Öffentliches Wirtschaftsrecht

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2. Historische Wurzeln

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Der vor allem in den Anfangsjahren der Bundesrepublik ausgetragene Streit um die Wirtschaftsverfassung zeigt die Zeitbedingtheit vieler ökonomischer und politischer Vorstellungen und wohl auch die Vergeblichkeit, ein einheitliches Modell staatlicher Einflussnahme auf die Wirtschaft zu entwickeln. Auch insoweit ist die heutige Gestalt der Wirtschaftsordnung das Produkt einer historischen Entwicklung, die mit der frühen Neuzeit einsetzt. An dieser lassen sich die Grundpositionen für das Verhältnis von Staat und Wirtschaft illustrieren, die bis heute nicht nur die politische Diskussion, sondern auch die Normen des öffentlichen Wirtschaftsrechts prägen. Wieder aufgelebt ist diese Diskussion im Regulierungsrecht, s. unten Rn 18, 23 ff.

a) Merkantilismus und staatliche Lenkung der Wirtschaft

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Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert nahmen die Staaten Europas massiven Einfluss auf den Wirtschaftsprozess. Primäres Ziel war die Stärkung der Wirtschafts-, Handels- und Finanzkraft der absolutistischen Staaten, ohne dass dem eine in sich geschlossene wirtschaftspolitische Konzeption zugrunde gelegen hätte. Dieser sog. Merkantilismus bezeichnet also kein wirtschaftstheoretisches oder gar juristisches Lehrgebäude, sondern allenfalls ein Bündel wirtschaftspolitischer Maßnahmen, das sowohl in zeitlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht markante länderspezifische Unterschiede aufwies. Während die meisten europäischen Staaten sich auf den Handel konzentrierten, lenkte der vor allem zu Beginn stark von der Wirtschaftsgesinnung des lutherischen Fürstenstaates[23] geprägte deutsche Kameralismus sein Augenmerk umfassender auf das Ganze des Staates. Sein Ziel war angesichts des gerade überstandenen Dreißigjährigen Krieges die Erhöhung der Bevölkerungszahl, aber auch die Wohlfahrt des absoluten Fürstenstaates beziehungsweise dessen Schatzkammer, der camera. Die Förderung von Handel und Gewerbe war freilich – neben einer umfassenden eigenen wirtschaftlichen Betätigung des Staates durch Staatsbetriebe – die Voraussetzung für eine Sanierung der Staatsfinanzen. Aufgabe des Staates war somit die Förderung einer umfassend verstandenen staatlichen Wohlfahrt[24].

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Die eingesetzten Mittel unterschieden sich in den europäischen Staaten nur wenig. Der Staat schützte die einheimische Wirtschaft durch Abschottung nach außen (Einfuhrzölle auf Fertigprodukte; Förderung des Exports), förderte bestimmte für den wirtschaftlichen Fortschritt wesentliche Wirtschaftszweige (v.a. Bergbau) durch Monopole und begrenzte durch den Zunftzwang (weiterhin) die Zahl der Gewerbetreibenden, mit den sogenannten „Staatsregalen“ unterhielt er Infrastruktureinrichtungen in eigener Verantwortung“.

Beim Zunftwesen handelte es sich freilich um eine deutlich ältere, sich seit dem 13. Jahrhundert entwickelnde Form staatlich verfasster Selbstorganisation der Wirtschaftstätigkeit. Sie verfügte über eine eigene Zunftgerichtsbarkeit, regelte die Arbeitszeiten und bemühte sich um die Qualität „zünftiger“ Leistungen und Produkte. Zünfte orientierten sich ferner an aristotelisch-scholastischen Vorstellungen vom „gerechten Preis“, der keineswegs zwingend der Marktpreis war. Ergänzt wurde diese Entwicklung durch strenge Ausbildungsvorschriften (Lehrlings- und Gesellenzeit, Meisterstück) und eine umfassende „Zuverlässigkeitsprüfung“ (Vermögensnachweis, guter Leumund). Nur Bürger konnten das Handwerk ausüben, das heißt, mit dem Meisterrecht musste auch das Bürgerrecht erworben werden. Das Zunftrecht diente also auch der Abschottung des Marktes nach außen. Erst die jüngsten Handwerksnovellen nahmen endgültig Abschied von solchen Vorstellungen und vollendeten die Öffnung für den europäischen Binnenmarkt (s. Rn 39, 125, 457 f).

