Bilder aus dem Berliner Leben

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In den Zelten77

(August 1882)

Immer wenn ich an einem dieser schönen Sommervormittage vom Fenster meines Arbeitsstübleins aus über dem dunklen Grün des Tiergartens, der wie ein Forst zu meinen Füßen liegt, weit weg im Nordosten und dem Blau des Morgenhimmels die Victoria der Siegessäule leuchten sehe: dann trete ich frohen Mutes an meinen Schreibtisch, reibe mir vergnügt die Hände und spreche zu mir selber: »Wir werden heut einen guten, warmen Tag haben, und heut Abend ... aber ich sage nichts, ich sage nichts!«

Und wenn es nun endlich Abend geworden – denn ach! so ein heißer Sommertag ist lang in Berlin –, wenn die Rouleaus und Gardinen und Jalousien und wie die Dinge alle heißen, durch die man sich in dieser Stadt gegen die Glut des Mittags verwahrt, wenn sie, sag ich, in die Höhe gezogen, gerollt und gewickelt sind und durch das geöffnete Fenster zuerst wieder ein kühler Hauch von draußen heraufweht: dann mach ich mich so unfehlbar auf den Weg, als dort über dem schrägen Dach des Nachbarhauses die Sonne niedergeht. Dann nehm ich meinen Flurschlüssel und meinen Hausschlüssel, meine Zigarren, meinen Hut und meinen Stock und – wenn es sich für einen Mann in meinen Jahren schickte, wahrhaftig, ich würde, während ich die Treppen hinabsteige, singen – irgendein schönes Volks- und Wanderlied. So wohl ist mir jedesmal, wenn ich meine Bücher in den Schrank stellen und meine Schreiberei liegenlassen kann, wenn ich, vor der Tür meines Hauses stehend, mir die Frage vorlege: »Wohin nun, mein Freund? Ganz Berlin gehört dir; entscheide, triff deine Wahl!«

Gott sei Dank! – ich bin nicht der heilige Antonius78, und niemand, weder der Teufel noch auch ein Engel, will mich in Versuchung führen. Ich bin ein Mann in gesetztem Alter, von bescheidenen Ansprüchen, von zufriedener Gemütsart und konservativer Gesinnung, soweit es sich nämlich um die Spaziergänge handelt; ein wenig träumerisch, hier und da stehenbleibend, wenn ein hübsches Paar vorübergeht oder ein Eichhörnchen über den Pfad schlüpft, ein wenig nachdenklich und manchmal sentimental; sonst aber ohne Harm79, und meine Vergnügungen sind von der unschuldigen Art.

Ich schlage gleich den Fußweg mir gegenüber ein, er führt mich mitten in den Tiergarten hinein, und ich verschwinde hinter seinem Gebüsch wie hinter einer Kulisse. Diesen Weg geht niemand; hier bin ich allein. Die andern lieben die Sonne, die Helligkeit, die breite Straße, den Lärm der Promenade, den Luxus der Toiletten80, Equipagen81, Pferde, Reiter und Reiterinnen; ich liebe den Schatten, die Dämmerung, den schmalen Heckenweg, die Stille, die Einsamkeit, ich kenne jeglichen Baum in dieser Gegend, und ich meine, dass er auch mich kennen müsse, so vielmals in den vielen Jahren haben wir einander schon gesehen, Winter und Sommer, bei gutem Wetter und bei schlechtem. Ich war noch ein Student, da ging ich hier schon, und Freunde gingen mit mir, die jetzt – Gott weiß wo in der Welt sind. Hier, am Goldfischteich, wie manchmal haben wir gesessen und die liebreizende Göttin angeschaut, die der Liebe, mit dem wehmütigen Zug im Antlitz, der es noch holder macht; mit jenem schmerzlichen Lächeln um die »schöngereimten« Lippen, als wolle auch sie fragen: »Und nachher?« Sie steht noch immer da, die holde Schwester der Medicäerin82 und lächelt noch immer wie vor zwanzig und dreißig Jahren – Eis und Schnee, Regen und Sonne, Frost und Blüten sind über ihrem zierlichen Haupte dahingezogen. Die Götter werden nicht alt, und um ihre Füße, wie damals, spielen die Kinder, und auf den Bänken, unter Rosen, sitzen Liebende, welche den Anbruch der Sommernacht erwarten, und vorüber, Arm in Arm, gehen ein paar Studenten, von denen einer vielleicht in wiederum dreißig Jahren hier ähnliche Betrachtungen anstellt.


