Geschichten aus dem Koffer

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Nathanael startete das Video und hockte geduldig auf seinem Koffer, das Tablet in seiner Hand.

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Am nächsten Morgen erwachte Thomas und schüttelte ungläubig den Kopf. Er hatte geträumt, eine Tatsache, die er schon länger verleugnete. Er träumte nicht. Das gab es gar nicht. Doch dieser Traum fühlte sich fast real an. Er war im Pflegeheim gewesen, wie an jedem Sonntag. Doch im Traum war er nicht mit seiner Tante auf dem Flur unterwegs gewesen, ungeduldig, weil sie schon wieder nach ein paar Schritten stehen blieb. Sie hatten zusammen im Garten gesessen, in der Rosenlaube, die er bisher in der Realität nur vom Fenster aus gesehen hatte. Eine Kanne mit Tee hatte auf dem Tisch gestanden, daneben eine Schale mit Plätzchen. Und seine Tante hatte erzählt, von früher, von ihren Eltern, von ihren Geschwistern, von ihm als Kind, von ihrem Leben. Ihr Gesicht hatte gestrahlt und er hatte ihr sogar ein bisschen zugehört. Wirklich zugehört. Zumindest teilweise. Zwischendurch hatte er sich schon gefragt, ob sie es nicht auch beim Laufen erzählen könnte. All die Meter, die jetzt fehlten … Da würde er nächsten Sonntag dann, wenn er wieder da wäre, dringend etwas nachholen müssen. Wobei, zu sitzen hatte auch seine Vorteile. Da war ja auch noch die Pflegerin gewesen, die gekommen war, um seine Tante an die Tabletten zu erinnern. Hatte sie ihm zugelächelt? Thomas schüttelte den Kopf. Es war ja nur ein Traum. Aber was wäre, wenn der Traum wahr werden könnte?


8. Dezember: Die Weihnachtswichtel (K)

„Und dann haben wir ja auch noch unseren Adventskalender!“ Katja hielt den kleinen Koffer mit den aufgeklebten Glitzersternen in die Höhe. Die Kinder der Bärengruppe saßen vor ihr im Halbkreis auf dem Teppich im Gruppenraum: Ben, Ole, Lilli und Anna, die Zwillinge Janne und Matti, Emir, Leyla, Ali, Emily und Jason. Die kleine Emma hatte wieder ihren Lieblingsplatz auf Liahs Schoß ergattert, und daneben kuschelte sich Vincent an seine große Schwester Amelie.

„Wer weiß denn, welche Zahl heute dran ist?“

Sofort schossen mehrere Hände in die Höhe. Emir folgte zögerlich.

„Ja?“ Katja nickte ihm lächelnd zu. „Welche Zahl war es denn heute bei dir?“ In der Bärengruppe hatten alle Kinder auch zu Hause einen Adventskalender. „Möchtest du sie mir zeigen?“

Emir stand auf und zeigte auf den Stern mit den zwei Bäuchen. „Die da.“

„Ja, genau!“

Emir strahlte und setzte sich wieder auf seinen Platz.

„Und wer weiß, wie die Zahl heißt? Ja, Anna?“

„Das ist die Acht. Und morgen ist dann die Neun dran.“

„Super!“ Katja lächelte und summte den Anfang einer Melodie. „Wie viel Tage sind es noch, bis wieder Weihnacht ist?“, stiegen die Kinder mit ein. „Wie viel Tage sind es noch bis zum Heil`gen Christ? Wir zählen rasch die Sterne, wie viele sind noch dran? Wir zählen rasch die Sterne. Dort vorne fang`n wir an.“

Gemeinsam zählten sie: „Eins, zwei, drei, vier … fünfzehn, sechzehn.“

„Ja, in sechzehn Tagen ist Weihnachten! Da haben wir zum Glück noch viel Zeit, um zu basteln, zu backen oder einfach auch mal zu kuscheln.“

„Aber wir haben doch noch was vergessen!“, erinnerte Amelie.

„Natürlich“, lachte Katja. „Wie könnte ich das vergessen. Möchtest du schauen, was heute für uns in dem Koffer ist?“

Amelie nickte und kam zu Katja. Ehrfürchtig öffnete sie den Deckel und holte eine Papierrolle heraus. Ole durfte am Band der Schleife ziehen, und Janne rollte den Zettel auseinander. Darauf waren fünf Wichtel zu sehen.

„Die fünf Weihnachtswichtel!“ Katja sah die Kinder an. „Möchtet ihr wissen, was sie so treiben?“

„Ja!“

Katja begann zu erzählen und untermalte das Gedicht mit Gesten.

