Geschichten aus dem Koffer

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Geschichten aus dem Koffer
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Impressum

Geschichten aus dem Koffer - Ein Adventskalender für die ganze Familie

Copyright: © 2021, Julia Krenz & Thomas Fuhrmann

Alle Rechte zu den Geschichten liegen beim jeweiligen Autor. Eine Aufstellung der Geschichten ist bei den Kurzbiografien der Autoren am Ende des Buches zu finden.

ISBN: 978-3-754923-15-3

Veröffentlicht über www.epubli.de - Neopubli GmbH

Unser Dank gilt unseren Familien, die es ertragen mussten, dass bei uns beiden ein Jahr lang Weihnachten war, und die trotzdem mit Rat und Tat, Kritik, sowie Test- und Korrekturlesen bereitstanden.

Vorwort

Adventszeit ist Lesezeit. Und wer hat es als Kind nicht gemocht, eingekuschelt neben Mama oder Papa zu liegen und sich vorlesen zu lassen, während man Weihnachten entgegenfiebert?

Mit unseren Geschichten begeben Sie sich gemeinsam mit Ihren Kindern auf Reisen, begleitet von Wichteln, Rentieren, dem Nikolaus, Raben und Papageien. Spinnen, Bienen und sogar ein Flusspferd sorgen für viel Vergnügen für Klein und Groß. Wer hat schon mal einen Drachen in der Kirche gesehen? Oder eine Hexe, der kaum ein Zauber gelingen will und die so für reichlich Chaos sorgt? Hier wird all das Wirklichkeit. Aber auch Besinnliches und Nachdenkliches kommen nicht zu kurz. Wie trifft man sich als Grundschüler mit seiner Freundin, wenn der Kontakt verboten ist? Was hat es mit einem geheimnisvollen Koffer auf dem Dachboden auf sich? Und was sind überhaupt Barbarazweige?

Nach der Vorlesezeit ist dann Gelegenheit, jeden Tag bei einer Geschichte für Jugendliche und Erwachsene zu entspannen. Die Erzählungen sind fröhlich, besinnlich, dramatisch, nachdenklich und berühren das Herz. Was geschieht mit dem Hund am Laternenpfahl? Was hat es mit der Frau mit dem Koffer auf sich? Was ist ein politisch korrektes Krippenspiel, und warum werden nur zwei nicht ganz so heilige Könige daran teilnehmen? Plätzchen, die nicht gelingen wollen, Sorge vor immer gleichen Weihnachtsfeiern, eine Geige, die noch nie erklang - alles ist enthalten. Sie sind dabei, wenn Josef darüber grübelt, wie anstrengend es ist, der Vater von Jesus zu sein, wenn eine Kriminalkommissarin eine höchst unfreiwillige Jagd auf einen Geist, eine Weiße Frau, unternimmt, und wenn eine Feier im Hochmittelalter vollständig entgleist. Was sind eigentlich Weihnachtserdnüsse? Und wie kann es sein, dass schon im Trojanischen Krieg Weihnachten gefeiert wurde, während eine kleine Nachricht in sozialen Medien viral geht?

Dieses Buch bietet beides: Für jeden Tag im Advent gibt es eine Geschichte für die Kleinen und zusätzlich eine für die Großen und Größeren. Und jeweils auch noch eine Bonusgeschichte für die Nachweihnachtszeit. Es sind „Geschichten aus dem Koffer“: Immer dabei, immer parat.

Jeder Tag beginnt mit der Kindergeschichte, gekennzeichnet mit einem (K) hinter dem Titel, anschließend folgt täglich die Geschichte für die Jugendlichen und Erwachsenen, erkennbar am (J&E) hinter der Überschrift. Zwischen den Tagen und Geschichten ist immer ein Trennbild eingefügt, so dass nicht aus Versehen beim Blättern schon die Geschichte des nächsten Tages erreicht wird.

In jeder Geschichte taucht ein Koffer oder ein anderes Gepäckstück auf. Und wer ganz genau aufpasst, kann auch etliche Querverbindungen zwischen den Geschichten entdecken, sogar zwischen den Erzählungen verschiedener Altersgruppen. Doch keine Sorge: Alle Geschichten sind auch ohne den Bezug zu einem anderen Text verständlich.

