Die Anarchisten

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Ihr macht keine guten Geschäfte? fragte er ihn, als er ihm näher kam.

Der Alte griff in die Tasche seines zerfetzten Rockes und zeigte ihm vier Kupferstücke:

Das ist alles in drei Stunden!...

Und nicht einmal genug für Euer Nachtlager, sagte Auban und legte ein Sixpencestück hinzu.

Der Alte sah ihm nach, wie er langsam mit seinen mühsamen Schritten über den Platz ging.

Hinter Auban versanken die Lichter des Platzes, die hellen gleichmäßigen Häuser des Quadrant von Regents Street; und während sich die Weite hinter ihm verengerte und der brausende Lärm sich verlor, schritt er sicher weiter und immer weiter hinein in das dunkle, geheimnisvolle Straßengewirr von Soho...

Um dieselbe Stunde - die neunte war nicht mehr fern - kam von Osten aus der Richtung von Drury Lane her auf Wardour Street zu mit der unsicheren Schnelligkeit des Ganges, welche verrat, daß man sich in einer fremden und unbekannten Gegend befindet und doch gerne schnell ein bestimmtes Ziel erreichen möchte, ein Mann von etwa vierzig Jahren in der unauffälligen Kleidung eines Arbeiters, die sich in London nur durch ihre Einfachheit von der des Bürgers unterscheidet. Als er - überzeugt, daß bei weiterem Forteilen in der eingeschlagenen Richtung er schwerlich seine Ungeduld bald befriedigen würde - stillstand und vor einem der zahllosen Public-Häuser einen der dort herumstehenden Burschen nach seinem Wege fragte, zeigte dessen vergebliches Bemühen, die erbetene Auskunft möglichst klar und verständlich zu machen, daß der Frager ein Ausländer sein mußte.

Indessen schien dieser endlich die Erklärungen verstanden zu haben, denn er schlug eine von der vorher genommenen völlig verschiedene Richtung ein. Er wandte sich dem Norden zu. Nachdem er noch zwei oder drei der gleich dunklen, schmutzigen und einander völlig gleichenden Straßen durchgangen hatte, befand er sich plötzlich in dem betäubenden Lärm einer jener Verkaufsstraßen, in denen die Bevölkerung der ärmeren Viertel am Samstagabend mit dem Lohn der vergangenen Woche ihre Bedürfnisse für den folgenden Tag einhandelt. Die Seiten der Straße waren besetzt mit zwei endlosen Reihen von sich dicht hintereinander drängenden Wagentischen und Gestellen, dicht beladen mit jedem von den tausend Erfordernissen des täglichen Lebens. Zwischen ihnen ebenso wie auf den engen Trottoiren an den geöffneten und überfüllten Läden vorbei drängte und quetschte sich eine unruhige und feilschende Masse, deren Schreien und Lärmen nur von dem gellenden Durcheinanderrufen der anpreisenden Verkäufer übertönt wurde. Die Straße war in ihrer ganzen Länge von dem flackernden Scheine unzähliger Petroleumflammen in eine blendende Helle, eine Helle, wie sie das Licht des Tages nie hierher brachte, getaucht; die feuchte Luft erfüllt mit einem dicken und qualmenden Rauch; der Boden übersät mit zertretenen Abfällen aller Art, welche das Gehen auf dem glitscherigen, unregelmäßigen Steinpflaster noch erschwerten.

Der Arbeiter, der nach dem Wege gefragt hatte, war in das Gewühl hineingeraten und drängte sich durch, so schnell es ging. Er hatte kaum einen Blick für die rings aufgespeicherten Schätze: die Bänke mit den großen, rohen, blutigen Fleischstücken; die hochbeladenen Karren mit Grünkraut jeder Sorte; die Tische, voll von altem Eisen und Kleidern; die langen Reihen von aneinandergebundenem Schuhwerk, welche sich über ihm fort und über die Straße spannten; für den ganzen undurchdringlichen Wirrwarr des Kleinhandels, der ihn umtoste und umdrückte. Als sich unter dem Schimpfen der Menge ein Karren rücksichtslos durch das Gewühl stieß, nahm er die Gelegenheit wahr, hinter ihm herzugehen, und kam so schneller, als er gehofft hatte, an die Ecke der nächsten Kreuzstraße, wo sich das Leben wieder verteilte und einen Augenblick des Stillstehens ermöglichte.

Da, als er sich umsah, erblickte er auf der andern Seite der Straße plötzlich Auban. Überrascht, seinen Freund so unverhoffterweise und in dieser Gegend zu sehen, eilte er nicht sogleich zu ihm; und dann - als er schon die Straße halb überschritten hatte - trat er in das Gedränge zurück, von dem Gedanken getrieben: Was tut er hier?- Er blickte in der nächsten Minute aufmerksam zu ihm hinüber.