b) Liberalismus und Gewerbefreiheit

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Abgelöst wurden diese feudal-ständisch geprägten merkantilistischen Vorstellungen durch die bürgerliche ökonomische Liberalität. Der Liberalismus basierte auf einer strikten Dichotomie von Gesellschaft und Staat und führte zu den Reformen des 19. Jahrhunderts[25], insbesondere der Einführung der Gewerbefreiheit, als deren Gegenpol das Zunftwesen angesehen wurde. Der Idee der Freiheit von (staatlichem) Zwang entsprach im wirtschaftlichen Kontext das Prinzip des Laissez-faire. Die klassische Nationalökonomie (Adam Smith, David Ricardo) forderte das freie Spiel der Kräfte, das am besten in der Lage sei, die ökonomischen Probleme optimal zu lösen und bildete damit den Gegenpol zum merkantilistischen Ideal einer „allsorgenden bürokratischen Wirtschaftspolizei“[26]. Nach Smith lenkt in einer harmonischen, von der menschlichen Arbeitsteilung bestimmten Ordnung eine invisible hand die Individuen kraft ihrer natürlichen Eigeninteressen in die richtige Richtung. Der Staat sollte in wirtschaftlicher Hinsicht weitgehende Enthaltsamkeit üben, wirtschaftliche Ordnung sollte gerade durch Freiheit entstehen, nicht durch Recht. Rechtliche Konsequenz war die (einfachgesetzliche) Einführung der Gewerbefreiheit, die in dieser Phase weit effektiver war als die verfassungsrechtliche Garantie der Berufs- und Eigentumsfreiheit[27].

Gewerbefreiheit bedeutete zunächst Gewerbezugangsfreiheit als Gegenmodell zum Zunftwesen. Seit dem 15. Jahrhundert beschränkten die Zünfte als kartellartige Organisationen den Marktzutritt und verhinderten weitergehenden Wettbewerb, indem alle nicht einer Zunft angehörenden Handwerker als „Pfuscher“ verfolgt wurden. Nach dem Dreißigjährigen Krieg erwies sich das Zunftwesen ungeachtet seiner hehren Ziele allerdings eher als Hemmschuh für die weitere Entwicklung. Beispielhaft zeigte der Kampf gegen die Bandmühle die Rückständigkeit der Zünfte. Mit Hilfe dieser Maschine konnte eine ungelernte Arbeitskraft ebenso viel produzieren wie 16 gelernte Handwerker. 1676 forderten die für textiles Knüpf- und Flechtwerk zuständigen Posamentierzünfte des Deutschen Reichs das Verbot dieser Maschinen, das 1685 durch kaiserlichen Erlass ausgesprochen und 1719 erneuert wurde. Deshalb wanderte die fortschrittliche Technik nach Basel und ins Bergische Land ab. 1749 hob Friedrich der Große das Verbot der Bandmühle für Preußen mit folgender Begründung auf: „Wir halten es für einen dem gemeinen Wesen schädlichen Handwerksmissbrauch, diejenigen Mittel, die zur Erlangung eines wohlfeilen Preises der Ware gereichen, nicht zur Hand zu nehmen“. Entscheidende Fortschritte waren in den deutschen Ländern im Gefolge der Französischen Revolution zu verzeichnen[28]. Die Entwicklung begann in den französisch beherrschten Territorien bereits in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts. 1808 folgten das Königreich Westfalen und 1809 das Großherzogtum Berg. In Preußen, das nach der Niederlage gegen Frankreich im Tilsiter Frieden von 1807 auf über die Hälfte seines Territoriums verzichten musste, verfügte das Oktoberedikt zur Bauernbefreiung des gleichen Jahres die Gewerbefreiheit im Grundsatz, nachdem die Aufhebung einzelner Zünfte bereits 1806 begonnen hatte. Das Gewerbesteueredikt von 1810 (PrGS 1810, S. 79) band die Ausübung eines Gewerbes nur noch an den Erwerb eines Gewerbescheins, wurde allerdings umgehend um das Gewerbepolizeigesetz von 1811 ergänzt[29]. Mit der allgemeinen preußischen Gewerbeordnung vom 17. Januar 1845 (PrGS 1845, S. 41) wurde das Gewerberecht in Preußen vereinheitlicht und die Gewerbefreiheit für das gesamte Staatsgebiet eingeführt[30]. Andere Länder folgten, so etwa Sachsen, Baden, Württemberg und Bayern in den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts.