Abbildung 4, die Siegessäule, Anfang des 20. Jahrhunderts


Abbildung 5, die Siegessäule 2011

Nun kreuz ich die Charlottenburger Chaussee, auf der damals in weiten Zwischenräumen ein Omnibus und ein Kremser sich zeigten und auf der heut das unaufhörliche Hin und Her und Geklingel zweier Pferdebahnen ist. Rechts durch das Brandenburger Tor, dessen Viergespann im sonnigen Äther funkelt, blick ich in die Stadt, auf den Pariser Platz und unter die Linden; wo der Dunst des Tages und das Licht der untergehenden Sonne jenen eigentümlichen Rosaschimmer weben, der noch lange an den Häusern zu haften scheint und die stolzen Fronten, bis tief hinein, wie die Gipfel eines Berges färbt. Gerade vor mir steht die Siegessäule– von allen Siegesdenkmalen Berlins, wenn nicht das künstlerisch untadelhafteste, so doch dasjenige, welches am meisten uns gehört – uns, den Lebenden, unsere Säule, »la colonne«, die Säule von Berlin, wie die des Vendômeplatzes die Säule von Paris. Jetzt, wo der Purpur des Abends über sie strömt, glüht die Schlachtenjungfrau dort oben vom Scheitel bis zur Zehe; der Helm lodert, die Standarte blitzt, das eiserne Kreuz strahlt, und ihr Lorbeerkranz blüht wie von hineingeflochtenen Feuerlilien, während die flammenden Flügel sich weit spannen, als bedürfe es nur des leisesten Anstoßes, und der Fuß hebt sich von der Kugel, und sie wird aufs Neue fliegen – gegen Westen – gegen Osten ... wer weiß es? Und wer durch die Siegesallee geht, dem flimmert es vor den Augen von Gold und Farben, von Erz und Marmor, bis er – fast geblendet – beim Näherkommen über dem funkelnden Unterbau von poliertem Granit und in dem dreifachen Gürtel vergoldeter Kanonen die Trophäen dreier Feldzüge unterscheidet. Dreimal haben diese Kanonen gedonnert und in sechs Jahren der Welt im Allgemeinen und diesem Königsplatz insbesondere ein anderes Aussehen gegeben – bunte Siegesmosaiken, wo früher nichts oder, ärger als das Nichts, wo Sand und Wüstenei war, metallene Reliefs, eine ganze Walhalla von Heldengestalten im preußischen Waffenrock. Leben von unserm Leben, Blut von unserm Blut. Und sammetne Rasenflächen ringsumher, so weich und grün, so sanft beschienen von der Abendsonne, Teppichbeete mit Blumen und Pflanzen in brennendem Rot und ernstem Braun und lichtem Blau, blühendes Gebüsch, zwei Springbrunnen – hier Raczinsky,83 dort Kroll, vor mir das aristokratische Quartier, das Generalstabsgebäude, wo Moltke wohnt, das Palais des Herzogs von Ratibor84, die Bismarck-, die Moltkestraße, das Oktogon des Panoramas von Gravelotte und St.-Privat85–und im Hintergrunde die stille, dämmernde Masse des Tiergartens.

Unter dem Torbogen von Kroll werden schon die frühen Lämpchen angezündet, welche mit ihrem matten Licht wie gelbe Punkte auf dem Goldgrund des Abendhimmels stehen. Sie werden heller, je mehr der Tag verblasst; Kroll am Abend gehört den Fremden, und nur am Sommermorgen, in den frühen Stunden von sechs bis acht, gehört er uns, den Berlinern. Dann wird hier Brunnen getrunken – eine sehr ernste Affäre bei Krolls. Dann lustwandelt hier unter den Bäumen eine bedächtige Schar von Männern und Frauen, mit Bechern in den Händen oder mit Henkelgläsern, in welchen Karlsbader Sprudel dampft oder Marienbader Kreuzbrunnen perlt; da und dort auf dem Tische steht noch von gestern ein Bierseidel, an den Bäumen prangen große rote Zettel: »Theodor Wachtel in den Hugenotten«86– dazwischen kleinere weiße: »Sherry-Cobbler87« und »Erdbeer-Bowle«, und hinten an der Mauer sitzt ein langes Plakat. In den Beeten stehen die Blechtulpen und die Blechpelargonien und ein Storch von Blech, und über uns die weißen Glaskuppeln blinzeln, als ob sie sich den Schlaf noch nicht aus den Augen gewischt hätten, während wir unablässig und nüchtern auf und ab promenieren mit der gesetzten Miene von Kurgästen, die alle paar Minuten die Uhr herausziehen und an nichts denken als an den guten Kaffee, der sie erwartet, wenn sie ihr Werk getan.