Wie ist denn nun der Name der Sammlung entstanden? Warum taucht ausgerechnet immer wieder ein Koffer auf? Dazu müssen wir zeitlich ein bisschen zurückspringen: Wir, die Autoren, sind beide Mitglied einer Kirchengemeinde. Julia ist für die musikalische Arbeit mit Kindern zuständig, Thomas für die Internetpräsenz. Im Zuge der Coronaschutzmaßnahmen konnten die musikalischen Gruppen zeitweise nicht mehr live stattfinden. Stattdessen entstanden Videos, die den Kindern und Eltern online zugänglich gemacht wurden. Bei diesen Videos benutzte Julia für die benötigten Materialien immer einen Koffer, den „Koffer voll Musik“. Thomas, der die Videos anschließend hochlud, fragte sich eines Tages, ob Julia denn nach der Masse an Videos irgendwann live auch ohne ihren Koffer noch erkannt werden würde. Geboren war die Idee zu „Die Frau mit dem Koffer“ (auch wenn weder Julia noch Thomas dort mitspielen). Nach dieser Geschichte entstanden immer weitere Erzählungen, die hier in dieser Sammlung zu finden sind.

Wir wünschen allen Lesern eine schöne, besinnliche, humorvolle und nachdenkliche Adventszeit mit der ganzen Familie!

Julia Krenz und Thomas Fuhrmann

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Dezember Alle Jahre wieder (K)

1. Dezember: Das Plätzchenrezept (J&E)

2. Dezember: Die Kuscheltiere feiern Advent (K)

2. Dezember: Weihnachtserdnüsse (J&E)

3. Dezember: Die Wichteltür (K)

3. Dezember: #NachrichtamBaum (J&E)

4. Dezember: Barbarazweige (K)

4. Dezember: Am Laternenpfahl (J&E)

5. Dezember: Flip und Flop in der Nikolausnacht (K)

5. Dezember: Die Frau mit dem Koffer (J&E)

6. Dezember: Nicki und der Nikolaus (K)

6. Dezember: Die neue Decke (J&E)

7. Dezember: Die kleine Hexe Elli Einfallsreich und ihre zauberhaften Weihnachtsplätzchen (K)

7. Dezember: Nächtlicher Besuch (J&E)

8. Dezember: Die Weihnachtswichtel (K)

8. Dezember: Familie Kranz und der Advent (J&E)

9. Dezember: Der Murmelkönig (K)

9. Dezember: Lebenspläne (J&E)

10. Dezember: Ein Koffer voller Wünsche (K)

10. Dezember: Ihr Kriegerlein kommet (J&E)

11. Dezember: Das heimliche Geschenk (K)

11. Dezember: Die stumme Geige (J&E)

12. Dezember: Das Rentier mit der schwarzen Nase (K)

12. Dezember: Die Frau im Café (J&E)

13. Dezember: Elli Einfallsreich auf dem Adventsbasar (K)

13. Dezember: Weihnachtserinnerungen (J&E)

14. Dezember: Der Ball (K)

14. Dezember: Vater und Sohn (J&E)

15. Dezember: Emis erste Reise (K)

15. Dezember: Der vierzigste Geburtstag (J&E)

16. Dezember: Das Rätsel (K)

16. Dezember: Traumreisen (J&E)

17. Dezember: Nur ein Traum? (K)

17. Dezember: Das politisch korrekte Krippenspiel (J&E)

18. Dezember: Hallöche (K)

18. Dezember: Die nicht ganz so heiligen zwei Könige auf ihrer Reise zum Glück (J&E)

19. Dezember: Sternenreise zum Glück (K)

19. Dezember: Verloren im Schnee (J&E)

20. Dezember: Elli Einfallsreichs magische Weihnachtsreise (K)

20. Dezember: Weihnachten bei Feinden (J&E)

21. Dezember: Der Schneemann (K)

 

21. Dezember: Nach Dienstschluss (J&E)

22. Dezember: Das zauberhafte Malbuch - Ein besonderes Geschenk (K)

22. Dezember: Die Weiße Frau – Gestrandet im Nirgendwo (J&E)

23. Dezember: Das zauberhafte Malbuch - Auf nach Bethlehem (K)

23. Dezember: Die Weiße Frau – Kein Weihnachtsfest in Groß-Finsterweiler (J&E)

24. Dezember: Heiligabend mit Elli Einfallsreich (K)

24. Dezember: Einmal nach Weihnachten bitte (J&E)

Bonus: Wo ist Mona? (K)

Bonus: La fête solennelle des Saints Innocents (J&E)

Die Autoren


1. Dezember Alle Jahre wieder (K)

Mila lag im Bett und hatte ihr liebstes Kuscheltier im Arm. Sie hatte Bello, den kleinen braunen Hund mit den langen Schlappohren, zu ihrer Geburt bekommen und seitdem jede Nacht mit ihm zusammen verbracht. Zuerst hatte er bei ihr am Fußende der Wiege gelegen, dann in ihrer Nähe. Seit sie in ihrem eigenen Bett schlief, früher mit Gitterstäben, die natürlich schon längst abgebaut waren, kuschelte sie meistens auch mit ihm beim Einschlafen.