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Die zentrale Rolle bei der Vereinheitlichung der Wirtschafts- und Sozialpolitik spielte der Norddeutsche Bund. Am 21. Juni 1869 schufen die Länder des Norddeutschen Bundes in Anlehnung an das preußische Vorbild aus dem Jahre 1845 eine einheitliche Gewerbeordnung. Sie wurde 1871/72 als Reichsgewerbeordnung für das Deutsche Reich übernommen und führte in allen Bundesstaaten die Gewerbefreiheit ein, die bis heute in § 1 GewO enthalten ist. Der Zunftzwang und die Abhängigkeit des Gewerbetreibenden von behördlicher Konzession wurden aufgehoben und es setzte sich im rechtsstaatlichen Denken des 19. Jahrhunderts die Beschränkung des (Gewerbe-)Polizeirechts auf die Abwehr von Gefahren durch. Die GewO wurde als „Sonderpolizeirecht“ die bis heute in ihren Grundlinien unveränderte[31] Basis des Wirtschaftsaufsichtsrechts[32]. Gleichzeitig löste sich die Rechtswissenschaft von der ökonomisch dominierten Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft). Dies markierte zugleich den Beginn des modernen Verwaltungsrechts[33].

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Dennoch widmete sich der Staat weiterhin solchen Wirtschaftszweigen in besonderer Weise, die er als lebenswichtig für das Funktionieren von Staat und Gesellschaft erachtete. Anders als im Bereich des sogenannten „Regulierungsrechts“ (s. unten Rn 23, 495 ff) erbrachte der Staat allerdings die Leistungen in eigener Trägerschaft. Aus dem Modell der Staatsregale entwickelte sich das staatliche Monopol.

 

Dies galt nicht nur für die Verkehrsinfrastruktur (Straßen bzw Wasserstraßen), es passte sich dynamisch der technischen Entwicklung an. In Deutschland wurde neben den Eisenbahnen auch das Fernmeldewesen in staatlicher Trägerschaft errichtet. Das Fernmeldemonopol ging zurück auf § 1 des Gesetzes über das Telegraphenwesen des Deutschen Reiches[34], in dem das Fernmeldewesen seine erste grundlegende Kodifikation fand. Dort hieß es: „Das Recht, Telegraphenanlagen für die Vermittlung von Nachrichten zu errichten und zu betreiben, steht ausschließlich dem Reich zu. Unter Telegraphenanlagen sind die Fernsprechanlagen mit begriffen.“ Dieses Fernmeldemonopol wurde in § 1 des Gesetzes über Fernmeldeanlagen (FAG) übernommen, das in der Bundesrepublik Deutschland zusammen mit dem Telegraphenwegegesetz (TWG) den traditionellen Rechtsrahmen für Telephonie und Telegraphie bildete. Auch Wasser und Elektrizität wurden in Deutschland dem Bürger als staatliche Leistungen zur Verfügung gestellt, diese freilich regelmäßig in kommunaler Trägerschaft. Dass sich der Staat auch heute dieser Aufgabe nicht völlig entziehen kann, folgt entweder aus konkreten Verfassungsaufträgen wie in Art. 87f GG für die Telekommunikation oder letztlich aus dem Sozialstaatsprinzip. Nach dem BVerfG ist „das Interesse an der Stromversorgung … heute so allgemein wie das Interesse am täglichen Brot“[35].