Fünf Weihnachtswichtel

Der erste Weihnachtswichtel ist dort in seinem Wichtelhaus.

Was er wohl grade macht?

Wer hätte das gedacht?

Er übt, ganz klarer Fall,

den Tanz für´n Weihnachtsball.

Der erste Weihnachtswichtel ist dort in seinem Wichtelhaus.

Der zweite Weihnachtswichtel ist dort in seinem Wichtelhaus.

Was er wohl grade macht?

Wer hätte das gedacht?

Er holt aus seinem Keller

die guten Weihnachtsteller.

Der zweite Weihnachtswichtel ist dort in seinem Wichtelhaus.

Der dritte Weihnachtswichtel ist dort in seinem Wichtelhaus.

Was er wohl grade macht?

Wer hätte das gedacht?

Ganz herrliche Gerüche

durchströmen seine Küche.

Der dritte Weihnachtswichtel ist dort in seinem Wichtelhaus.

Der vierte Weihnachtswichtel ist dort in seinem Wichtelhaus.

Was er wohl grade macht?

Wer hätte das gedacht?

Er spielt, man hört es leise,

‘ne alte Weihnachtsweise.

Der vierte Weihnachtswichtel ist dort in seinem Wichtelhaus.

Der fünfte Weihnachtswichtel ist dort in seinem Wichtelhaus.

Was er wohl grade macht?

Wer hätte das gedacht?

Er kuschelt sich ins Nest

und träumt vom Weihnachtsfest.

Der fünfte Weihnachtswichtel ist dort in seinem Wichtelhaus.

„Sie ist eingeschlafen!“, kicherte Ben.

Gespielt schnarchte Katja noch ein paar Mal und erwachte dann lachend. „Hach, ich hätte noch ewig von Weihnachten träumen können! Aber noch ist es nicht so weit. Und wir haben ja auch noch viel vorzubereiten, bevor dann unser Fest ist. Wie die Weihnachtswichtel. Wozu habt ihr Lust?“


8. Dezember: Familie Kranz und der Advent (J&E)

„Und in drei Tagen beginnt dann endlich der Adventskalender!“ Lulu zeigte auf ihren Zettel. „Siehst du, Mama, ich habe hier nur noch drei Kästchen: Eins, zwei, drei. Also darf ich in drei Tagen das erste Päckchen öffnen! Was da wohl drin ist?“

Lulu ging zu ihrer Tür, an der der Adventskalender hing, und befühlte vorsichtig das erste Päckchen. Heute war er aufgehängt worden, gleich nachdem der Adventskranz fertig geworden war. Den machten sie immer alle zusammen. Und er fiel in jedem Jahr größer aus. „Aber das macht nichts“, hatte Siah lachend gesagt. „Das sind wir unserem Namen schuldig.“ Die ältere Kranztochter hatte die kleingeschnittenen Zweige zu kleinen Sträußen zusammengefügt, die Mama Kranz an den Unterkranz band, den sie vorher auch schon selbst erstellt hatten. Ihr Garten lieferte reichhaltiges Material. Lulu wiederum hatte ihrer älteren Schwester Siah die Zweige angereicht, natürlich streng nach Aufforderung, so dass immer neue Zweigkombinationen entstanden. Papa Kranz blieb lieber sicherheitshalber in seinem Arbeitszimmer und sammelte Kraft für die anstehende Adventszeit.

Er mochte Advent. Er mochte auch Kerzen, Tee und Räuchermännchen. Er war aber eher der stille Genießer. Das aus seiner Sicht übertriebene Hinfiebern auf jeden besonderen Tag im Advent war für ihn nur schwer zu ertragen. Und mit jedem Jahr, das die Kinder älter wurden, wurden ihre Erwartung und Vorfreude größer. Die Krönung war der Adventskalender für den Adventskalender, der schon im Oktober begonnen hatte und an dem an jedem Tag ein Kästchen abgestrichen wurde. Irgendwann würde die Vorfreude auf den Advent direkt im Anschluss an die Weihnachtszeit beginnen, da war sich Papa Kranz sicher. Und ihm graute davor.

