STRANGERS IN THE NIGHT

Text
Author:
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Prolog

Das Haus steht an einem Hang. Ich gehe darauf zu. Links sehe ich das villenartige Gebäude eines Nobelrestaurants, dessen Fenster beleuchtet sind. Die Garage, die zu dem Haus gehört, ist verschlossen. Nacht. Hinter mir fährt eine Straßenbahn vorbei. Ich erreiche den Briefkasten. Er ist mit H. R. angeschrieben. Eine Steintreppe führt zur Haustür.

Ich bleibe einen Moment lang stehen. Kein Mensch ist zu sehen. Meine Hand berührt die Haustür. Sie ist unverschlossen, geht auf. Im Flur brennt Licht. Ich biege links ab, komme am Fuß einer Holztreppe vorbei, betrete ein Zimmer, in dem hellblaue Polstermöbel stehen. Farbige Bilder an den Wänden. Direkt vor mir führt eine Glastür nach draußen, wo die Dunkelheit der Nacht wie eine schwarze Fläche ruht.

Ich wende mich ab und steige die Treppe hoch. Bad, Zimmer, Schlafzimmer, ein kleines Zimmer, und wieder Treppe, einen Stock höher.

Der Raum direkt unter dem Dach ist lang. Ich trete ein. Rechts, direkt an der Wand neben der Tür, steht ein Klavier. Auf dem Boden liegen Notenblätter. Auf einem Tisch steht ein Spulen-Tonbandgerät. Das erhöhte Fenster reflektiert das Licht der Deckenlampe. Hinter den Scheiben liegen die Dächer der Stadt. Wie sehr hatte er diesen Ausblick gemocht!

Die Stille hier drinnen ist unerträglich. Ich strecke die Hand aus, will den Klavierdeckel anheben, lasse es bleiben.

Langsam steige ich die Treppe hinunter. Die Tür des kleinen Zimmers steht offen. Näharbeiten liegen herum. An der einen Wand hängen Fotografien, alle mit Widmungen versehen, meist schwarze, geschwungene Schriften, die teilweise übers halbe Bild hinwegfliegen.

Plötzlich ertönt eine gesungene Melodie. Laut bricht es durch die Wände, rollt wie Wind die Treppe hoch, fließt von oben die Treppe herab, strömt durch offen stehende und geschlossene Türen.

Strangers in the night exchanging glances, wond’ring in the night what were the chances, we’d be sharing love before the night was through.

Ich gehe ins untere Stockwerk, steige weiter in den Keller hinunter. Dort gibt es, da das Haus in einen Hang gebaut ist, eine Tür zur weiter vorne liegenden Garage.

Die Musik klingt unvermindert laut weiter. In der Garage steht ein dunkelroter Jaguar.

»Herbert!«, rufe ich. »Bist du da?«

Nur Musik.

Ich gehe nach oben. Es ist Zeit, um das Haus zu verlassen.

Strangers in the night, two lonely people we were. Strangers in the night up to the moment, when we said our first hello.

Draußen tauche ich in Stille ein. Die Tür hat die Musik wie eine Schleuse abgeschnitten. Nach einigen Schritten drehe ich mich um. Das Fenster oben unter dem Dach ist hell.

Er lebt, denke ich. Und es hat ihn umgebracht.

Gespräch mit Ruth

Wir sitzen auf der Veranda hinter dem Haus und essen italienische Teigwaren. Leichte Kost, wie Ruth sagt. Es ist August, und seit Tagen rollen wir die Vergangenheit auf. Manchmal rennen die Hunde die Hecke entlang, bellen wie verrückt und sind kaum zu beruhigen. Die Gespräche spannen sich um ein ganzes Leben. Vieles habe ich gekannt. Neues kommt hinzu, füllt Lücken oder verwirrt. Oft geraten die Zeiten durcheinander. Alte Gefühle tauchen auf, wir suchen nach Worten, nach Wahrheiten, die in uns klar sind. Es ist nicht leicht, alles zu ordnen. Es ist ein warmer Sommerabend. Die Hunde haben sich beruhigt.

Wir trinken Tee, lehnen uns zurück, genießen den Garten.