Bello war ein guter Zuhörer. Er konnte hervorragend trösten und kuscheln und er meckerte nie, wenn sie ihn viel zu fest an sich drückte oder auf seinem Ohr liegend einschlief. Und er schien immer zu wissen, wie es ihr ging, manchmal sogar, noch bevor sie es sich selber eingestehen konnte.

„Na, bist du zu aufgeregt zum Schlafen?“ Bello stupste sie freundlich in die Seite.

Mila nickte. „Ist doch auch kein Wunder“, flüsterte sie zurück. „Mama hat heute den Adventskalender aufgehängt, und sie hat gesagt, dass in der Nacht die Wichtelmännchen kommen und die Geschenke dranhängen.“

„Und du würdest sie gern sehen?“

„Du doch auch!“

„Hmmmm …“, brummte Bello zustimmend. „Aber woher weißt du, dass sie diese Nacht unterwegs sind?“

„Noch ein Mal schlafen und dann darf ich doch schon das erste Päckchen aufmachen. Also müssen sie diese Nacht die Geschenke anbringen. Sonst kann ich morgen doch gar nichts aufmachen!“

„Da ist was Wahres dran …“ Bello überlegte. „Aber was ist, wenn sie nur kommen, wenn du schläfst?“

„Dann müssen wir einfach ganz leise sein, damit sie uns nicht hören. Und so tun, als ob wir schlafen.“

Mila legte sich auf die Seite, kuschelte sich in die Decke, achtete aber darauf, dass beide Ohren frei blieben. Sie dachte an den Wandbehang an der Küchentür, der mit vielen kleinen Wichtelmännchen und vierundzwanzig Zahlen bestickt war. Bei jeder Zahl war ein Ring angenäht, an dem dann ein Geschenk hängen würde. Mama hatte den Kalender gestaltet, als Mila damals in ihrem Bauch gewesen war. Und jedes Jahr holte sie ihn einen Tag vor dem 1. Dezember heraus. Heute schon zum sechsten Mal. An die ersten Jahre konnte Mila sich natürlich nicht erinnern, aber es gab Fotos, auf denen sie sich nach Geschenken streckte und versuchte, dabei nicht umzufallen.

Bello schnarchte leise vor sich hin. Mila lächelte. Und gähnte. Ihre Augen fingen auch schon an zu brennen. Wenn sie sie nur einmal kurz schließen würde …

„Pass doch auf!“, zischte eine Stimme. „Du bist mir schon wieder in die Hacken gelaufen!“

„Das kann überhaupt nicht sein“, brummte eine zweite Stimme zurück. „Ich bin weit hinter dir. So lang sind meine Beine überhaupt nicht. Außerdem könntest du mir mit dem Koffer ruhig mal helfen!“

„Ich trage dafür die Bänder. Und wer hat die ganzen Geschenke überhaupt erst eingepackt und in den Koffer gesteckt?“

„Geht das schon wieder los?“, beschwerte sich die zweite Stimme. „Du hast doch Poldi gehört. Wir arbeiten alle zusammen und versuchen, uns zu unterstützen, um den Menschen eine schöne Adventszeit zu gestalten. Dabei kommt es auf das Ergebnis an und nicht darauf, wer wie viel gemacht hat.“

Du willst doch, dass ich dir mit dem Koffer helfe!“, wunderte sich die erste Stimme.

„Um Hilfe zu bitten, sollte ja wohl auch noch erlaubt sein, vor allem, weil ich …“ Der Rest des Satzes ging in einem Poltern mit leisen Schreien unter.

Mila kletterte aus dem Bett und schlich zur Tür. Die Stimmen waren jetzt viel schwächer zu hören als vorher.

„Jetzt ist der Koffer aufgegangen, und wir sind mit allen Geschenken die Treppe hinuntergepurzelt“, beschwerte sich die zweite Stimme.