In manchen Jahren hätte man die Weihnachtssterne auch fast nicht mehr abnehmen müssen, so lang hatten sie bis in den Frühsommer hinein an den Scheiben gehangen. Allerdings hatte Papa Kranz sich dann doch gefreut, von seinem Platz am sonntäglichen Frühstückstisch wieder den Garten beobachten zu können. Nach der anstrengenden Arbeit am Samstag genoss er es, das Ergebnis des Rasenmähens auch sehen zu können. Mit Weihnachtsschmuck war das kaum möglich. Im Winter erfüllte dieser aber wenigstens den Zweck, dass Papa Kranz den Schnee nicht sehen musste. Den mochte er fast noch weniger als weihnachtliche Vorfreude.

Aber in diesem Jahr war von Schnee noch nichts zu sehen. Die warmen Temperaturen machten den meisten Kranzens auch nicht gerade Hoffnung darauf, bald welchen erleben zu können. Keine geliebten Engel im frischen Schnee, keine gebauten Schneegestalten, keine wilden Schneeballschlachten mit Verfolgungsjagd, keine rasanten Fahrten auf dem Schlitten, aber zum Glück auch keine Eiszotteln an den Beinen der Hunde nach den Spaziergängen. Ob das jetzt immer so bleiben würde?

Lulu und Siah hatten schon Ersatz für sich besorgt. Wenn kein Schnee da war, den man verarbeiten konnte, dann nahmen sie eben Teig und formten dicke Schneemänner. Leider eigneten sie sich nicht zum Backen. So wurden die freundlichen Gestalten wieder eingestampft und es entstanden Herzen, Sterne, Lebkuchenmänner, Glocken, Stiefel, Monde, Rentiere, Tannenbäume und ein platter Riesenschneemann, der so groß war, dass er die gesamte Breite des Backblechs ausfüllte. Zusammen mit dem Zuckerguss und der liebevollen Dekoration entwickelte er sich zu einer echten Zuckerbombe.

„Du, Mama?“, unterbrach Lulu die gedankliche Reise ihrer Mutter. „Ich weiß ja, dass die Adventskalender in dem großen alten Koffer waren, den du schon mal für deine Schüler benutzt hast. Der ist ja jetzt leer. Kommen da dann die Weihnachtsgeschenke rein?“

Mama Kranz lachte. „Das würdest du gern wissen. Aber wenn du das weißt, dann ist es ja gar keine Weihnachtsheimlichkeit mehr.“ Sie überlegte kurz. „Aber weißt du was? Wir können jetzt in den Koffer unsere ganze Weihnachtsdekoration einpacken und damit unser Wohnzimmer schmücken.“

 

„Au ja!“ Lulu sprang begeistert in die Luft und rannte zu ihrer Schwester. „Wir schmücken jetzt das Wohnzimmer!“ Sofort kam sie zu ihrer Mutter zurück. „Kaufen wir dann auch einen Weihnachtsbaum?“

„Nein.“ Mama Kranz schüttelte den Kopf. „Den kauft ihr doch mit Papa zusammen. - Aber noch nicht jetzt!“, rief sie ihrer jüngeren Tochter hinterher, die direkt zu ihrem Vater stürmen wollte. „Wenn wir jetzt schon den Weihnachtsbaum aufstellen würden, hätte er an Weihnachten vielleicht gar keine Nadeln mehr.“

„Dann säßen wir unter einem Gerippe“, grinste Siah, die dazugekommen war. „Ein geschmücktes Weihnachtsbaumskelett.“

Mama Kranz lachte. „Wisst ihr, was Papa eigentlich vorhatte? Er wollte sich dieses Jahr den Baum sparen und dafür die Wurzel in unserem Garten schmücken. Er meinte, wozu sollte er einen toten Baum kaufen, wenn wir doch schon eine tote Wurzel im Garten hätten. Das ginge doch auch …“

„Nein!!!!“, protestierten die Kinder.

„Aber das hat er doch nicht ernst gemeint, oder?“, erkundigte sich Siah.

Mama Kranz grinste. „Wer weiß das schon. Aber ich kann euch beruhigen. Er hatte dann doch keine Lust, die Wurzel zum Haus zu ziehen. Ihr könnt also in drei, vier, fünf, sechs, sieben Wochen mit Papa zusammen losfahren, um einen Baum zu kaufen.“

„Aber dann ist doch Weihnachten schon längst vorbei!“, empörte sich Siah.

„Na gut, vielleicht dann doch ein bisschen früher“, gab Mama Kranz zu. „Aber nicht jetzt, denn jetzt …“

„... bereiten wir unser Wohnzimmer auf den Advent vor“, ergänzten die Kinder im Chor.


9. Dezember: Der Murmelkönig (K)

Es war die Zeit, in der Kinder zum Spielen auf die Straße gingen, als es noch keine Handys und Tablets gab, keine Spielekonsolen und auch keine Streaminganbieter und keine gefühlten neunhundertneunundneunzig Fernsehprogramme.