c) Vom Interventionismus zur sozialen Marktwirtschaft

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Die Ausrichtung der Wirtschaft an den Ideen des Liberalismus ermöglichte zwar eine enorme Leistungssteigerung, sie führte aber auch – vor allem in Krisenzeiten – zu sozialen Problemen. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts spielte deswegen der sog. Interventionismus eine große Rolle. Auch darunter versteht man weniger eine wirtschaftswissenschaftliche Theorie als ein Bündel wirtschaftspolitischer Maßnahmen zur Beeinflussung volkswirtschaftlicher Globalgrößen (zB Beschäftigung, Einkommensverteilung, soziale Sicherung, Marktanteile, Strukturwandel). Anders als beim Dirigismus greift der Staat allerdings nur punktuell in den Wirtschaftsablauf ein[36]. Wichtigstes politisches Konzept in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts war die Forderung nach Wirtschaftsdemokratie. Die Art. 151 ff WRV enthielten eine 15 Artikel umfassende „Regelung der Ordnung des Wirtschaftslebens“[37], die einen Ausgleich zwischen den gegenläufigen Strömungen versuchte. In dieser Zeit entstand auch der Begriff des Wirtschaftsrechts als Konsequenz auf die veränderte Haltung gegenüber der staatlichen Einflussnahme auf die Wirtschaft.

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Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist in Deutschland die Zeit der sozialen Marktwirtschaft[38]. Die Koordination der arbeitsteilig aufeinander bezogenen Wirtschaftssubjekte vollzieht sich nach den Regeln des Marktes. Vertragsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit sind notwendige rechtliche Voraussetzungen, die Aufgabe der Rechtsordnung besteht aber auch in der Unterbindung des Missbrauchs von Marktmacht. Dementsprechend wird das öffentliche Wirtschaftsrecht auch unter dem GG von dem skizzierten Dualismus von staatlicher Intervention und wirtschaftlicher Freiheit geprägt. Besonders deutlich zeigt sich dies an denjenigen Bereichen des öffentlichen Wirtschaftsrechts, die sich als Folge der Privatisierung vormals staatlicher Leistungserbringung (s. Rn 23) entwickelten.

d) Die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes

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In seiner ersten Phase trug das Europarecht stark zu einer Liberalisierung des nationalen Wirtschaftsrechts bei, indem die nationalen wirtschaftsrechtlichen Vorschriften häufig als unverhältnismäßige Behinderung des Binnenmarktes eingestuft wurden[39]. Zunehmend gestaltete die EU aber auch aktiv ganze Sektoren um und öffnete sie für den Binnenmarkt. Erst unter dem Einfluss Brüsseler Vorgaben kam es zur Privatisierung vormals staatlicher Monopole im Bereich der Daseinsvorsorge, beginnend mit der Telekommunikation (s. Rn 498). Nicht immer wurde dies in Deutschland aber wahrgenommen. Die Liberalisierung der Kapitalmärkte und des Bankenwesens beispielsweise hatte in anderen Mitgliedstaaten erhebliche Auswirkungen; in Deutschland blieben die anfänglichen Entwicklungen zunächst praktisch unbemerkt, weil die ersten Richtlinien auf entsprechend freie Märkte trafen.