Aber es ist Abend, und andere gute Dinge stehen uns bevor. Kommt nur, folgt mir; wir gelangen, wenn auch auf Umwegen, schon ans Ziel. Ich bin nicht einer von denen, die sogleich, nachdem sie vor die Türe getreten, sich wieder setzen müssen und nach dem Kellner rufen. Ich liebe die Ordnung; alles zu seiner Zeit. Ich habe gesagt, dass ich konservativ sei; doch ich ehre die Verfassung und lasse mich nicht abbringen, weder nach rechts noch nach links, von meinem verfassungsmäßigen Spaziergang. Hier denn ist eine Allee von uralten Bäumen, Eichen und Linden, schon dunkel, da das scheidende Sonnenlicht das hundertjährige Laubdach kaum noch durchdringt. Dieses ist die Zeltenallee, vormals die Kurfürstenallee geheißen; und hier gingen die Großväter unserer Väter, wenn sie des Abends nach den Zelten wollten. Ehrbare Männer waren es, mit dreieckigen Hüten, mit Zopf und Perücke, mit langen Rohrstäben in den Händen und mit einem bedachtsamen Schritt, wie Männer, welche Zeit haben und ihre Würde kennen. Wenn sie miteinander redeten, so sprachen sie, wie gute Bürger, von ihrem Könige, Friedrich dem Großen, der damals schon ein alter Herr war und in Sanssouci residierte; waren sie Gelehrte, so sprachen sie von Voltaire und der Enzyklopädie88, waren sie Kaufleute, so sprachen sie von der Königlichen Generaltobaksadministration, vom Zucker- und Kaffeezoll, von der Seehandlungscompagnie und dem letzten großen Wechselgeschäft der Herren David Splittgerbers selige Erben. Bedächtig schritten sie dahin, nach einem großen Platz an der Spree, welcher der Kurfürstenplatz oder der Zirkel genannt ward. Auf der Seite nach der Spree war den ganzen Sommer hindurch eine Anzahl Hütten und Zelte aufgeschlagen, woselbst allerhand Erfrischungen verkauft wurden. Der gegenüberstehende Zirkel – ich zitiere hier den wackern Friedrich Nicolai, Buchhändler auf der Stechbahn, der mit seinen Freunden Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn an dieser Stelle wohl manch einen Sommerabend auf und ab gegangen – , der gegenüberstehende Zirkel ist mit einer doppelten Allee von sehr hohen Ulmen und Eichen eingefasst und der Hauptsammelplatz aller Spazierenden, welche teils unter den Alleen hin und her wandeln, teils auf den Bänken ausruhen. An schönen Sommernachmittagen, sonderlich des Sonntags und Feiertags, pflegten hier einige Tausende zu Fuße, zu Pferde und zu Wagen zusammenzukommen, wobei öfters, auf Befehl des Gouverneurs, die Musikkorps der in Berlin in Garnison liegenden Infanterie- und Artillerieregimenter an die anliegenden Büsche verteilt wurden, welches zusammen ein sehr reizendes Schauspiel machte. »La place des Tentes au parc«89, wie Chodowiecki denselben (1772) dargestellt, galt für die »première promenade de Berlin«90. Sie war es hauptsächlich während der späteren Zeit Friedrichs des Großen und blieb es bis ans Ende des Jahrhunderts. Selbst die Mitglieder der königlichen Familie – so referiert W. Mila, der sich (geboren 1764) des glänzenden Anblicks noch aus seiner Jugend erinnert – und Personen vom ersten Range mischten sich unter den bunten Haufen. In vergoldeten, schön verzierten Phaetons91, in eleganten, von allen Seiten mit Glasscheiben versehenen Kutschen oder in sogenannten Wurstwagen, an deren Schlägen Pagen und Heiducken92 standen, fuhren die Prinzessinnen die Hauptallee entlang. Ein Mann von der Französischen Kolonie namens Mourier war der erste; der hier im Jahre 1760 ein Zelt aufschlug, in welchem er Kaffee und sonstige Getränke und Erfrischungen feilbot; zum Schilde hatte er eine goldene Gans mit der sinnreichen Inschrift: »Monnoi (mon oie) fait tout«93. Aus den Kreisen der Französischen Kolonie, welche sich damals noch bei Weitem nicht vollständig germanisiert hatte, ging