In dieser Zeit trafen sich die Kinder der Gartenstraße in Neuunteraudorf auf dem Feld hinter dem letzten Haus. Dort, wo der Boden besonders fest war und der Bauer extra nicht pflügte, da ebendort die Kinder so gerne spielten. Gerade war Murmeln schwer angesagt bei ihnen, und der ungekrönte König war Henry. Niemandem gelang es, so elegant wie Henry die Glaskugeln über die unebene Fläche in Richtung der Kuhle zu schnipsen, zu werfen, zu schieben. Es war egal, welche Regeln sie aufstellten – Henry beherrschte alle Techniken schon nach kurzer Zeit am besten. Und natürlich liebte Henry dieses Spiel. Wer wollte nicht gerne der Erste sein im täglichen Kampf um den Besten, Schnellsten, Größten oder Stärksten? In den meisten Kategorien war Henry höchstens Mittelmaß, doch hier, beim Murmelspielen, hier hatte er seinen Platz an der Sonne gefunden.

Natürlich gab es auch Neider: Olaf, den Hünen, den dumben Haudrauf, dessen Finger so gewaltig waren, dass er die kleinen Murmeln meistens viel zu weit stieß. Oder Lothar, den Schnellsten unter ihnen, der erst damit zurecht kommen musste, dass es auch andere Sieger neben ihm geben konnte. Doch die meisten Kinder hatten kein Problem damit, dass es ausgerechnet Henry war, der schon seit Tagen, wenn nicht seit Wochen, beim Murmeln dominierte. Warum auch? Spätestens nach den Sommerferien, die vor der Tür standen, würde es irgendein neues Spiel geben, das sie dann ausgiebig betreiben würden. Noch aber war es motivierend, eben Henry wenigstens ein, zwei Mal beim Murmeln zu schlagen, und einigen gelang dies recht gut. Beispielsweise Dirk, dem Fußballtorwart, der so nicht nur Geschick beim Fangen von Bällen zeigte, oder der altklugen Margot, die nicht nur einen viel zu unmodernen Namen trug, sondern stets so wirkte, als hätte sie schon deutlich mehr als nur ihre zwölf Lebensjahre erlebt.

Eigentlich, so dachte Henry eines Tages, eigentlich war die Welt in Neuunteraudorf in Ordnung. Zumindest war sie es bis vor wenigen Tagen gewesen. Sicherlich war es nicht besonders lustig, wenn sich Olaf, dieses tapsige, aber leider sehr kräftige Riesenbaby auf einen warf, weil er es originell fand, wenn der unten Liegende Staub und Sand einatmen musste. Sicherlich war es auch nicht besonders lustig, wenn Lothar sich darüber amüsierte, dass er ja schon längst eine Limo trinken könne, während Henry sich noch über die letzten Meter der Rennstrecke quälen müsse. Und sicherlich waren auch Margots unerträgliche Ergüsse über alles und jeden schwer nervig. Nur, so war es eben. So war es schon immer, denn sie waren alle zusammen hier aufgewachsen.

Jetzt allerdings, jetzt war dieses komplizierte Gefüge von eingespielter Rang- und Hackordnung in Gefahr, denn jetzt war Ralf da, und Ralf gehörte einfach nicht hierher, wie Henry fand.

Ralfs Familie war vor ein paar Tagen nach Neuunteraudorf gezogen, mit unzähligen Umzugskartons und vielen Koffern, und Ralf brachte einfach alles durcheinander. Nicht nur, dass die hübsche blonde Brigitte, die Henry still verehrte, ohne ihr sagen zu können, dass er gerne mal mit ihr Eis essen gehen würde, nicht nur, dass eben diese hübsche blonde Brigitte kürzlich ausgerechnet zu Henry gesagt hatte: „Ralf ist, glaub‘ ich, ganz in Ordnung.“ Nicht nur, dass Dirk, der Fußballtorwart, ausgerechnet Ralf angeboten hatte, in seiner Mannschaft mitzuspielen. Nicht nur, dass Ralf auch mit dem Rad schneller am Waldrand gewesen war als Henry. Nein, viel schlimmer war, dass Ralf auch noch einfach gut Murmeln spielen konnte.

Er spielte nicht nur gut Murmeln, er spielte sogar sehr gut. Er spielte so gut Murmeln, dass Henry nicht mehr der sichere Seriensieger war. Nein, Ralf gewann häufiger als Henry, und schon nach ein paar Tagen gewann Ralf fast immer.