Auch die Vollendung des Binnenmarktes lässt sich nicht nur mit dem politischen Ziel der Einigung Europas, sondern ebenfalls mit gängigen ökonomischen Theorien und Vorstellungen begründen. Der Gedanke, dass das grenzüberschreitend arbeitsteilige Wirtschaften für alle Beteiligten wirtschaftlich vorteilhaft ist, geht bereits auf Adam Smith und David Ricardo zurück[40]. Gerade für den europäischen Kapitalmarkt haben aktuelle ökonomische Studien[41], die erheblichen Einfluss auf die Konzepte der Kommission haben, die Integration der nationalen Märkte als Wachstumsfaktor betont, nicht zuletzt als Voraussetzung für die Positionierung der europäischen Wirtschaft angesichts der Herausforderungen der Globalisierung. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass auch die Auslegung von Marktfreiheiten und europäischem Wettbewerbsrecht stark von ökonomischen Vorstellungen geprägt ist, in denen sich letztlich das Ringen um den Ausgleich von wirtschaftlicher Freiheit des Einzelnen und staatlicher bzw europäischer Kontrolle wiederholt. Innovationsanreize lassen sich allerdings – auch nach Ansicht von Wirtschaftswissenschaftlern – nicht nur durch Regulierungsfreistellung, sondern durch zusätzliche, aber an ökonomischen Grundsätzen orientierte Regulierung schaffen. Beschränkt sich aber auch das Unionsrecht insgesamt nicht auf eine („reine“) Marktwirtschaft, so relativiert sich auch die Frage einer europarechtlichen Überformung der deutschen „Wirtschaftsverfassung“[42].

e) Die europäische Ordnung des Binnenmarktes

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Seit den 1980er Jahren begann aber auf europäischer Ebene ein Prozess, der Liberalisierung durch die Beseitigung national unterschiedlicher Regulierung mit europäischer Harmonisierung von Standards verband, sobald etwa im Umweltbereich die entsprechenden europäischen Kompetenzen geschaffen waren. Erstmals zu einer politischen Langzeitstrategie wurde dies mit der sog. Lissabon-Strategie (2000-2010). Der Europäische Rat hatte sich 2000 in Lissabon das ehrgeizige Ziel gesetzt, Europa innerhalb eines Jahrzehnts zur wettbewerbsstärksten und dynamischsten Wirtschaftsregion der Welt zu machen[43]. Es folgte die Strategie Europa 2020, aus der zB mit der digitalen Agenda bindende Leitinitiativen abgeleitet, aber auch unter dem Eindruck der Finanzkrise die haushaltspolitische Überwachung der Mitgliedstaaten und Stabilitätsmechanismen implementiert wurden. Die Befugnis zu einer Koordination der Wirtschaftspolitik folgt aus Art. 5 AEUV[44]. Aus den Strategien werden aber auch sehr konkrete Regelungsaufträge abgeleitet. Das bürgerliche Recht und erst recht das IPR sind genauso europäisiertes Recht wie seit langem das öffentliche Wirtschaftsrecht. Der europäische Datenschutz erfasst auch das öffentliche Wirtschaftsrecht. Leitthemen der neuen Kommission sind Künstliche Intelligenz und Nachhaltigkeit.

3. Einflüsse von Wirtschaftswissenschaften und Rechtsvergleichung

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Die Europäisierung des öffentlichen Wirtschaftsrechts und die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der Globalisierung öffnete die juristische Diskussion für Einflüsse aus anderen Rechtsordnungen, vor allem auch dem US-amerikanischen Recht. Dies gilt seit langem im Kartell- und Finanzmarktrecht, wurde besonders augenscheinlich an der Entwicklung des Telekommunikationsrechts, gilt aber auch für die Diskussion um neue Steuerungsmodelle und die Ökonomisierung des Verwaltungsrechts[45].