„Und hier am Bein bekomme ich bestimmt wieder einen blauen Fleck“, jammerte die erste Stimme. „Ich bin böse gefallen, weil ich mich in den Bändern verheddert habe. Es schwillt bestimmt auch an. Ganz sicher. Ich merke das schon …“

„Ja, ja, ich weiß. Du bist ganz schwer verletzt. Wie damals, als du dachtest, dass du nie wieder laufen könntest, nur weil dir ein Kuscheltier-Elefant auf den Fuß gestiegen war. Aber das können wir morgen klären. Jetzt hilf mir bitte erst mal mit den Geschenken. Wir müssen sie einsammeln und aufhängen, bevor noch jemand mitbekommt, dass wir hier sind.“

Mila hörte geschäftiges Trippeln, Schieben, Rascheln und Schleifen. Sie versuchte, durch das Schlüsselloch zu gucken, doch der untere Treppenabsatz lag nicht in ihrem Blickfeld. Außerdem war der Flur dunkel.

Sollte sie die Tür vorsichtig öffnen? Aber wenn sie dadurch die Wesen verscheuchte? Sie presste das Ohr an die Tür.

„So, geschafft!“ Der Koffer wurde mit einem Klicken verschlossen.

„Warte, ich helfe dir“, meldete sich die erste Stimme.

„Ach, jetzt doch auf einmal? Du willst wohl nicht ein zweites Mal hinfallen?“, spöttelte die zweite Stimme.

„Ist doch egal, freu dich doch! Außerdem hab’ ich Hunger. Ich habe noch überhaupt nichts gefrühstückt, weil du so gedrängelt hast.“

Mila hörte ein paar letzte Trippelschritte, die Flurtür öffnete und schloss sich, und dann war wieder Ruhe.

Vorsichtig drückte sie ihre Türklinke hinunter. Es war still im Haus. Der Flur lag dunkel vor ihr, nur spärlich erhellt durch das Mondlicht, das durch ein kleines Fenster im Treppenhaus fiel. Niemand war zu sehen.

Mila schloss die Tür und schlich wieder ins Bett zurück.

Am nächsten Morgen rannte sie mit Bello direkt zum Adventskalender. An jedem Ring hing ein kleines Geschenk, fein säuberlich befestigt mit einem roten Band. Manche Päckchen sahen allerdings ein bisschen zerknautscht aus, hatten eingedrückte Ecken oder leicht zerknittertes Papier.

Mila lächelte und flüsterte Bello zu: „Ich muss dir gleich unbedingt was erzählen. Das glaubst du nie!“


1. Dezember: Das Plätzchenrezept (J&E)

Sarah nahm sich einen kleinen Brocken aus der Schüssel und steckte ihn in den Mund. Hmmm … Gar nicht so übel. Aber etwas Besonderes war es auch nicht. Sollte sie noch etwas mehr Zimt nehmen? Nein, das hatte sie gestern schon probiert. Oder noch etwas mehr Kakao? Vielleicht war es auch schon zu viel? Sarah seufzte und vertiefte sich grübelnd wieder in ihr Rezept. Eigentlich müsste sie gar nicht mehr nachschauen, so oft hatte sie sich schon in den letzten Tagen daran versucht. Und jedes Mal war sie mit dem Ergebnis nicht zufrieden gewesen. Dabei backte sie diese Plätzchen schon seit ihrer Kindheit.

Für Sarah,

zum 11. Geburtstag

von Mama und Papa,

stand als Widmung auf der ersten Seite. Und seitdem hatte sie die Kekse in jedem Jahr gebacken, mindestens zwölf Mal. Und bis zum letzten Jahr war sie auch immer damit zufrieden gewesen. Aber allein in dieser Adventszeit hatte sie schon genauso viele Versuche gestartet. Und keines dieser Ergebnisse kam an die Plätzchen aus dem Vorjahr heran. Dabei wäre es grad in dieses Mal so wichtig gewesen.

Dieses war jetzt ihre letzte Chance, leckere Exemplare zu produzieren, denn morgen würde sie in den Zug steigen. Der Koffer war schon gepackt. Sie hatte gleich damit angefangen, als Alex die Nachricht geschickt hatte, die Nachricht, die sie nachts mit Herzklopfen aufwachen ließ. Die Nachricht, die dazu führte, dass sie tagsüber mit einem dümmlichen Lächeln aus dem Fenster starrte. Die gleiche Nachricht, die sie blind und taub machte, so dass ihre Kollegen sie schon in die Seite stießen, wenn Kunden Hilfe benötigten. Jedes Outfit war bewusst gewählt, gebügelt und ordentlich gefaltet im Koffer gelandet. Auf dem Stuhl neben dem Bett lagen ihr Lieblingsshirt und die neue Jeans für die Fahrt, dazu ihre edelste Unterwäsche. Nur eine Ecke des Koffers hatte sie freigelassen. Für ihre schönste Plätzchendose. Aber was ihr dafür noch fehlte, waren eben genau noch die Plätzchen. Dieser Versuch musste einfach gut werden.