„Nicht schlecht“, lächelte die blonde Brigitte Ralf zu, als dieser wieder einmal die entscheidende Murmel in der Kuhle versenkte. Und dieses Lächeln versetzte Henry einen Stich ins Herz.

„Wenigstens gewinnt jetzt mal ein anderer als immer nur Henry“, lachte der ruhige Ronny, der sich eigentlich aus allen Streitigkeiten heraushielt. Henry schluckte schwer.

„Na ja“, machte Ralf und zuckte mit den Schultern, „ich habe eben meinen Glücksbringer.“

„Einen Glücksbringer?“ Brigitte rückte neugierig näher und legte sogar ihre Hand auf Ralfs Schulter, so dass Henry sich nur mit Mühe zurückhalten konnte, seinem Gegenspieler nicht gleich vors Schienbein zu treten.

„Ja, hier. Schaut mal.“ Ralf griff in seine Hosentasche und holte eine große Glasmurmel hervor. Sie war viel größer als die, mit denen sie spielten, und in ihrem Inneren waren einige bunte Bänder eingelassen, so dass sie in allen Farben der Welt schimmerte und im Tageslicht glitzerte wie eine kleine eigenständige Sonne.

Henry war fasziniert. Und nicht nur er, denn alle anderen Kinder rückten näher an Ralf heran und wollten einen Blick auf diese Murmel erhaschen. Einige griffen nach ihr, doch Ralf hob sie in die Höhe und rief: „Nur anschauen! Nur anschauen!“

Beinahe ehrfürchtig ging ein Raunen durch die Menge der Kinder, und Henry war angewidert. Wieso lagen diese Idioten diesem Aufschneider nur zu Füßen? Er sah nicht mal besonders aus. Er war auch nirgendwo herausragend, weder der Schnellste, noch der Klügste, noch der Stärkste. Nur beim Murmelspielen …

„Gewinnst du deshalb immer gegen Henry?“, fragte Brigitte.

Immer? Henry wollte protestieren, nur das hämische Gelächter von Olaf dem Hünen hielt ihn davon ab. Warum sagte Margot nichts? Sie war doch sonst immer zur Stelle, wenn es um Falsches ging. Sie korrigierte doch sonst immer jeden.

„Ja klar“, brüstete sich Ralf und ballte theatralisch die Faust um die Riesenmurmel. „Das ist der König der Murmeln, das ist der Murmelkönig!“

„Dann spiel doch um den Murmelkönig, verdammt noch mal!“

Alles Gemurmel erstarb, und alle schauten verdutzt zu Henry. Er schluckte schwer. Hatte er das gerade tatsächlich gesagt? Hatte er Ralf, diese blasse Ratte, diesen Störenfried, tatsächlich soeben herausgefordert? Wie blöd war er nur? Ralf, dieser Schleimer, dieser Eindringling, hatte die letzten fünf Spiele gegen ihn gewonnen. Und heute, wenn er es recht bedachte, hatte es für ihn, Henry, nur zu einem einzigen Sieg gelangt. Selbst Dirk, der Torwart, hatte zweimal das Spiel für sich entschieden.

„Du willst gegen mich antreten?“ Ralf verzog vergnügt das Gesicht. „Nun, du sollst ja mal gut gewesen sein, wie Brigitte sagt, aber jetzt? Du verlierst doch ständig.“

Henry kochte vor Wut. Am liebsten hätte er Ralf eine Murmel an den Kopf geworfen, nur würde das Brigitte bestimmt nicht mögen, dachte er.

„Na, was denn? Erst große Töne spucken und sich dann nicht trauen?“ Ralf setzte noch eins drauf.

Alle schauten gespannt zu Henry, und der wusste: Er konnte nicht mehr zurück, ohne gänzlich das Gesicht zu verlieren. Schließlich stieß er hervor, wobei er sich bemühte, besonders selbstbewusst auszusehen: „Ich mich nicht trauen? Pah! Ich schlag‘ dich schon und deinen komischen Murmelkönig.“

„Na schön“, grinste Ralf im Gefühl des sicheren Sieges. „Und was setzt du?“

Was setze ich? Henry spürte, wie ihm Schweißtropfen auf der Stirn standen. Er hatte nichts, was auch nur annähernd so viel Wert hatte wie dieser verdammte Murmelkönig. „Ich…“

„Dein Fahrtenmesser!“

Henry schrak hoch: „Mein…?“ Er liebte sein Fahrtenmesser. Nicht jeder hatte eins, und seines war das schönste und auch das schärfste. Gestern hatten sie im Wald Äste abgeschnitten, und Henrys Messer war allen anderen überlegen gewesen. Außerdem hatte er es zum Heiligabend im vergangenen Jahr bekommen, und Weihnachtsgeschenke waren sowieso etwas Besonderes. Nein, er wollte nicht um das Fahrtenmesser spielen. Er wollte es nicht verlieren.

