hineinreichen, aber selbst der frühe Tod der Eltern hat nicht zwangsläufig einen durchschlagenden Effekt auf die spätere Persönlichkeitsentwicklung. Kinder können selbst solche Katastrophen letztlich unbeschadet überstehen und in eine liebevolle Adoptivfamilie hineinwachsen. Die beliebte Gleichung: Unglückliche Kindheit = verpfuschtes Leben stimmt so nicht. Auch nicht die umgekehrte Gleichung: glückliche Kinder = emotional stabile Erwachsene. Es ist alles viel komplizierter – und wäre auch aus evolutionärer Sicht wenig sinnvoll, wenn frühe Erfahrungen, negative wie positive, den Menschen lebenslang festlegen würden. Eine Langzeitstudie ergab, daß sich ein Drittel von den rund 200 als Hochrisikokinder Eingestuften später in der Tat negativ entwickelten, straffällig wurden usw. Ein weiteres Drittel konnte zwischen 20 und 35 Jahren wieder Tritt fassen. Das restliche Drittel nahm offensichtlich keinerlei Schaden. Die Forscher tippen auf Veranlagung, denn schon als Kleinkinder wurden sie als freundlich-gutmütig beurteilt. Außerdem gelang es ihnen, eine vertrauensvolle Beziehung zu mindestens einer Bezugsperson außerhalb ihres problematischen Umfelds (Nachbarin, Lehrer, Großvater, Tante…) aufzubauen und sie konnten schon früh Verantwortung für sich und andere übernehmen. Für sie war die Schule eher ein Zufluchtsort. Der Fachausdruck für solche Widerstandsfähigkeit und Belastbarkeit ist ResilienzResilienz.4

Am Anfang des Lebens steht die sympathische BindungBindung, personale B. zwischen Mutter und Kind, die Quelle jener Liebesfähigkeit, die beim Menschen ein ganzes Leben sprudeln kann. Je mehr von dieser mitgegebenen Sympathie wirksam werden kann, umso besser können sich Baby und Betreuungspersonen zusammenfinden. Mit ihnen akzeptiert der Säugling auch ihre Sprache, ja sogar mehr als eine Sprache, wenn Vater und Mutter verschiedene Sprachen sprechen.

Spracherwerb als Gemeinschaftsarbeit

Du, ich, wir und die anderen

Das Kind wächst in das Verstehen der Sprachgemeinschaft hinein und beginnt sich darin selbst zu verstehen.

(Friedrich Georg JüngerJünger, Friedrich Georg)

Sprache im Gesamt der Entwicklung

Die vorgeburtlichen Errungenschaften, so erstaunlich sie sein mögen, aber auch die Fortschritte im ersten Jahr sind noch Vorarbeit. Denn Sprache setzt erst einmal Erfahrung von Welt voraus, bevor sie schließlich zum mächtigsten Mittel wird, diese Welt zu begreifen.

Der Mutterspracherwerb ist auf vielfältigste Weise in die Gesamtentwicklung eingebunden. Das ist die »biologische Verklammerung« (PlessnerPlessner, Helmuth) von Körper, Seele und Geist, die zusammen die eine Wirklichkeit des Menschen ausmachen. Deshalb gilt es zunächst, dieses Gesamt zu erkunden, in dem Sprache erworben wird.

 Sprache ist anfangs noch von der körperlichen Entwicklung abhängig. Die Anatomie des Stimmtrakts muß sich noch verändern, damit das Baby saubere Sprachtöne hervorbringen kann. Die Sinne – die Tore zur Welt und zu sich selbst – müssen sich weiterentwickeln. So braucht der Sehsinn noch drei bis fünf Wochen der Reifung und des Lernens, bis das Baby das Gesicht seiner Mutter von anderen Gesichtern unterscheiden kann. Und es dauert ungefähr ein Jahr, bis es unser Mienenspiel richtig deuten kann.