Toll, dass Du auch kommst. Auf Dich freue ich mich besonders. Und auf Deine Kekse … Dazu hatte Alex einen seiner berühmten Grinsesmileys gesetzt. Er schien eine geheime Quelle dafür zu kennen. Als sie alle noch nur mit Lachen und Weinen gearbeitet hatten, hatte er ganze Gemälde aus Zeichen gestaltet. Und jetzt schien er für jede Emotion ein Bildchen zu kennen. Bisher hatte sie es nur im Gruppenchat bewundern dürfen. Aber die letzte Nachricht war für sie gewesen, nur für sie allein. Ein zwinkerndes Gesicht mit roten Wangen und einem angedeuteten Kuss. Das konnte nur bedeuten, dass er den Abend vom letzten Jahr auch nicht vergessen hatte. Und ausgerechnet jetzt wollten die Kekse einfach nichts werden.

„Das kann doch nicht wahr sein! Warum klappt das denn nicht?“

Sarah schlug entnervt das Buch zu und steckte sich noch einen Brocken des Teiges in den Mund.

„Weil deine Erinnerungen dir einen Streich spielen!“

Wo kam denn das gerade her? Sarah sah sich erstaunt um. Sie kannte niemand mit einer so hellen Stimme. Außerdem war sie doch allein in der WG.

„Du kannst mich nicht sehen.“ Die Stimme lachte. „Ich bin nämlich in dir.“

„In mir? Was soll das denn heißen?“

„Ganz einfach. Ich bin deine innere Stimme. Normalerweise kennst du mich nur, wenn du eine Idee hast. Oder wenn du nachdenkst. Dann klinge ich aber wie du. Also, wie ich. Denn ich bin ja du. Wir sind ja ich …“ Sarah hörte förmlich, wie die Stimme den Kopf schüttelte. „Du bringst mich ja völlig durcheinander.“

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Sarah automatisch.

„Schon gut. Ich wäre auch verwirrt, wenn ich mich das erste Mal hören würde.“

„Nein, es tut mir überhaupt nicht leid.“ Sarah stieß sich von der Arbeitsplatte ab und ging entschlossen durch die Küche. „Was rede ich denn da? Ich bin verrückt! Ich rede mit einer Stimme und entschuldige mich auch noch, dass ich die Stimme durcheinanderbringe. Was ist das denn für ein Quatsch?“

„Du bist nicht verrückt!“

„Nein, natürlich nicht, weil das ein blöder Scherz ist! Wer hat das inszeniert? Stefan? Oder Chrissy? Ihr hattet euren Spaß. Ich bin voll drauf reingefallen. Haha, sehr witzig! Aber jetzt kommt raus!“

„Deine Mitbewohner haben damit nichts zu tun. Ich bin es wirklich.“ Die Stimme klang ein bisschen ungehalten. „Ich kann auch wie du klingen. So kennst du mich.“

Sarah runzelte die Stirn.

„Ja, so hast du mich schon oft gehört“, dachte die Stimme in Sarahs Kopf. Sie klang nun wie ihre eigene Stimme. „Wenn die Plätzchen doch nur endlich so schmecken würden wie im letzten Jahr! Das denkst du doch, oder?“

„Das ist ja auch nicht schwer zu erraten! Schließlich wissen alle, dass ich seit fast zwei Wochen jeden Abend diese bescheuerten Kekse backe. Jeden Tag! Ich kann sie nicht mehr sehen. Und deshalb hat ja auch schon fast jeder in meinen Kursen oder im Copyshop meine Kekse gegessen.“

„Aber nur ich weiß, warum du dir solche Mühe gibst.“ Die Gedanken kamen einfach so in ihren Kopf. „Denn ich war letztes Jahr auch mit dabei.“

„Aaaaah! Das ist doch alles nicht wahr!“ Sarah blieb stehen, raufte sich die Haare und stützte sich auf der Arbeitsplatte ab. „Red wenigstens wieder mit deiner normalen Stimme. Das macht mich fertig, wenn du so klingst wie meine Gedanken. Wie soll ich dann wissen, was ich denke und was du sagst?“

 