Auban stand mitten in einer Reihe von halbbetrunkenen Männern, die den Eingang des Public House umlagerten, in der Hoffnung, von einem ihrer Bekannten eingeladen zu werden: - »Have a drink!« - Er stand da, etwas vornübergebeugt, mit beiden Händen auf seinen zwischen die Knie geklemmten Stock sich stützend und unverwandt in das an ihm vorbeitreibende Gewühl starrend, als warte er darauf, aus ihm ein bekanntes Gesicht auftauchen zu sehen. Seine Züge waren ernst; um den Mund lag eine scharfe Falte, und seine tief liegenden Augen hatten einen starren und trüben Blick. Seine glattrasierten Wangen waren mager, und die scharfe Nase gab den Zügen seines schmalen und feinen Gesichtes den Ausdruck starker Willensfahigkeit Ein dunkler weiter Mantel fiel nachlässig an der ungewöhnlich langen und schmalschulterigen Gestalt nieder, und als ihn der andere von der gegenüberliegenden Straßenecke so dastehen sah, fiel ihm zum ersten Male auf, daß er ihn seit Jahren nie anders gesehen hatte als in demselben weiten Anzug von demselben bequemen Schnitt und derselben einfachsten, dunklen Farbe. Genauso schlicht und doch so auffällig war seine äußere Erscheinung gewesen, als er ihn - wie lange war es her: sechs oder sieben Jahre schon? - in Paris kennengelernt hatte, und genauso unverändert wie damals mit denselben gleichen scharfen und trüben Zügen, die höchstens blässer und grauer geworden waren, stand er heute da drüben, nachlässig und unbekümmert, in grübelnden Gedanken inmitten des sich überhastenden und freudlosen Treibens des Samstagabends von Soho.

Da kam er auf ihn zu: starr geradeaus blickend. Aber er sah ihn nicht und wollte an ihm vorübergehen.

- Auban! rief der andere.

Der Gerufene fuhr nicht zusammen, aber er wandte sich langsam zur Seite und sah mit einem leeren und abwesenden Blick in das Gesicht des ihn Rufenden, bis der ihn am Arm packte:

- Auban!

Otto? fragte der Angerufene da, aber ohne Erstaunen. Und dann, fast flüsternd und in dem dunklen, noch im Grauen befangenen Tone des Erwachenden, der von seinem schweren Traume erzählt, leise, um ihn nicht zur Wirklichkeit zu wecken: - Ich dachte an etwas anderes, an das Elend, wie groß es ist, wie ungeheuer, und wie langsam das Licht kommt, wie langsam ...

Der andere sah ihn erstaunt an. Aber schon lachte Auban jäh erwacht auf, und in seinem gewohnten beherrschten Tone fragte er dann:

- Aber in aller Welt, wie kommst du aus deinem East End nach Soho?

- Ich habe mich verlaufen. Wo ist denn eigentlich Oxford Street? Dort, nicht wahr?

Aber Auban nahm ihn lächelnd an der Schulter und drehte ihn um.

- Nein, dort. - Paß auf: vor uns liegt der Norden der Stadt, die ganze Länge von Oxford Street; hinter uns der Strand, den du natürlich kennst; dort, von wo du kommst - du kommst doch von Osten? - Ist Drury Lane und das frühere Seven Dials, von dem du gewiß schon gehört hast, Seven Dials, die frühere Hölle der Armut; jetzt »zivilisiert«. Hast du noch nicht die berühmte Vogelhändlerstraße gesehen? - Sieh, fuhr er fort, ohne eine Antwort abzuwarten, und machte mit seiner Hand eine Bewegung nach Osten hin: - in diesen Straßen bis Lincolns Inn Fields drängt sich ein großer Teil des Elends von West End. Was glaubst du wohl, was man nicht geben würde, könnte man es ausmisten und nach dem Osten drängen? - Was nützt es, daß sie weite Straßen durchschlagen, genauso wie Haußmann, der Seinepräfekt, es in Paris getan hat, um den Revolutionen so leichter begegnen zu können, was nützt es? Es drängt sich nur dichter aufeinander. Es vergeht kein Samstagabend, an dem ich dieses Viertel zwischen Strand und Regents Street und Lincolns Inn, zwischen Strand und Oxford Street nicht durchschreite - es ist ein Reich fiir sich, und ich habe hier reichlich so viel gesehen wie im East End. Bist du zum erstenmal hier?