»Sie waren wie Brüder«, sagt Ruth. Und fügt hinzu: »Vielleicht wie Kain und Abel.«

»Dann hat der eine den anderen umgebracht?«, frage ich.

»Nein«, antwortet Ruth. »So kann man es nicht sehen.« Sie denkt nach. »Es bestand eine starke Beziehung zwischen den beiden. Das lief jahrelang so. Und als Herbert sich endlich von ›Fips‹ (Kaempfert wurde von Freunden Fips genannt) lösen wollte, war es zu spät. Beide wollten sich voneinander lösen, doch es funktionierte nicht.«

»Warum nicht?«

»Es war wie bei einem alten Ehepaar: Keiner will den anderen mehr sehen, und trotzdem bleiben sie zusammen, vielleicht weil es einfach die beste Lösung ist.«

Ich schweige.

»Für Herbert war der Erfolg nicht so wichtig«, sagt Ruth. »Es war für ihn so etwas wie ein Freiraum. Darüber hinaus wollte er nichts. Dass er die ganzen Jahre hinter Fips stand, machte ihm im Grunde nichts aus. Bis auf diese Geschichten ...«

Wir schweigen.

»Weißt du, was Herbert einmal sagte?«, fragt Ruth plötzlich. »Gutmütigkeit wird oft mit Dummheit gleichgesetzt. Herbert war nicht dumm. Darum kränkte es ihn mehr, dass er in seiner Gutmütigkeit betrogen wurde.«

»Aber er überspielte das auch, oder?«

»Ja. Vergessen hat er es jedoch nie.«

»Und das nagte in ihm.«

»Ja, es nagte in ihm, bis zuletzt. Der letzte Vorfall geschah noch wenige Tage vor seinem Tod.«

Davon später.

»Wie verlief deine erste Begegnung mit Kaempferts?«, will ich von Ruth wissen.

»Mit Kaempfert selbst verstand ich mich auf Anhieb«, sagt sie. »Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Mit seiner Frau Hanne entwickelte sich das problematischer. Sie hatte einmal einen enormen Wortschatz. Hochdeutsch war für mich ja eine Fremdsprache, in der ich nicht so schnell reagieren konnte. Und bei Hanne musste man reagieren, denn sie suchte diese verbale Form von Auseinandersetzung. Sie verstand es, mich in Situationen zu bringen, in denen ich mich irgendwann hilflos fühlte. Sicher nutzte sie das nicht aus, denn sie sprach auch so mit Herbert und Fips. Heute könnte ich besser damit umgehen. Dafür war ich damals zu jung. Ich befand mich plötzlich in einem Kreis von Menschen, die alle – schon vom Krieg her – viel erlebt hatten. Auch Hanne hatte viel durchgemacht, in Berlin, nach dem Krieg, als die Russen ihren Sieg auskosteten. Ich kam aus der Schweiz, wo es mir immer recht gut gegangen war. Herbert, Fips und Hanne mussten ums Überleben kämpfen, wovon ich keine Ahnung hatte. Allein schon deshalb wollte oder konnte sie mich nicht akzeptieren.«

»Darum auch dieser Ehrgeiz bei den Kaempferts?«, frage ich.

»Richtig«, bestätigt Ruth. »Solche Erlebnisse formen gewisse Menschen. Kaempferts wollten raus aus dem Dreck. Hanne wollte eine tolle Wohnung. Es war ihr gleichgültig, ob ein Tisch mehr kostete als Fips im Moment verdiente. Dann gab es eben nichts zu essen. Ihr Kommentar dazu: ›Wenn du nichts arbeitest, hast du nichts zu essen.‹«

»Das klingt hart.«

»Sie war hart. Sie verglich sich mit einer aggressiven Journalistin aus Berlin – eine Art Elsa Maxwell –, die ganz schön die Leute in der Hand hatte. Hanne hatte mir auch in bezug auf Herbert gedroht. Klar und deutlich: Ich müsse aufpassen, sonst mache sie mich fertig! So in dem Sinn, dass sie es nicht zuließe, wenn ich ihm irgendwie schaden würde.«

»Steckte Eifersucht dahinter?«

»Herbert kam damals mit mir als junges Ding an«, erinnert sich Ruth. »Das hat sie sicher gestört. Doch sie war einfach so. Es war für mich schwer, mit ihr zurechtzukommen. Was ich von Fips nicht sagen kann.«

»Du mochtest Fips also?«

»Ja.«

»Trotz der ganzen Betrügereien?«

»Damals gab es ja noch nichts, das man ihm hätte vorwerfen können.«

»Und später?«, frage ich weiter.