etwas wie ein Atem des französischen »esprit«94 über Berlin, welcher sich bis in den kleinsten Dingen zeigte und vielleicht in seinen letzten Nachwirkungen nicht ohne Einfluss geblieben ist auf den Berliner »Witz«. Dem Beispiele dieses betriebsamen Mannes folgten zwei andere Schenkwirte, gleichfalls Franzosen, Dortu und Thomassin bauten ihre Zelte an den Ufern der Spree und hatten einen guten und vergnügten Sommer davon. Im Winter wurden diese beweglichen Dinger zusammengeschlagen und in die Stadt gebracht, um, sobald der neue Lenz kam und die Hecken und Wiesen hierherum wieder grün wurden, fröhlich aufzuerstehen – echte Nomadenzelte in dem Sandmeer von Berlin, und der Fleck, auf dem sie standen, mit Wasser und Wald und geputzten Menschenkindern, eine der lieblichsten Oasen. Denn man brauchte nicht hundert Schritte weit zu gehen, so war man knietief im Sande. Sand war der Exerzierplatz, heute der Königsplatz mit der Säule, Sand war des Königs Holzplatz, heute die Alsenstraße, Sand war auch Seegers Holzplatz, heute die Roon- und die Hindersinstraße. Gegenüber auf der rechten Spreeseite war noch mehr Sand, welchen seit den Tagen Friedrichs I. französische Gärtner und Landbauer im Schweiße ihres Angesichts urbar zu machen trachteten, ohne sonderlich weit damit zu gelangen, weshalb sie es, mit der ihrer Nation eigenen Finesse, die sich in Kümmernissen durch einen guten Witz schadlos hält, la terre maudite95 nannten oder la terre de Moab, das Moabiterland, heute Moabit, das Land Borsigs, der Fabriken und der Parks, das Land des Eisens und des Reichtums, ein sprechendes Exempel von dem, was man aus Sand machen kann, wenn man es nur recht anfängt und sich die Mühe nicht verdrießen lässt. Freilich hat es hundert Jahre gedauert, ehe der kärgliche und widerspenstige Boden nachgab; und nach den Franzosen mussten unter Friedrich dem Großen westfälische Leute graben und pflügen und Hecken pflanzen, hart arbeitende, schwer auftretende Bauern, an welche noch, mitten in dem ganz modernen Moabit, zwischen den stattlichen Gebäuden unseres Jahrhunderts, ein altes, kleines, aus Lehm gebautes Haus erinnert, mit einem altmodischen Schild, das in altmodischer Schrift die Worte trägt: »Pumpernickel-Bäckerei«. Wer damals aus der »terre maudite« kam, »über die Furt am Jordan (vulgo Spree), die nach Moabit führet«, und bei den Zelten ausstieg, der mochte glauben, im Gelobten Lande zu sein. »Milch gab sie, da er Wasser forderte, und Butter brachte sie dar in einer herrlichen Schale.«96 Des zum Gedächtnis, sagt mein Gewährsmann, ist den dort an der nämlichen Stelle noch befindlichen vier Kaffeehäusern die Benennung von Zeltengeblieben, selbst als diese Zelte sich zuerst in Hütten und am Ende in große massive Gebäude verwandelten, »wovon Nr. 1 und 2 sogar große Säle haben, aus denen man an Sommertagen angenehme grüne Wiesen, jenseits der Spree, überschauet« – Wiesen, die Spuren und Zeugnisse des vereinten Fleißes von Franzosen und Westfalen, die nun auch längst wieder verschwunden sind, seitdem die Güterschuppen und Lagerhäuser des Lehrter Bahnhofes hier bis ans Ufer reichen, seitdem hier Holzplätze und Kohlenplätze sind, zwischen denen nur noch einsam da und dort eine Silberpappel emporragt. Statt des Geruches von Heu ist hier der Geruch von Pech und Teer und allerlei Schiffsgerät, und wo die Sensen gedengelt wurden, ist jetzt das Pfeifen und Stoßen und Stöhnen der Lokomotive – dem goldenen Zeitalter ist das eiserne gefolgt, in dem wir leben, das Zeitalter der Maschinen- und Massenarbeit; und doch, wer möchte leugnen, dass es seine Poesie hat, so gut wie jedes andere, nur dass uns das rechte Wort dafür oder der rechte Mann noch fehlt, der deutlich ausspräche, was wir nur undeutlich empfinden?