„Traust dich wohl nicht, oder?“

Brigitte kicherte albern, und Olaf nickte so stark, als ob er Ralf auch noch ganz besonders recht geben musste.

„Natürlich traue ich mich!“, entfuhr es Henry. Mein Messer! Nur, er konnte nicht zurück. Es ging nicht. Warum hatte er nicht einfach seinen Mund gehalten?

Ein Jubel ging durch die Gruppe der Kinder, und Dirk übernahm das Kommando: „Henry und Ralf spielen Der Letzte Gewinnt. Mit je fünf Murmeln. Um den Murmelkönig und um das Fahrtenmesser!“

Einige applaudierten, Ralf reckte noch einmal seinen Murmelkönig in die Höhe, Brigitte schaffte es erneut, ihn wie zufällig zu berühren und ganz an seiner Seite zu stehen. Henry konnte nicht mehr hinsehen, tastete nach seinem Fahrtenmesser, das er immer an seinem Gürtel trug. Es war sein ganzer Stolz…

„Los geht’s!“, befahl Dirk und hielt Henry zwei Fäuste entgegen.

Henry wählte die linke Faust, und sie war leer. Ralf begann somit das Spiel. Abwechselnd warfen sie jeder fünf Murmeln in Richtung der Kuhle, und Ralf traf zweimal direkt hinein. Henry hingegen spürte, wie seine Hände zitterten. Eine Murmel landete direkt auf der Kante der Kuhle, eine andere wenigstens in der Nähe, doch die drei übrigen Murmeln waren so weit entfernt, dass sie kaum alle in einem Durchgang zu versenken waren. Ralfs andere Murmeln lagen besser. Eine in der Nähe der Kuhle, die anderen zumindest in Positionen, von denen aus die Kuhle zu treffen war.

Na ja, dachte Henry, wenigstens würde es Ralf auch mit dem blöden Murmelkönig nicht gelingen, alle Murmeln in einem Rutsch in das Loch zu befördern. Aber Ralf war selbstsicher, begann nun, die außen liegenden Murmeln in die Kuhle zu schnippen. Zunächst die von Ralf, die direkt auf der Kante lag, dann eine von seinen, dann beugte er sich zur nächsten. Es sah so spielerisch aus.

„Toll machst du das“, flötete Brigitte.

Ralf war gerade dabei, diese Murmel zu schnippen. Er schaute aber gleichzeitig zu Brigitte, und so ging die Murmel knapp an der Kuhle vorbei.

Ein Aufstöhnen ging durch die Menge. Haben die wirklich erwartet, dass dieser blöde Ralf alle Murmeln sofort versenkt? dachte Henry, als er sich nach der verschossenen Glaskugel bückte und sie die paar Zentimeter bis ins Loch schnippte. Noch habe ich nicht verloren, dachte er. Es geht nur darum, die letzte Kugel zu versenken. Die letzte Kugel entscheidet. Er blickte sich um. Noch waren fünf Kugeln nicht eingelocht. Und drei waren richtig schwer…

„Na los, Henry!“, rief Margot.

„Das schafft er nie!“, ergänzte Lothar.

Na warte! Dir werd‘ ich’s zeigen! Wütend schnippte Henry die nächste Murmel, eine einfache Aufgabe, doch …

Sie rollte am Loch vorbei! Aufstöhnen in der Menge. Olafs Lachen dröhnte in Henrys Ohren, und Ralf verzog siegesgewiss den Mund, während er sich zu dem Fehlläufer bückte, kaum hinschaute, und ihn endgültig in die Kuhle beförderte. Unwillkürlich griff Henry nach seinem Fahrtenmesser.

 

„Ja“, zwinkerte ihm Ralf zu, „fass es noch mal an. Gleich ist es nämlich meins.“ Er suchte die nächste Murmel, blickte noch einmal zu Brigitte und …

... verschoss! Erneutes Aufstöhnen in der Menge. Henry konnte es kaum glauben. Viel zu sehr hatte er sich, so fühlte er, schon mit der drohenden Niederlage abgefunden. Und nun bekam er noch einmal eine Chance. Nur, die letzten Murmeln, sie waren so weit weg, und Ralf war einfach besser. Diese Erkenntnis schmerzte Henry, genauso wie das Verstehen, dass Brigitte vermutlich niemals ein Eis mit ihm essen würde, aber er wollte diese Erkenntnis gar nicht haben. Und er wollte auch sein Fahrtenmesser nicht hergeben.