»Fips hat das vielleicht alles ja auch nicht gewollt«, antwortet mir Ruth. »Irgendwann konnte er nicht mehr zurück. Er hätte einfach zu viel zugeben müssen. Und er wurde auch von den Amerikanern gedrängt, von dem Verleger und Manager Hal Fein und dem Produzenten Milt Gabler.«

»Herbert hat früher einmal gesagt: Eines Tages werde ich eine Nummer für Sinatra schreiben. Kaempfert hat ihm das dann im richtigen Moment ermöglicht. Nimmt diese Tatsache den ganzen Vorfällen ein bisschen den Schrecken? Ich meine: Strangers In The Night ist der SinatraHit überhaupt. Auch wenn das Sinatra selber nie richtig zugab (es störte ihn, dass die Nummer aus deutscher Hand kam). Aber Strangers ist eine der berühmtesten Nummern in der Unterhaltungsmusik.«

»Es schaffte ihn dermaßen ...« Ruth wirkt nachdenklich. »Er konnte das Ding nicht mehr hören, ›diese Scheißnummer‹, wie er sagte.«

»War es denn wirklich die Geschäftspolitik der Amerikaner, die Kaempfert in diese Rolle drängte?«, will ich wissen.

»Die wollten eben eine Kaempfert-Filmmusik und keine Rehbein-Filmmusik. Und für Herbert war es natürlich eine einmalige Chance, eine Filmmusik zu schreiben. Da hat doch kein Mensch an Sinatra oder gar einen Hit gedacht. Das lief einfach und kam völlig anders heraus.«

»Kaempfert ist im entscheidenden Moment aber nicht für seinen Freund eingestanden«, werfe ich ein.

»Fips hielt Herbert bewusst materiell dumm, wenn man das so sagen kann«, fährt Ruth fort. »Er nutzte gezielt seine Schwächen aus. Musikalisch, literarisch und in vielen anderen Dingen war Herbert Fips total überlegen.«

»Was waren diese Schwächen, die Kaempfert ausnutzte?«

»Herberts Desinteresse an materiellen Dingen«, erklärt Ruth. »Wenn unser Konto leer war, sagte er: ›Na ja, es kommt ja wieder was herein.‹ Es interessierte ihn auch nicht, wie viel Geld ich jeweils abhob. Er ging einmal zur Bank, um eine kleinere Summe für ein Weihnachtsgeschenk abzuheben. Da ihn dort niemand kannte, musste er seinen Pass zeigen. Das war ihm zu viel, und er sagte zu mir: ›Auf diese Bank gehe ich nie mehr.‹ So war das einfach. «

»Das war seine Mentalität«, sage ich, »wie ich sie auch an ihm erlebt habe. Geschäftliche Sachen interessierten ihn nicht.«

 

»Er hätte einfach nicht die Kraft gehabt, sich mit den Leuten aus der harten Geschäftswelt herumzuschlagen. Fips konnte das, er war wie geschaffen dafür. Wäre Fips selber nicht so clever gewesen, hätten ihn andere – zum Beispiel Hal Fein – beschissen.«

»Das war Herbert zu profan?«

»Es war unwichtig für ihn. Er dachte nicht so. Das zeigt sich auch darin: Wenn ich ihm mal sagte, ›Wasch doch das Auto‹, antwortete er: ›Was soll das! Bring den Wagen zum Waschen. In dieser Zeit schreibe ich eine Nummer.‹ Diese alltäglichen Dinge waren für ihn Nebensächlichkeiten. Und wenn das jemand weiß, kann er das natürlich bewusst ausnutzen.«

»Die erste Begegnung zwischen Herbert und Kaempfert ist ja bezeichnend für ihr späteres Verhältnis.«