- Doch, wenn ich nicht irre. War denn nicht früher der Klub hier?

- Ja. Aber näher an Oxford Street. - Übrigens wohnen hier eine Menge Deutsche, nach Regent’s Street zu in den besseren Straßen.

Wo ist denn das Elend am schlimmsten?

Am schlimmsten? - Auban dachte einen Augenblick nach. Wenn du in Drury Lane einbiegst - die Courts der Wild Street; dann das schreckliche Gewirr von fast zusammenbrechenden Häusern in der Nähe des Old Curiosity Shop, den Dickens beschrieben hat mit den schmutztriefenden Durchgängen - überhaupt die Nebenstraßen von Drury Lane, besonders im Norden, an den Queen Streets; und weiter hierher vor allem die früheren Dials, die Hölle der Höllen ...

- Kennst du alle Straßen hier?

- Alle -.

- Aber du kannst nicht viel auf ihnen sehen. Die Tragödien der Armut spielen sich hinter den Mauern ab.

- Und doch der letzte Akt - wie oft nicht! - auf der Straße. Sie waren langsam weitergegangen. Auban hatte seinen Arm in den des anderen gelegt und stützte sich müde auf ihn. Trotzdem hinkte er stärker als vorher.

- Und wo gehst du hin, Otto? fragte er.

- Zum Klub. Willst du nicht mit?

- Ich bin etwas müde. Ich war den ganzen Nachmittag drüben. Dann, da ihm einfiel, daß der andere in diesen Worten nur einen Vorwand für eine Ablehnung sehen möchte, fügte er schneller hinzu: - Aber ich gehe schon mit; es ist eine gute Gelegenheit; sonst komme ich in nächster Zeit doch nicht hin. - Wie lange wir uns überihaupt nicht gesehen haben!

- Ja, fast drei Wochen schon nicht!

- Ich lebe immer mehr für mich. Du weißt es ja. Was soll ich in den Klubs? Diese langen Reden, immer über dasselbe, was sollen sie nützen? Das alles ist nur ermüdend.

 

Er merkte wohl, wie unangenehm es dem andern war, was er sagte, und wie sich dieser gleichwohl mit der Richtigkeit seiner Worte abzufinden suchte.

Ich bin noch immer, wie früher, jeden Sonntag nachmittags von fünf Uhr an zu Hause. Weshalb kommst du nicht mehr?

Weil bei dir alles Mögliche zusammenkommt! Bourgeois und Sozialdemokraten, und Literaten, und Individualisten ...

Auban lachte auf.

- Tant mieux. Die Diskussionen können dadurch nur gewinnen. Die Individualisten sind doch die Schrecklichsten, nicht wahr, Otto?

Sein Gesicht war völlig verändert Eben noch finster und verschlossen, zeigte es jetzt einen herzlichen Zug von Freundschaft und Freundlichkeit.

Aber der andere, welcher mit Otto angeredet war und Trupp hieß, schien davon nur unangenehm berührt zu werden, und er nannte einen Namen, der zwar von Aubans Stirn nicht die Ruhe, aber völlig von seinen Lippen das Lächeln scheuchte.

- Fünfzehn Jahre! Und wegen nichts! sagte der Arbeiter grollend und empört

- Aber warum lieferte er sich auch so unvorsichtig in die Hände seiner Feinde? Er mußte sie doch kennen.

- Er wurde verraten!

- Weshalb vertraute er sich andern an? fragte Auban wieder. - Jeder ist von vornherein verloren, der auf andere baut Auch das wußte er. Es war ein zweckloses Opfer!

- Ich glaube, du hast keinen Begriff von der Größe seines Opfers und seiner Hingabe, grollte Trupp.

- Lieber Otto, du weißt recht gut daß mir überhaupt das Gefühl des Verständnisses für alle sogenannten Opfer abgeht. Was hat das Unterliegen des Genossen, des besten, des ehrlichsten vielleicht von allen, für einen Nutzen gehabt? Sage mir das!

Es hat den Kampf erbitterter gemacht. Es hat die einen aus ihrer Lethargie aufgerüttelt, die andern - uns - mit neuem Haß erfüllt. Es hat - und seine Augen flammten, während Auban fühlte. wie der Arm, den er hielt, in krampfhaftem Zorn erbebte -, es hat in uns den Schwur erneuert, für jeden Gefallenen am Tage der Abrechnung hundertfache Sühne zu fordern!

- Und dann?

- Dann, wenn diese verfluchte Ordnung dem Boden gleichgemacht ist, dann wird sich die freie Gesellschaft auf den Trümmern erheben.