„Bitte, gern, wenn es dir so lieber ist“, hörte Sarah wieder die hohe Stimme. „Aber eigentlich ist es auch völlig egal. Denn ich bin du. Das wollte ich dir ja gerade schon erklären, aber du hast mich unterbrochen. Darf ich jetzt?“

„Bitte, bitte, tu dir keinen Zwang an.“ Sarah wischte einen Krümel von der Arbeitsfläche. „Sag, was du zu sagen hast. Und dann lass mich bitte wieder in Ruhe!“

„Den Wunsch kann ich dir leider nicht erfüllen. Denn wie ich schon sagte, ich bin ein Teil von dir. Ich bin deine innere Stimme. Ich bin bei dir, solange du denken kannst. Ich bin dein Denken und ich bin dein Gewissen. Und ich gestalte mit dir deine Erinnerung.“

„Was meinst du damit, wir gestalten meine Erinnerung?“

„Dazu komme ich noch später. Denn das ist ein wesentlicher Punkt. Erinnerung ist subjektiv. Aber wo war ich? Ach ja, dabei, dass ich ein Teil von dir bin. Ich bin immer da. Wir sind zur gleichen Zeit wach, wir schlafen zur gleichen Zeit. Wir essen zusammen und wir arbeiten zusammen. Wir machen zusammen Sport, wir leiden zusammen, wir freuen uns zusammen und wir lieben zusammen. Wir kommen zusammen auf die Welt und wir sterben zusammen. Wir sind eins. Und meistens sind wir auch einer Meinung. Wenn du unsicher bist, fragst du mich um Rat und hörst auf mich. Das ist gut, denn es ist wichtig, mit sich selbst im Reinen zu sein. Aber die letzten Tage, da weiß ich gar nicht, was ich mit dir machen soll.“

„Die letzten Tage?“, unterbrach Sarah den Gedankengang ihrer inneren Stimme.

„Du weißt genau, was ich meine. Die letzten fast zwei Wochen bist du nicht mehr du selbst gewesen. Genauer gesagt seit 13 Tagen, seit dem Moment, in dem du die Nachricht gelesen hast, die Alex dir geschrieben hat.“

„Du weißt von der Nachricht?“ Sarah spürte, wie ihre Wangen warm wurden.

Ihre Stimme seufzte. „Natürlich weiß ich von der Nachricht. Soll ich es noch einmal wiederholen? Wir sind zur gleichen Zeit wach, wir schlafen zur gleichen Zeit. Wir essen …“

„Nein, schon gut! Ich glaube, ich habe es verstanden.“ Sarah schüttelte den Kopf. „Soweit man das überhaupt verstehen kann …“

„Also, noch einmal zurück: Natürlich kenne ich die Nachricht. Und ich weiß auch, warum du seitdem jeden Tag Plätzchen backst. Und jeden Tag nimmst du dafür dasselbe Rezept. Nicht mal Vanillekipferl und dann Lebkuchen, am nächsten Tag vielleicht Schwarzweiß-Gebäck und danach Schoko-Nuss-Makronen. Nein, immer dasselbe Rezept. Das Rezept, das du seit deinem 11. Geburtstag in jedem Jahr gebacken hast.“

„Ja, und immer haben die Kekse geschmeckt. Nur jetzt, ausgerechnet jetzt wollen sie nichts werden“, jammerte Sarah. „Dabei habe ich alles probiert: Ich habe mal ein bisschen mehr Zimt genommen, mal ein bisschen weniger, mal mehr Kakao, mal weniger Kakao, dafür aber mehr Zimt und Honig, mal waren sie bei niedrigerer Temperatur länger im Backofen, mal hatte ich ihn etwas heißer eingestellt. Was ich auch versucht habe, nichts hat geholfen! Und jetzt erzählst du mir, ich sei nicht ganz bei mir. Ist das etwa ein Wunder?“ Sarah ließ sich auf den Fußboden sinken und lehnte sich gegen den Küchenschrank.

„Hast du den Keksen denn jemals eine echte Chance gegeben?“, fragte die Stimme freundlich.

„Wie meinst du das? Natürlich habe ich sie probiert!“

„Ja, das weiß ich. Aber was hast du dabei gedacht, als du sie probiert hast? Vor zwölf Tagen oder letzte Woche oder gestern?“

„Das musst du doch wissen! Ich dachte, wir machen alles zusammen.“

„Natürlich weiß ich es. Ich möchte es aber von dir hören!“

Sarah schüttelte den Kopf. Sie hatte fast den Eindruck, ihre Stimme würde sich zurücklehnen und sie abwartend ansehen. Vielleicht wippte sie auch noch mit dem Fuß. Hatte sie etwa Sandalen an? Flip-Flops? Im Winter? Was denke ich da nur? Eine Stimme trägt Flip-Flops?