»Richtig«, bestätigt mir Ruth. »Diese erste Begegnung ist typisch. Kaum war der Krieg vorbei, hatte Fips schon ein Motorrad. Herbert kam mit dem Geigenkasten an. Fips: ›Mensch, wo musst denn du hin? Komm, kannst aufsitzen.‹ Dort zeigte sich schon alles. Herbert sitzt hinten, den Geigenkasten unter dem Arm, Fips sitzt vorne am Steuer. So ging das mit den beiden ein Leben lang weiter, denn Fips saß immer am Steuer und ließ es nie los.«

»Es war ein hoher Preis, den Rehbein für diese Abhängigkeit zahlte.«

»Hanne sagte mir einmal«, erinnert sich Ruth, »dass Herbert ihr eigentlich den Mann weggenommen habe. Verstehst du, was ich meine? Fips war in gewisser Weise mehr daran interessiert, diese führsorgende Stellung bei Herbert als bei seiner Frau einzunehmen. In diesem Bereich fühlte er sich seinem Freund gegenüber sehr verpflichtet.«

»Und was war deine Rolle in diesem Spiel?«, frage ich Ruth.

»Ich darf sagen, dass ich Herbert vor einigen Situationen bewahrt habe. Er konnte sich manchmal für jemanden begeistern, und ich spürte intuitiv, dass ein solcher Kontakt gefährlich werden könnte. Da sagte ich ihm dann: ›Pass auf!‹«

»Warum bei Kaempfert nicht?«

»Weil das eben alles nicht vorhersehbar gewesen ist. Obwohl es Situationen gab, in denen ich klar erkannte, was gespielt wurde. So auch bei der Sache mit Strangers In The Night. Und trotzdem kam dann alles so, wie es wohl hat kommen müssen.«

Gib dem Menschen eine Uniform ...

Herbert Rehbein, geboren am 15. April 1922 in Hamburg, wuchs in einer bürgerlichen Umgebung auf, liebevolle Mutter, Vater Polizeibeamter, ein jüngerer Bruder. Schon früh hatte er den Wunsch, ein Instrument zu spielen. Ein Klavier, das er gerne gehabt hätte, war zu teuer. Er bekam eine Geige. Die Auflage lautete: Schule an erster Stelle, dann erst die Musik! Rehbein schaffte prompt das Abitur nicht. Dafür erhielt er ein Stipendium und fing im Vogtschen Konservatorium in Hamburg ein Musikstudium an.

Damit war der Weg zur brotlosen Kunst eingeschlagen. Für Rehbein gab es ohnehin nur Musik, also dachte er nicht an Brot. Er sang zusätzlich im Kirchenchor, die Matthäuspassion in der St.-Michaelis-Kirche. Dann kam die Hitlerjugend.

Er schummelte sich durch, ließ diejenigen machen, die es machen wollten. Einer der Jungen, der ihn mochte, stellte sich schützend vor ihn. Rehbein quittierte mit kleinen Gefälligkeiten. Sämtliche Ideologien stießen ihn ab, so dachte er schon in jungen Jahren: »Gib dem Menschen eine Uniform, und du lernst ihn erst wirklich kennen!« Für diese Welt war er nicht gemacht.

In der Welt der Musik hingegen fühlte er sich wohl. Das entsprach seinem Wesen. Er übte täglich Geige, oft bis zu zehn Stunden. Alles oder nichts. Zusätzlich nahm er Privatunterricht bei Professor Gerstekamp, einem Mann aus der Philharmonie. Rehbeins Begabung blieb dem Professor nicht verborgen. Die beiden mochten sich. Gerstekamp verstand, wie er mit Rehbein umzugehen hatte. Kein Zwang, sondern subtile Förderung der Begabung.