 

Abbildung 6, In den Zelten, Anfang 20.Jahrhundert


Abbildung 7, Haus der Kulturen der Welt, 2012, auf dem historischenStandort der Zelte

Adolf Menzel mit dem durchdringenden Blick unter den buschigen Brauen und der nervigen Faust hat es vollbracht; er hat in seinen »Modernen Cyclopen«97, jetzt in unserer Nationalgalerie, eine solche Werkstatt gemalt, bei deren Feuerschein sich gleichsam die soziale Tiefe auftut und ihre dämonisch arbeitenden Kräfte sichtbar werden. Seinen Spuren ist Paul Meyerheim gefolgt in den Panneau98 auf Kupfer, welche die Marmorhalle des borsigschen Parkes schmücken: die Geschichte der Lokomotive von dem Moment, wo das Eisen aus den Gruben des schlesischen Gebirges steigt, bis zu jenem, wo der fertige Koloss verladen wird auf einen transatlantischen Dampfer im Hafen von Hamburg. Menzel, wiewohl mit einer Fülle von Phantasie, ist doch nicht etwa phantastisch, wiewohl ein Meister der Farbe, doch kein Schönmaler, eher ein Hässlichmaler. Seine Menschen auf diesem Bilde sind wirklich aus dem Eisenwalzwerk und der Maschinenbauanstalt. Ein geheimer Schauer ergreift uns, wenn wir sie betrachten: In ihnen steht unsere Zukunft vor uns. Ein Gleiches ist der Dichtung bis jetzt nicht gelungen; sie ringt um den ungeheuren Inhalt des modernen Lebens, aber sie hat ihn noch nicht gepackt. Und doch, welcher Roman könnte großartiger sein oder belehrender und erhebender, wäre mehr wert, erzählt zu werden, als derjenige Borsigs, welcher als ein armer Zimmermannssohn in Breslau geboren ward und als ein einfacher Arbeiter nach Berlin kam, um ein Mann zu werden, nach welchem ganze Stadtteile sich benennen; ein Herrscher, aber ein solcher, der im Volke wurzelt, dessen Kraft aus dem Volke stammt und der sie ihm tausendfach wieder zurückgegeben hat.

Er war ein Mann von Genius und, wie jeder Schöpfer, von tiefem Gemüt; er konnte sich an dem Aufblühen einer Blume, dem Fortkommen eines Bäumchens in seinem Garten freuen, und bei seinen Arbeitern hieß er »Vater Borsig«. In der älteren Generation derselben ist sein Andenken noch unverwischt, obwohl er nun bald dreißig Jahre tot ist. Meister sind da bei den Schmieden und den Formern, die jung unter ihm waren und die heute noch von ihm sprechen wie von einem Lebenden. Andere, die bei der Arbeit Invaliden geworden, haben Ruheposten erhalten, und alle hängen an dem Hause mit einer Art von Familiensinn. Unter solchen Einflüssen wächst das jüngere Geschlecht der Arbeiter heran, und hier wenigstens scheint kein Boden zu sein für den sozialen Unfrieden, wo der Geist Borsigs gleichsam noch persönlich fortwirkt, und sein Beispiel zeigt, was jeder auf dem Wege redlicher Arbeit zu erreichen vermag.

Einst, als ganz junger Mensch, war er auf Veranlassung Beuths aus dem königlichen Gewerbe-Institut fort gewiesen worden, weil er keinen Sinn für Chemie habe. Dafür stellte Borsig siebenzehn Jahre später (1842) auf der ersten Berliner Industrie-Ausstellung eine Lokomotive aus, der er den Namen »Beuth« gegeben; und neben den Medaillons von Humboldt und Schinkel, von Rauch und Stüler, welche die dem Borsigschen Park zugekehrte Front des Verwaltungsgebäudes schmücken, ist auch dasjenige des unvergesslichen Förderers des preußischen Gewerbefleißes und der Berliner Industrie. So dankte Borsig dem, der nicht eben rühmlich an ihm gehandelt, aber dadurch providentiell99für ihn geworden war. Ein Maschinenbauer sollte er sein, und ein Maschinenbauer war er zehn Jahre lang (1826 bis 1836) in der Eggelsschen Eisengießerei, dem einen von den drei Privatetablissements dieser Art im damaligen Berlin. In harter Arbeit erwarb er sich ein kleines Vermögen, ich glaube fünftausend Taler in zehn Jahren, kaufte sich ein Grundstück vor dem Oranienburger Tor, wo heute die Chausseestraße ist, und errichtete daselbst ein eigenes Hüttengebäude. Hier baute Borsig seine erste Lokomotive; die erste, die jemals auf deutschem Boden gebaut worden ist. Am 24. Juni 1841 wurde sie fertig. Die ganze Nacht war gearbeitet worden, und die ganze Nacht durch hatte Borsig – wie dessen Biograph, Hermann Vogt, erzählt – unter seinen Arbeitern gestanden, voller Aufregung, voller Zweifel, ungewiss, ob sein Werk gelungen. Endlich dämmerte der Morgen, ein Sonntagmorgen, und die Maschine wurde geheizt. Es war vier Uhr früh. Langsam erwärmte sich der Kessel, das Wasser begann zu sieden, der Dampf stieg auf, die Zylinder arbeiteten, die Kolbenstangen reckten, die Achsen bewegten, die Kurbel drehte sich, die Räder rollten – und »sie geht!« rief Borsig seinen Ingenieuren zu. Mit diesen zwei Worten war seine Zukunft entschieden, in ihnen lag Ruhm und Reichtum, lag seine Lebensaufgabe: nämlich, den deutschen Lokomotivbau von der Arbeit und selbst dem Material des Auslandes frei zu machen. Denn bis dahin wurden die fertigen Lokomotiven und lange noch ward das Schmiedeeisen aus England bezogen.