„Du lenkst ab!“, ermahnte sie die Stimme. „Natürlich trage ich gern Flip-Flops. Ich bin du, schon vergessen?“

Sarah sah auf ihre Füße. Ja, auch sie lief gern barfuß oder mit Flip-Flops herum. Im Winter allerdings nur in der Wohnung. Dafür zog sie sich allerdings auch als erste einen Pullover über, wenn alle anderen noch kurzärmelig herumliefen und die letzten Sonnenstrahlen genossen. Eigentlich war sie eben doch ein Friasling, wie ihr Vater sie früher immer genannt hatte, da sie so schnell fror.

„Ein Friasling mit Flip-Flops“, lachte die Stimme. „Aber zurück zum Thema!“

„Was war das noch mal?“

„Die Kekse. Hast du ihnen jemals eine echte Chance gegeben? Was hast du gedacht, als du sie probiert hast? Oder besser: Woran hast du dabei gedacht?“

Sarah atmete tief ein und aus und schloss die Augen. Sofort fühlte sie sich zurückversetzt an den einen entscheidenden Abend im letzten Jahr. Auch damals waren sie zusammen auf der Hütte gewesen, Sarah, Alex, Jenny, Niklas und Tobi, ihre ganze Clique aus der Schulzeit. Sie waren zusammen Ski gefahren, hatten Schneewanderungen unternommen, waren im Schwimmbad und hatten sich eine Schneeballschlacht geliefert, die sich gewaschen hatte, bis sie dann lachend im Schnee gelandet waren. Abends hatten sie bei Käse und Wein zusammengesessen und sich die alten Geschichten erzählt. Von Herrn Schleich, der ohne seine Chemie-Notizen aufgeschmissen war, und der alten Knobloch, die immer heimlich ihre Illustrierten während der Aufsicht las. Und irgendwann waren nur noch Alex und sie übrig geblieben. Das Feuer knisterte, sie lachten, der Wein zeigte seine Wirkung, und nach und nach war der Abstand zwischen ihnen immer geringer geworden. Es fühlte sich einfach nur natürlich an, sich an ihn zu lehnen, ihre Hand in seiner zu spüren, seinen Daumen auf ihrem Handrücken, ihrer beider Finger, die sich ineinander verschränkten. Ihr ganzer Körper hatte gekribbelt, nicht nur die Stellen, die er berührt hatte. Und dann hatten sie sich mit Plätzchen gefüttert, den Plätzchen, die sie mitgebracht hatte. Irgendwann wischte er ihr einen Krümel aus dem Mundwinkel und küsste sie vorsichtig. Sie fühlte Wärme, Kribbeln, das Kratzen seines Bartansatzes, schmeckte Wein, Käse und eben ihre Plätzchen. Sie fühlte sich zu Hause, angekommen, eine vertraute Situation und trotzdem aufregend neu.

Am nächsten Morgen hatten die anderen wissende Blicke geteilt. Niklas konnte sich natürlich einen Kommentar nicht verkneifen und wurde dafür von Jenny strafend in die Seite gestoßen. Dabei war gar nichts passiert. Wie auch? Es gab ja nur zwei Schlafzimmer und ihres teilte sie sich mit Jenny. Diese hatte natürlich schon längst geschlafen, schließlich waren die Sterne am Himmel schon blasser geworden. Oder der Himmel heller, wie man es sehen wollte.

Diese Nacht hatte sie trotzdem nicht vergessen. Und mittendrin ihre Plätzchen.

Alex war kurz nach Silvester wieder zum Studium nach Barcelona zurückgekehrt, und sie hatte ihre Tage im Zwiespalt zwischen der Uni und dem Job im Copyshop verbracht. Natürlich hatte sie Alex nicht das ganze Jahr hinterher getrauert. Trotzdem hatte sie immer mal wieder an ihre gemeinsame Nacht gedacht. Und er hatte es offensichtlich auch nicht vergessen. Und die Rolle, die ihre Plätzchen dabei gespielt hatten, auch nicht.

„Und deshalb ist es auch so wichtig, dass sie genauso gut werden wie letztes Jahr“, ergänzte Sarah ihre Gedanken.

„Und da haben wir das Problem.“

„Genau. Sie waren super. Und jetzt schmecken sie, tja, halt nach Margarine, Mehl, Zucker und Eiern.“

„Nicht zu vergessen, nach Zimt und Kakao“, neckte sie die Stimme.