Draußen zog eine Fratze am Horizont auf: Krieg! Zehntausend Geigen hätten dem Donnern der Gewalt nicht standhalten können. Die Nazis wüteten schon lange, Hitler schürte eine Krankheit, die sich bald über ganz Europa, bis hin nach Afrika, ausbreiten sollte. Der Klang der Geige verstummte. Wehrmacht hieß es für Rehbein. Junge, unverbrauchte Männer waren gefragt. Rehbein wollte zum Musikkorps. Als Geiger hatte er da natürlich keine Chance, also stieg er für diesen Zweck auf Klarinette um. Er musste in Lübeck einrücken. Kasernendrill. Die Ausbildung ging schnell. Rehbein kam nach Kreta

Der Krieg tobte. Kreta blieb vorerst verschont. Rehbein verschrieb sich auch dort voll und ganz der Musik. Doch die Strenge der Klassik ließ ihm zu wenig Raum, engte ihn ein, obwohl er das Orchestrale liebte. Er gründete ein Tanzorchester, dem er als Kapellmeister und Geiger vorstand. Sehr schnell machte er sich unter den Soldaten einen Namen. Er brauchte diese Sonderstellung, um zu überleben.

Aus einem Brief eines ehemaligen Kriegskameraden an Rehbein:

»Die 22. I. D., bzw. das 16. Infanterie-Regiment, lag mit seiner Stabskompanie auf Kreta in den Ortschaften Rethimnon, zuletzt in Neapolis. Unser Kommandeur war Oberstleutnant Haag und später Major Bruns. Ich z.B. war im Zugtrupp des Pak-Zuges bei Leutnant Giesel und Sie in der Regimentskapelle, die mit ihrem Tanzorchester an so manchem Abend im Soldatenheim für Stimmung sorgte. Wie oft habe ich zu Hause von dieser Zeit gesprochen und dabei von der Eroberung der italienischen Instrumente und Noten erzählt. Kamen dabei doch so tolle Sachen wie der Schwarze Panther und Mary Lou zum Vorschein. Was waren das für schöne Stunden, als Sie als Kapellmeister mit dem Tanzorchester diese beiden Hits immer wieder spielen mussten. Den Alltag auf Kreta verbrachten Sie oft bei uns im Pak-Zug, und dadurch lernten wir uns näher kennen. Sie sprachen damals schon von moderner Musik und meinten, dass man sich eines Tages damit auseinandersetzen müsste. Sie spielten in der Regimentskapelle schon eine besondere Rolle.«

Eines Nachts musste Kreta Hals über Kopf geräumt werden. Flug nach Athen. Von dort aus folgte ein Gewaltsmarsch durch Jugoslawien, der »Wandernde Kessel« genannt. Eine ganze Division bewegte sich mühsam vorwärts, über Pässe, ständigen Angriffen und Überfällen von Partisanen, russischen Bombern und Tieffliegern ausgesetzt. Sämtliche Musikkorps waren aufgelöst worden. Aus Rehbein wurde »Schütze Rehbein«.

Die Musikinstrumente des Unterhaltungsorchesters reisten mit, versteckt in einem Küchenwagen. Die Soldaten litten immer mehr. Irgendwann kamen sie nicht mehr weiter, harrten wochenlang in den Wintermonaten bei Schnee und Eis in den Bergen aus, kämpften sich endlich durch.

Am 15.5.1945, nach neun Monaten Fußmarsch, erreichte sie in der Nähe von Celje, etwa vierzig Kilometer vor der österreichischen Grenze, die Kapitulation. Die Division, der Rehbein angehörte, hatte ganz Jugoslawien hinter sich gelassen, von Griechenland aus bei Cevgelija über die Grenze, auf Skopje zu, an Pristina vorbei nach Sarajevo, von dort aus nach Luka, weiter nach Zagreb.

Titos Partisanen gingen mit den »Schwabos« nicht zimperlich um. Die Gefangenen wurden entwaffnet. Essen gab es keines. In der Nacht versuchten einige Deutsche zu fliehen, wollten hinüber ins nahe liegende Österreich, um sich von den Amerikanern gefangen nehmen zu lassen. Die Schüsse verrieten, was mit ihnen geschah. Nur wenigen gelang die Flucht. Auf all die anderen, einschließlich Rehbein, wartete eine unbeschreibliche Tortur.

Der Zug der Gefangenen setzte sich in Richtung Belgrad in Bewegung. Bis auf eine wässerige Suppe hatte es in den letzten Tagen nichts zu essen gegeben. Jetzt konnten sich die Partisanen endlich an dem verhassten Feind rächen. Sie trieben die Gefangenen mit Gewehrkolben voran. Männer wurden grundlos erschossen. Endloser Hass regierte.