Nur noch fünfzehn Jahre waren Borsig vergönnt, aber sie reichten hin. Wo sein erstes Hüttengebäude stand und seine erste Lokomotive ging, erhebt sich auf dem ehemals freien Feld jetzt, in einer neuen Stadtgegend, die sich weit gegen Norden erstreckt, und inmitten einer Arbeiterbevölkerung, die nach vielen Tausenden zählt, aus einem Walde von Schornsteinen jener ungeheure Komplex von Werkstätten und Hallen, in denen seitdem an die viertausend Lokomotiven gebaut worden sind, aus dem Eisen und dem Stahl, die in den eigenen Werkstätten von Moabit geschmiedet und gegossen, mit dem Erz und der Kohle, die aus den eigenen Gruben in Schlesien gewonnen werden.

Borsig starb im besten Mannesalter nach kaum vollendetem fünfzigsten Lebensjahr, und er ruht auf dem Dorotheenstädtischen Kirchhof, gerade gegenüber seiner Maschinenbauwerkstatt in der Chausseestraße. Sein Sohn, der Erbe seiner fürstlichen Besitzungen, ward nicht einmal so alt wie der Vater; er starb vor fünf Jahren, als eben das schöne Palais an der Ecke der Voß- und Wilhelmstraße fertig geworden, welches heute noch leer steht. Still auch ist es in dem Park von Moabit, und in dem Landhause wohnen zwei Witwen. Aber ein hübscher Knabe, der Sohn des letzten Besitzers, tummelt sich auf dem Rasen, und er läuft mir mutwillig voran zu den Sehenswürdigkeiten des Gartens, welcher mit großer Liberalität jedem Besucher offensteht.

Oftmals auf meinem Abendgang komm ich hierher zu dem nunmehr wohl etwas vereinsamten Sitz eines Fürsten der Industrie; zu den weiten Rasenflächen mit den schönen Baumgruppen, durch welche der Abendhimmel schimmert. Am Tore steht der Portier mit der goldgeränderten Mütze. Dann erscheint das stilvolle, geräumige, jedoch nichts weniger als auffallende Herrenhaus, die Hinterfront ganz in Grün versteckt. Dann das Palmenhaus mit den wunderbaren Farrenbäumen aus dem südlichen Amerika, den edel geformten Palmen aus Indien und Ceylon; eine Treppe, deren Stufen von Granit, führt zu Felswänden hinan, mit kriechendem Moos bekleidet, und zwischen den Tropenpflanzen Figuren von weißem Marmor, gelblich leuchtend von dem Strahl der Abendsonne, der sich weiterhin in dem feuchten Grün verliert. Kandelaber100 hängen von oben herab – wie feenhaft muss es hier sein an Ballabenden, wenn Musik aus dem Innern schallt und der bunte Glanz des Festes mit der stillen Schönheit der Pflanzenwelt sich vereint! Dann das Orchideenhaus, vor welchem die Marmorbüsten der beiden Borsig, Vater und Sohn, unter niederhängendem Gezweig stehen. Dann die Marmorhalle mit den Bildern von Paul Meyerheim – überall Pracht und Marmor und Farben, aber nichts Prahlerisches, was den Blick oder die Empfindung verletzen könnte. Dann das Haus der Victoria Regia und nebenan das Wasser mit der blühenden Victoria Nymphäa, blassrot, dunkelrot, blau, märchenhaft auf den breiten grünen Blättern schwimmend, während zahllose Goldfische sich umhertummeln. Und mir wird, als erlebt ich selber ein Märchen – aber ein ganz modernes –, indem unaufhörlich in diese Herrlichkeit und Stille von Grün und Blumen das Schnaufen und Stampfen der Maschinen hereindröhnt, die Stimmen der Arbeit, von Guss- und Puddelöfen, von Walz- und Hammerwerken, welche, Park und Haus umgebend, bis an das Ufer der Spree reichen. Hier stößt der Eisenhammer an den Park, sein gewaltiger Schornstein steht da wie der Turm einer Burg, und Park und Fabrik gehen ineinander über. Hier befindet sich auch das Verwaltungsgebäude, von welchem ich oben schon gesprochen; und hier, wo sich jeden Mittag Hunderte von Arbeitern in einem hohen Saal, an reinlichen Tischen zu einer guten, billigen Mahlzeit niedersetzen, kann man sehen, wie Borsig für seine Leute gesorgt hat. Aber dazu muss man einen Umweg durch den Hof machen; denn der Saal steht nicht zur Schau wie die Palmen und Orchideen. Hier steigt man auch zu einer Terrasse mit dem Blick auf die Spree, die Schiffe, die Lessingbrücke, die Stadtbahn, den Tiergarten; und hier, den dumpfen Lärm, den das gleichmäßige Ausstoßen des Dampfes verursacht, zur einen und zur andern Seite die Ruhe, den frischen Geruch des Grüns und den Glanz des Abendhimmels – hier sitze ich gern und lausche und suche nach dem Wort, das ich nicht finden kann …