„Hey, das ist ein ernstes Problem!“, beschwerte sich Sarah. „Sie waren magisch, und jetzt sind es einfach Plätzchen.“

„Das ist das, was du in ihnen siehst. Und das meinte ich, als ich mich bei dir eingeschaltet habe. Deine Erinnerungen spielen dir einen Streich.“

„Was meinst du damit?“

„Erinnerungen sind nie objektiv. Sie sind nicht messbar. Frage drei Personen, die gemeinsam einen Abend erleben. Jeder wird dir die Situation anders schildern. Es spielt so viel zusammen. Deine Gefühle, deine Stimmung, deine gemachten Erfahrungen, deine Gedanken: All das beeinflusst deine Erinnerung.“

„Du meinst, es ist gar nicht so passiert, wie ich es in Erinnerung habe?“

„Doch, für dich in diesem Fall schon. Aber es wäre sogar möglich, dir eine Erinnerung an eine Begebenheit zu schaffen, die du gar nicht selber erlebt hast. Und trotzdem könntest du irgendwann das Erlebte in der Erinnerung spüren.“

„Das klingt verrückt.“ Sarah umfasste ihre Knie.

„Es ist auch verrückt. Aber trotzdem möglich. Und auch dir ist es schon passiert!“

„Mir? Was weißt du? Willst du damit sagen, mein Leben ist eigentlich ganz anders verlaufen?“

Die Stimme lachte beschwichtigend. „Keine Sorge! Den Großteil deines Lebens hast du schon wirklich erlebt und hast dir deine eigenen Erinnerungen erschaffen. Aber erinnerst du dich an den 85. Geburtstag deiner Tante Tilly? Damals, als du vier Jahre alt warst?“

Sarah überlegte. „Da waren wir doch gar nicht. Weil ich die Treppe runtergefallen bin und ins Krankenhaus musste.“

„Stimmt, ihr, also wir waren nicht da. Aber im Krankenhaus warst du auch nicht.“

„Nicht? Aber ich kann mich doch an die Schmerzen erinnern. Mein Knie tat wochenlang weh!“

„Ja, du bist auch gefallen. Allerdings nicht die Treppe hinunter, sondern beim Hochlaufen. Du bist ausgerutscht und hingefallen. Dein Knie war aufgeschlagen. Das hat gebrannt, vor allem beim Baden. Aber im Krankenhaus waren wir nicht.“

„Aber ich kann mich doch daran erinnern. An die Aufnahmeschwester, die ständig eine Möhre im Mund hatte und nur gemeckert hat. An den Flur mit dem quietschenden Boden. Und an den Geruch.“

„Das ist alles nicht passiert. Das haben dir deine Eltern erzählt. Die Krankenschwester gab es auch, aber nicht da. Sie war an der Anmeldung, als deine Eltern mit dir zur Entbindung gekommen sind.“

„Warum sollten sie mir so eine Geschichte erzählen? Warum sollten sie so etwas tun?“

„Sie hatten sich gestritten. Dein Vater wollte nicht mehr mitkommen und deine Mutter hatte überhaupt keine Lust, allein zu fahren und allen zu erklären, wo denn ihr Mann sei und warum er nicht mitgekommen war. Und dann bist du hingefallen. Das war wie ein Zeichen für sie, die bequemste Lösung, aus der Situation zu kommen: Die Geschichte, dass du ins Krankenhaus musstest, schön ausgeschmückt mit der Möhrchen kauenden Krankenschwester. Und du wolltest sie immer wieder hören. So sind die Erinnerungen gewachsen. Es gibt sie aber nur in deinem Kopf.“

„Das ist ja irre!“ Sarah streckte ihre Beine aus.

„Da muss ich dir zustimmen. Irre, aber möglich.“

„Und jetzt willst du sagen, dass die Plätzchen ganz anders geschmeckt haben? Das wäre ja möglich, wenn man sich schon an einen ganzen Krankenhausaufenthalt erinnern kann, den es gar nicht gab. Vielleicht waren sie ja total pappig.““

„Nein, sie waren gut. Aber du verbindest den Geschmack der Plätzchen mit der besonderen Stimmung des Abends. Dadurch wurden sie für dich zu den magischen Keksen, die du in Erinnerung hast. Weißt du noch, wie du die Plätzchen vorher fandest? Waren sie da auch schon besonders? Oder waren es einfach nur die Plätzchen, die du schon immer gebacken hast?“