Diese Entwicklung war kein Zufall. Die USA nahmen zum einen über die WTO[46], zum anderen aber auch direkt auf die europäische Normsetzung Einfluss. Im Ergebnis lassen deswegen das deutsche und das US-amerikanische Telekommunikationsrecht „Übereinstimmungen in einem Umfang erkennen, den man auf den ersten Blick wohl nicht erwartet hätte“[47]. Gerade in den USA ist die Diskussion um das „Regulierungsrecht“ aber eingebettet in das allgemeine Verwaltungsrecht, so dass nicht nur das Konzept der „independent regulatory agency“ die europäische Entwicklung beeinflusste. Vor allem aber steht das Verwaltungsrecht von Anfang an unter starkem allgemeinen Rechtfertigungsdruck, so dass praktisch alle Lehrbücher zum allgemeinen Verwaltungsrecht mit der Frage nach der Rechtfertigung staatlicher „regulation“ beginnen, genauso wie die Diskussion um das Regulierungsrecht in Deutschland. In der Sache wird die Diskussion dabei stark von wirtschaftstheoretischen Ansätzen geprägt. Am Beginn der neueren Entwicklung stand die Chicago School of Economics[48]. Diese ist gekennzeichnet durch ein Vertrauen in die – staatlicher Intervention grundsätzlich überlegenen – marktwirtschaftlichen Steuerungskräfte und prägte maßgeblich die Reaganomics, die wiederum auch die deutsche Deregulierungsdiskussion der 1980er und 1990er Jahre beeinflusste. Die damit beginnende Ausrichtung gerade auch des Verwaltungsrechts an ökonomischen Grundsätzen führte zum Entstehen von law and economics, der Hauptströmung des modernen US-amerikanischen Verwaltungsrechts, die mit der „ökonomischen Analyse des Rechts“ in Deutschland nur sehr bedingt zu vergleichen ist und sich in der Zwischenzeit durch die Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Ansätze erheblich weiterentwickelt hat[49]. Aus dem homo oeconomicus wurde vor allem unter dem Einfluss der sog. Spieltheorie ein gerade nicht in allen Fällen rational handelnder und auf Effizienz bedachter Akteur. Vor allem aber muss man sich hüten, diese Bewegung auf eine „Ökonomisierung“ des Rechts oder gar einen „Terror der Ökonomie“[50] zu reduzieren. Im Kontext des Wirtschaftsrechts ist aber zu beachten, dass ungeachtet dieser vor allem deutschen Kritik der Einfluss der law and economics-Bewegung auf europäischer Ebene systemprägend ist[51].

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Während die traditionelle Wohlfahrtsökonomik die Rechtfertigung staatlicher Eingriffe in den Markt insbesondere bei Monopolen bzw bei Oligopolen als Reaktion auf Marktversagen legitimierte[52], lieferte gerade die empirische Auseinandersetzung mit der staatlichen Verteilung von Frequenzen (dazu auch unten Rn 589 f) für Coase den Ausgangspunkt für seine Gegenthese. Effizienzprobleme entstünden nicht unbedingt aufgrund eines Versagens des Marktes, sondern auch aufgrund eines Versagens staatlicher Marktregulierung und der unzureichenden Ausgestaltung transaktionsfähiger Rechte (property rights). Das „Coase Theorem“[53] geht davon aus, dass die Betroffenen selbst durch Verhandlungen – sogar unabhängig von der Zuteilung der Eigentumsrechte – eine effiziente Lösung erzielen, wenn es keine Transaktionskosten gibt. Staatliche Eingriffe führen nach diesem Ansatz keinesfalls zu besseren, sondern häufig wegen ihres verengten Blickwinkels zu schlechteren Ergebnissen als der Markt[54]. Da aber auch das Verhandlungsmodell daran krankt, dass die Transaktionskosten nur im Modell als Null angenommen werden können, entwickelte sich vor allem in den letzten Jahren ein weniger kritisches, aber durchaus differenziertes Verhältnis zwischen Ökonomie und öffentlichem Wirtschaftsrecht[55]. Andererseits provoziert gerade die starke Betonung des Effizienzprinzips jedenfalls in der deutschen Diskussion[56] den Vorwurf einer „Staatsromantik der Technokratie“[57]. Von besonderer Bedeutung erwies sich schließlich der ökonomische Ansatz in solchen Bereichen, die man als „natürliche Monopole“ interpretieren kann, wo also ein einzelner Anbieter Leistungen billiger anbieten kann als der Wettbewerb (s. Rn 569 ff). Bereichert hat diese Bewegung aber auch den Kanon der Methoden für staatliche Verteilungsentscheidungen durch die Versteigerung (s. Rn 562 f)[58].

§ 1 Wirtschaft und Verwaltung › II. Öffentliches Wirtschafts- bzw Wirtschaftsverwaltungsrecht