 

Vergoldet nicht dieselbe Sonne, die Sonne Homers101, die Rauchwolken, welche schwarz und dicht aus dem Riesenschlote des Eisenwerks emporsteigen und, in malerische Bildungen aufgelöst, in wunderbare Farben getaucht, sich fern am abendlichen Himmel verlieren? Sind es nicht herkulische Gestalten, die mit den Eisenstangen und den Lederschürzen vor dem Schmiedefeuer und dem Amboss stehen, wenn die Esse sprüht, wenn die Flamme knistert, wenn der schmelzende Stahl herausfließt wie Wasserbäche, wenn Blöcke weißglühenden Erzes von mächtigen Hebeln, wie von Geisterhänden bewegt, dem Willen dieser Menschen gehorchen, sich heben, durch die Luft fahren, sich senken und der Dampfhammer mit einer Wucht von fünftausend Pfund diese feuersprühende Masse platt drückt wie – man verzeihe mir den Vergleich, aber ich finde keinen andern – einen Schweizer Käse? Ist es nicht eine Phantastik, wie im Reiche der Erdgeister, wenn ein goldner Funkenregen umherprasselt, in welchen die niedergehende Sonne von außen nur ganz blass, in langen Strahlen hineinscheint? Oder sind es nicht liebliche Landschaften, hier ein Stück Wiese mit der bläulichen Straßenferne, dort ein Stück Wasser mit rötlich angeglühten Segeln, welche man durch die Bögen der Stadtbahn erblickt, wie in einen Rahmen gesetzt; und ist sie selber nicht ein Werk, welches an Kühnheit der Konzeption und Großartigkeit der Ausführung sich wohl messen darf mit jedem altrömischen Viadukt, dessen Trümmer wir heute noch ehrfurchtsvoll anstaunen? Ja, mag im Laufe der Zeiten – in Hunderten, nein in Tausenden von Jahren – jener Neuseeländer Macaulay’s, nachdem er in der ungeheuren Einsamkeit seinen Stand genommen hat auf einem zerbrochenen Bogen von London-Bridge, um zu zeichnen die Ruinen von St. Paul’s – mag er nicht auch hierherkommen nach Berlin, um auf den Steinresten dessen, was einst die Stadtbahn gewesen, elegische102 Betrachtungen anzustellen über die Größe, den Verfall und die Vergänglichkeit aller Dinge?

Kommt, ihr kleinen zierlichen Figuren, wie ihr vor mir steht auf dem Bilde von Chodowiecki, dem verfeinerten HogarthBerlins – ihr Püppchen, so zart und gebrechlich wie aus der Meißener Porzellanfabrik – Frauen in langen, schleppenden Gewändern, mit hoher Frisur und Puder darin, Männer in gestickten Röcken, mit Band und Haarbeutel, mit dem Hut unter dem Arme und dem Degen an der Seite, höfliche Männer, die sich unaufhörlich verneigen und galante Reden im Munde führen und den Damen die Cour machen103. Rings ein Kichern und gedämpftes Lachen und anmutiges Geplauder unter den Bäumen des Tiergartens, welche diesen Salon im Freien mit ihrem Laubdach beschirmen. Eine Gruppe sitzt um einen Tisch: Ein sehr korpulenter alter Herr mit rundem Bauch und jovialem104 Gesicht erzählt seinen schönen Zuhörerinnen offenbar eine lustige Geschichte; ein sehr dünner junger Herr, der vielleicht eben »Die neue Héloëse«105 gelesen hat und in zwei Jahren gewiss »Werthers Leiden«106 lesen wird, lehnt melancholisch an dem Stamm einer Linde. Zwei junge Damen, Hand in Hand, stehen ihm gegenüber; zwei andere junge Damen, gleichfalls Hand in Hand, enteilen über den Rasen. In den Zelten aber ist ein lustiges Treiben. Da kommen und gehen die Menschen und die Wagen, und M. Mourier, unter dem Zeichen der goldenen Gans, und M. Thomassin und M. Dortu machen ihnen die Honneurs107. Fern über die Spree zieht träumerisch ein Schifflein, und eine Diana108mit ihrem Hunde von weißem Stein schimmert durch das verschleiernde Grün.