 Spracherwerb ist aufs engste mit der geistigen Entwicklung verflochten. Es muß die Dinge greifen, bevor es sie begreifen und benennen kann; es muss sie fassen, bevor es sie erfassen kann. Wenn es sie sprachlich miteinander vergleicht (»so groß«, »größer«, »kleiner«), muß es sie vorher mit Blicken vermessen und verglichen haben.

 Sprache entsteht zwischen den Menschen. Sie ist von Anfang an Zwiesprache, eingebettet in Fühlen und Kommunizieren, die schon vorher da sind. Unsere Lautsprache baut auf vorsprachlicher gestisch-mimischer Verständigung auf. Wir sehen, wie tief der sprachbegabte Mensch im Tierreich verwurzelt ist. Denn Kommunikation ist uraltes Naturerbe. Sprache wirkt mit bei der Entwicklung des Kindes zum sozialen Wesen und der Herausbildung seiner Gemeinschaftsgefühle. Bevor das Kind sinnvoll »ich« und »mein« sagen kann, muß es sich als ein Ich verstehen.

 Gefühle sind in alle Wahrnehmungs- und Entscheidungsvorgänge tief verwoben. Um mit seinen Gefühlen bewußt umgehen zu können, muß man sie für sich und andere versprachlichen können.

Das ist ja das Traurigste an den sog. wilden Kindern, den Wald- und Wolfskindern ebenso wie den Käfigkindern, die ohne menschliche Sprachkontakte groß wurden: Sie zeigten sich als emotional tief verstörte Wesen, die den Blicken der Menschen auswichen, dabei kein Schamgefühl besaßen, vielfach nicht weinen und mit anderen teilen konnten. Wenn überhaupt, gelang es nur mit unendlich viel Liebe und Geduld, tragfähige Bindungen zu ihnen herzustellen (vgl. S. 357ff.).

 

Schauen wir uns dagegen eine Dreijährige an, die in einen Kindergarten kommt, in dem man eine fremde Sprache spricht. Sie läßt sich von Freude und Trauer anderer anstecken und versucht schon, andere zu trösten: Mädchen sind besser im Trösten als Jungen. Sie kann andere versöhnlich anlächeln und reagiert, wenn sie so angelächelt wird. Sie ist schon auf vielfache Weise weltklug, so daß das Erlernen der ZweitspracheZweitsprache, Zweisprachigkeit zu einem beträchtlichen Teil reine Lautierarbeit, Vokabel- und Grammatikarbeit ist: Wie drückt man das, was ich jetzt sagen möchte, auf die neue, fremde Art aus: »Ich hab’ heute Geburtstag?«

Schauen wir sie uns einige Jahre später an, wenn ihr die erste Schulfremdsprache begegnet. Was ist nicht schon alles durch die Muttersprache angebahnt worden! Die Achtjährige weiß schon, wann und wie man sich entschuldigt, wann und wie man andere foppt, ärgert oder zu etwas überredet, versteht den Unterschied zwischen Du und Sie und ein ironisch gemeintes »danke!«, hat auch schon allerhand Ausreden und Ausflüchte auf Lager, kann Gründe angeben, hat einen entwickelten Zeit- und Zahlensinn, kann lesen und schreiben. Diese Vorleistungen der Muttersprache für die FremdspracheFremdsprachen, F.-Unterricht fallen – selbst was die Aussprache betrifft – viel stärker ins Gewicht als die Hindernisse, die sie ihr in den Weg stellt.

Fazit: Der Mutterspracherwerb kann nicht für sich allein betrachtet werden. Zu viele Entwicklungen finden zu gleicher Zeit statt und beeinflussen sich gegenseitig. Es gilt, den sprachlichen Strang sorgsam aus dem Gesamtkomplex der Entwicklung herauszuschälen. Bevor wir dies in den folgenden Kapiteln tun, stellen wir einige Vernetzungen mit anderen Entwicklungslinien dar.