„Tja, egal“, lachte Ralf. „Soll er’s noch mal probieren.“ Er stand auf und machte Platz für Henry. „Ich habe schließlich den Murmelkönig, und der gewinnt immer!“ Ralf zauberte die Riesenmurmel erneut aus der Tasche und zeigte sie herum, so dass sich sofort wieder alle anderen um ihn versammelten.

Henry bemerkte es erst, nachdem er die nächste Murmel in die Kuhle geschnippt hatte. Alle standen bei Ralf, keiner blickte zu ihm. Die einzige war Margot, die zumindest noch den letzten Treffer gesehen hatte, dann kurz zu den drei weit entfernten Murmeln sah und sich dann endgültig dem Murmelkönig zuwandte.

Und jetzt? Henry starrte auf die drei letzten Kugeln. Es war unmöglich. Es wäre großes Glück. Aber immerhin, es schaute niemand. Keine blöden Bemerkungen. Henry kniete sich hinter die erste dieser drei Kugeln, zielte, schnippte und traute seinen Augen nicht. Die Murmel sprang, hüpfte, rollte direkt zur Kuhle und hinein! Am liebsten hätte er nun triumphierend aufgeschrien, nur – es hatte niemand gesehen! Ralf nicht, der Möchtegern-Sieger. Olaf nicht, der dumme Idiot. Brigitte nicht, mit ihren blonden Haaren, die so schön dufteten…

Sein Herz schlug schneller. Er hatte Glück gehabt, nur er brauchte noch zweimal dieses Glück, und das war ausgeschlossen. In diesem Augenblick aber kam ihm die Idee. Er griff nach der ersten der verbliebenen Kugeln, beugte sich nach vorne, stützte sich ab und warf sie in das Loch. Schnell hatte er auch die zweite geschnappt, warf sie regelwidrig, sie fiel auf den Boden, rollte weiter, direkt zur Kuhle. Aus dieser Entfernung war es einfach, das Loch mit einem Wurf zu treffen, nicht aber mit einem Schnipsen.

„Ja!“, hörte er sich schreien. „Ja!“

Alle fuhren herum, gerade im richtigen Moment, als die kleine Glaskugel über den Rand lief und sich zu den neun anderen Murmeln gesellte.

„Ja!“, schrie Henry und sprang auf. „Ich habe gewonnen! Ich! Ich!“ Jubelnd schüttelte er seine Arme.

Fassungslos starrte Ralf in das Loch, griff hinein, zählte nach.

„Los, her mit dem Murmelkönig!“, rief Henry triumphierend. „Her damit!“

Unendlich langsam streckte Ralf ihm seine Faust entgegen und ließ seinen größten Schatz in Henrys Hand fallen. Der konnte sein Glück kaum fassen, griff nochmals nach seinem Fahrtenmesser. Nun besaß er die beiden größten Schätze. Den Murmelkönig und eben das Messer!

„Wahnsinn!“, stöhnte der ruhige Ronny. Olaf keuchte, Lothar hatte es die Sprache verschlagen. Brigitte warf Henry einen Blick zu, der bedeutete, dass es vielleicht doch noch etwas mit dem Eisessen, von dem sie noch gar nichts wusste, werden könnte. Andere jubelten und schrien durcheinander, waren begeistert von diesem Duell.

Und dann sah Henry Margots Blick. Ihre Mundwinkel zuckten nach unten, und ihre Stirn zog sich in Falten. Und auch Dirk schaute ihn skeptisch an. Ralf blickte todtraurig ein letztes Mal auf den Murmelkönig in Henrys Hand und schlurfte dann geschlagen davon.

Der Triumph war plötzlich nicht mehr so triumphal. Er stieß in Henry sauer auf. Einerseits fühlte es sich unglaublich gut an, diesen Murmelkönig in der Hand zu halten, den vernichteten Störenfried von hinten zu sehen, von Brigitte wirklich und wahrhaftig kurz umarmt zu werden. Aber andererseits stieg in Henry die Angst empor, dass Margot oder Dirk gesehen hatten, wie er sich zum Sieg geschummelt hatte. Warum sagten sie nichts? Gottseidank sagten sie nichts. Aber würden sie schweigen?