Etliche Jahre nachdem Chodowiecki sein Blatt gestochen, kam ein Fremder hierher, ein Anonymus, allem Anschein nach aus sächsischen Landen, ein Mann von Empfindung und beweglichem Temperament, der von dem Berliner Leben damaliger Zeit außerordentlich entzückt war und es in seinen »Bemerkungen eines Reisenden« (Altenburg, 1779)109 ein wenig in der Manier Sternes110 beschrieben hat. In Gesellschaft eines Predigers besucht er die Zelte – »die Zelter«, wie er sie nennt – »oder besser die Hütten, denn nur selten steht ein aufgeschlagenes Zelt da, und der Saal, welcher errichtet ist, hat die Form eines Zeltes und ist von Holz«. Hier nimmt der Reisende Platz mit seinem geistlichen Freund. »Wundern Sie sich nicht«, ruft er aus, »dass Prediger die Hütten besuchen. Man ist in Berlin nicht mehr so weit in der Weltkenntnis zurück, daß man es einem Geistlichen verargen sollte«, et cetera. Die beiden beginnen damit, ihre langen Pfeifen anzustecken; denn damals, in der glücklichen Zeit, rauchte man noch »lang«, und nicht nur zu Haus. Wenn man ausging, trug man in der einen Hand den Stock oder den Regenschirm, in der andern die lange Pfeife – so war der Berliner vor hundert Jahren. »Die Aussicht von hinten zu ist majestätisch und prächtig«, sagt unser Reisender, der aber, als Weltmann und echtes Kind seines Jahrhunderts, mehr dem Spruche Popes huldigt: »The proper study of mankind is man«111und demgemäß sich sogleich der Betrachtung des Anblicks vor den Zelten zuwendet. »Unter Tangelhütten sitzen an vielen Tischen allerlei Berliner aus allen Ständen. Schon die Mannigfaltigkeit der Röcke ist aufmunternd. Unter den Hütten, wo ich mich befand, pflegt sich der edlere Teil der Einwohner Berlins zu versammeln, weiterhin ist schon ein Abfall, und ganz am Ende sitzt Krethi und Plethi112.« Es scheint, dass Messieurs Mourier, Thomassin und Dortu mittlerweile Konkurrenz bekommen und dass die bevorzugten Zelte damals die des Herrn Grüneberg waren. »Ich schildere Ihnen bloß die Grünebergschen Hütten«, fährt der Reisende fort. »Mitten unter den Tischen steht eine große Säule, an welcher einige Lampen hängen« – zur Bequemlichkeit für die Gäste, die sich daran ihre Tabakspfeifen anzünden. »Die Tische sind fast allemal besetzt. Beiläufig muss ich erwähnen, dass es Berliner gibt, die alle Tage, bis in den spätesten Herbst, den Tiergarten und die Grünebergschen Hütten besuchen. Die Gesellschaft ist buntscheckig genug. Eine Partie trinkt Kaffee, die andere Tee, eine dritte Bier und eine vierte, die vielleicht die Schwindsucht hat oder gern stark werden will, Wasser und Milch. Hier sitzt eine Familie, die den festlichen Geburtstag ihres vierjährigen Kindes begeht. Alt und jung, von eingeschrumpften Großtanten bis zum Jungen, dem zu Ehren diese Feier angestellt ist, herunter. Solchen Szenen mag ich gern beiwohnen. Der gutmütigen Mutter sah man die Freude, die das Herz in die Höhe schwellte, an, und der vor Wonne über den klugen Jungen entzückte Vater wallete mit seiner Pfeife voll wohlriechenden Knasters113 unter seinen Freunden herum.« Aber kaum drei Schritte von diesem Bild ehrbaren Glückes entfernt sitzt »eine Partie äußerst empfindsamer junger Herren«, duftend von Eau de Levante, Eau de la Sultane, Eau sans pareil,114 und wie diese »galanten Wasser« alle heißen mögen; Petitmaîtres115, deren Anzug »dem neuesten Geschmack von Paris« entspricht, mit kurzem Chemisett116, die oberen sechs Knoüpfe aufgeknöpft, »damit das feine, zierlich ausgenähete Jabot117 und die offene weiße Brust sogleich in die Augen fallen möchten. Denn«, bemerkt unser Gewährsmann in Parenthese118, »man trägt die Oberhemden vorn offen, um dem schönen Geschlecht seine Ergebenheit zu bezeugen.« Ihr Gespräch, mit französischen Brocken, einem mon dieu! einem ma foi! einem je m’en demande pardon119 bestreut, »gleich dem Zucker auf einer Mandel- oder Wienertorte«, betraf größtenteils die »Aktricen«120, – »O Madame Nouseul!«121 sagte der eine ächzend ... Ein leichter Hauch von Frivolität liegt über dieser Epoche der Empfindsamkeit, für welche die »Sentimental Journey«122 nicht weniger typisch ist als »Werthers Leiden«, nur dass freilich nicht Mr. Yoricks Humor, sondern erst der Pistolenschuss Jerusalems123 dem Ding ein Ende machte.