Rehbein steckte mitten drin. Wer noch gute Schuhe hatte, musste sie abgeben. Also zerschnitten die Gefangenen ihre noch guten Schuhe mit Rasierklingen, präparierten sie geschickt. Die Schuhe sahen danach völlig kaputt aus, ließen sich aber noch tragen. Längst mussten sich viele Männer Lumpen um die Füße wickeln. Auch Rehbein. Der Hunger wurde immer schlimmer. Die Gefangenen rissen Blätter von den Bäumen, stopften sie sich in den Mund, knieten sich hin, fraßen Gras. Krankheiten breiteten sich aus, vor allem die Ruhr mit schleimigblutigen Durchfällen. Die Folge waren nicht selten Darmdurchbrüche und Bauchfellentzündungen. Die Kranken, von rasenden Leibschmerzen gequält, mussten sich immer wieder an den Straßenrand hocken. Sie schissen sich dort fast die Därme aus dem Bauch. Wer nicht mehr mitkam, wurde erschoßen oder niedergeknüppelt und liegen gelassen.

Wochen vergingen. Die Partisanen trieben die »Schwabos« unbarmherzig voran. Der lange Zug, »Hungermarsch« genannt, bot ein Bild des Entsetzens. Ausgemergelte Gesichter, zerlumpte Gestalten, frierend oder im Fieberwahn, mit Läusen übersäht, die ganze Trauben bildeten, voran, auf Belgrad zu ...

Die Bevölkerung von Belgrad erwartete sie mit Spott, Hohn und Verachtung. Im Laufschritt wurden die Gefangenen durch die Straßen gejagt, bespuckt und mit Steinen beworfen. Jetzt erreichte der angestaute Hass seinen Höhepunkt. Als sie endlich die Donau erreichten, war der Spuk noch lange nicht vorbei.

Im Banat angekommen, begann das große Sterben. Es gab wieder zu essen – Suppen mit Fett –, und gerade darin verbarg sich der Tod. Gift für die ausgehungerten, von Krankheiten geschwächten Mägen der Gefangenen. Die Entlausung war für Rehbein eine Tortur gewesen. Jetzt stand er wieder da, nackt und noch verletzlicher als vorher. In den Baracken wimmelte es von Wanzen und Ratten. Nichts war vor ihnen sicher.

Im September 1945 hieß es für Rehbein, der sich mitunter etwas erholt hatte: Maishacken!

Im Banat hatten Volksdeutsche Landwirtschaft betrieben. Jetzt war alles in jugoslawischer Hand: Partisanen aus Titos Gefolgschaft, harte Naturburschen, die jahrelang gekämpft und in den Bergen überlebt hatten. Sie trugen stolz das Partisanenkäppi mit dem Sowjetstern. Ihre Gesichter zeigten wenig Mitgefühl mit ihren ehemaligen Feinden – den »Schwabos«, die sie allesamt für Hitlers Faschisten hielten. Sie hatten sich in den großen Gutshöfen eingenistet und hausten dort teilweise unter seltsamen Umständen. Rehbein sah, wie in einem der häuslich eingerichteten Zimmer eine Feuerstelle auf dem Parkettboden errichtet wurde, dazu ein Loch in der Decke, damit der Rauch abziehen konnte. Wo früher tausend Schweine gemästet worden waren, hielten sich die Eroberer jetzt ein Schwein und eine Kuh. Eine andere Lebensform war ihnen nicht bekannt, sie hätten auch gar nicht damit umgehen können.

Das Maishacken war eine harte Arbeit. Wochenlang musste auch Rehbein diese Anstrengung aushalten. Dann wurde er ins Lazarett im Lager Pancevo abkommandiert.

Die Luft in den Baracken mit den Kranken war unerträglich. Täglich starben viel zu viele Gefangene. Der beißende Gestank von Urin, Kot und Eiter hing stickig in den Räumen. Rehbein gab sein Bestes. Die Männer hier waren seine Kumpels. Das wollte er sie spüren lassen. Und trotzdem war er manchmal weit weg von allen.