„Das war super!“, kreischte Brigitte, und sie bemühte sich, den Murmelkönig zu berühren.

„Hätte ich nie geglaubt“, grummelte Olaf.

„Ich auch nicht“, schüttelte Lothar ungläubig den Kopf. „Aus der Entfernung? Drei Murmeln? Nee…“

Margots Stirn zog sich noch mehr zusammen, und Dirk sagte: „Ich hätt’s gerne gesehen.“

Henrys Hand zitterte. Immer noch starrte er Ralf hinterher. Er hatte diesen Störenfried besiegt, diesen Angeber, diesen Aufschneider. Und das war gut! Andererseits hatte Ralf ihm sofort den Murmelkönig gegeben, obwohl niemand gesehen hatte, wie Henry die letzten Murmeln in die Kuhle befördert hatte. Ralf mochte ein Angeber sein, ein Schummler war er nicht. Und er zweifelte nicht einmal an, dass Henry dies über diese erstaunliche Entfernung vollbracht hatte.

Der Murmelkönig in Henrys Hand schien immer schwerer zu werden. Doch sollte er zugeben, dass er geschummelt hatte? Vielleicht hatten Margot und Dirk wirklich nichts gesehen. Und er war schließlich der Sieger! Und Brigitte…

Henry fühlte nach seinem Fahrtenmesser. Den Murmelkönig einfach zurückgeben? Kam nicht in Frage! Ralf eine Revanche bieten und sich danach anhören müssen, wie gut er – Ralf – doch war, weil er vermutlich gewinnen würde? Unerträglich.

Irgendjemand schlug ihm anerkennend auf die Schulter, dass es krachte. Olaf, der Hüne, nicht zu fassen! Die Anerkennung tat gut.

Noch einmal sah er Ralf hinterher, der traurigen Gestalt. Vermutlich weinte er jetzt, weil er seinen größten Schatz verloren hatte. Henry versuchte, sich darüber zu freuen, doch unwillkürlich wanderte seine Hand zum wiederholten Male zum Fahrtenmesser. Wie würde er reagieren, wenn er es verloren hätte? Und wenn Ralf vielleicht auch noch dabei geschummelt hätte?

Triumph, Stolz, Schadenfreude und ein merkwürdiges Gefühl, das ihm Übelkeit in seinem Magen bereitete… Er schämte sich. Nur – wie kam er aus der Nummer wieder heraus? Henry wusste es nicht. Aber der Tag, soviel war sicher, war endgültig verdorben.

Vielleicht hatte Ralf ja den Murmelkönig auch zu Weihnachten bekommen? Vielleicht war der Murmelkönig für ihn ein ebenso wertvolles Geschenk wie das Fahrtenmesser für Henry? Nein, es fühlte sich immer unangenehmer an, wie Diebstahl. Aber den konnte er doch nicht zugeben. Oder doch? Und wenn Ralf dann allen erzählen würde, dass Henry betrogen hätte? Nur, vielleicht tat er das gar nicht? Ralf war immerhin ein fairer Verlierer. Allerdings ein betrogener Verlierer. Also eigentlich kein wirklicher Verlierer.

Und da formte sich ein neuer Gedanke in Henrys Kopf. Wie wäre es, Ralf etwas zu Weihnachten zu schenken? Bis dahin war es noch recht lange hin, und das würde bedeuten, der Murmelkönig könnte erst einmal einen Ehrenplatz bei Henry bekommen. Dann aber könnte er …

Er atmete geradezu auf: Ja, der Murmelkönig als Geschenk! Das war kein wirkliches Zugeben eines Betruges. Eher eine freundschaftliche Geste. Wie sie alle es untereinander durchaus zu Weihnachten machten. Gut, es war nie etwas so Besonderes, vielleicht mal eine dem Freund fehlende Sammelkarte für das aktuelle Album oder ein besonders schön geformter Stein. Aber eigentlich war ja der Murmelkönig auch nur ein Haufen Glas. Und den konnte man doch auch wieder zurückschenken. Insbesondere wenn man sich gar nicht so wohl fühlte, wenn man ihn hatte. Oder?

Henry nickte sich innerlich zu. Er hatte bis Weihnachten noch Zeit zum Nachdenken. Vielleicht war Ralf auch gar nicht so übel? Brigitte, die immer noch um ihn hüpfte und “toll, toll“ schrie, nervte gerade sogar ein bisschen. Schummeln war nicht cool. Und das würde er wiedergutmachen. Jawohl! Aber später. Irgendwann. Bestimmt! Auf jeden Fall!