Auban sah wieder auf den heftig Sprechenden nieder, mit dem traurigen, ernsten Blick, mit dem er ihn vorher begrüßt hatte. Er wußte ja, daß in der zerrissenen, Brust dieses Mannes nur ein Wunsch und eine Hoffnung noch lebten, die Hoffnung auf den Ausbruch der letzten »großen«, der Revolution!

So waren sie vor Jahren über die Boulevards von Paris gegangen und hatten sich berauscht an den tönenden Worten der Hoffnung; und während Auban längst allen Glauben verloren hatte, nur den einen nicht: an die langsam, langsam wirkende Macht der Vernunft, welche endlich jeden Menschen dahin führen wird, für sich statt für andere zu sorgen, und so mehr und mehr auf sich selbst zurückgekommen war, hatte sich der andere ebenso mehr und mehr in den Fanatismus einer Verzweiflung hinein verloren, der sich täglich von neuem das schimmernde Gespenst der »goldenen Zukunft« vor Augen zauberte und den letzten Halt an der Wirklichkeit aus den Händen gab, die sich sehnsüchtig und vertrauend um den Nacken der Liebe schmiegten.

In fünfzehn Jahren - so brach jetzt wieder lodernd die Flamme der Hoffnung aus seinen Worten - kann viel geschehen! - Auban antwortete nicht mehr. Er war machtlos diesem Glauben gegenüber. Langsam gingen sie weiter. Die Straßen wurden leerer und stiller. Es lag noch immer dieselbe brütende Feuchtigkeit in der undurchsichtiger werdenden Luft wie vor drei Jahren. Der Himmel war eine nebelgraue Wolkenmasse. Die Laternen brannten unstet-flackernd. Zwischen den beiden Männern lag das Schweigen der Entfremdung.

Sie waren auch äußerlich sehr verschieden.

Auban war größer und hagerer, Trupp muskulöser und proportionierter. Dieser trug einen kurzen braunen Vollbart, während jener stets mit peinlicher Sorgfalt rasiert war.

Waren sie allein, so sprachen sie stets, wie auch an diesem Abend, französisch miteinander, welches Trupp ohne Mühe, wenn auch nicht ganz korrekt, Auban aber so schnell sprach, daß selbst seine Landsleute oft Mühe hatten, ihm zu folgen. Seine Stimme hatte einen seltsamen Klang von Härte, der zuweilen der Wärme seiner Lebhaftigkeit, öfter aber noch einer feinen Ironie wich. -

Das Gewirr der kleinen und engen Gassen begann sich zu lichten. Sie stiegen einige Stufen hinauf. Vor ihnen lag Oxford Street!

- In fünfzehn Jahren, brach Auban das Schweigen - haben die Ketten der Knechtschaft in den Ländern des Kontinents die Handgelenke der Völker fast durchschnitten, so daß sie sich zum Schlag nicht mehr heben können. Hier werden dieselben Hände in gleicher Zeit gefesselt sein wie der Mund, der jetzt noch protestiert und sich müde redet.

- Ich kenne die Arbeiter besser als du. Bis dahin werden sie sich längst erhoben haben.

- Um mit Kanonen, die selbsttätig in jeder Sekunde einen und in einer Minute sechzig Schüsse abgeben, niedergemäht zu werden. Ja. Ich kenne die Bourgeoisie besser und ihre Leute.

Sie standen in Oxford Street: in nächtigem Licht und Leben.

- Da sieh hin: glaubst du, dies Leben fällt mit einem Schlag und durch den Willen einzelner?

- Ja, sagte Trupp und zeigte nach Osten. - Dort liegt die Zukunft.

Aber Auban fragte:

Was ist die Zukunft? Die Zukunft ist der Sozialismus. Die Einzwängung des Individuums in immer engere Grenzen. Die gänzliche Unselbständigkeit. Die große Familie. - Lauter Kinder, Kinder... Aber auch das muß durchgemacht werden.- Er lachte bitter, indem er dem Blick seines Freundes folgte: Dort liegt - Rußland! Dann schwiegen beide wieder. Oxford Street dehnte sich aus - eine unübersehbare Linie von verschwimmendem Licht und brausendem Dunkel hinauf und hinunter.

Es gibt drei London, sagte Auban, gepackt von dem Leben - drei: London am Samstagabend, wenn es sich betrinkt, um die kommende Woche zu vergessen; London am Sonntag, wenn es seinen Rausch im Schoß der alleinseligmachenden Kirche ausschläft; und London, wenn es arbeitet und arbeiten läßt - an den langen, langen Tagen der Woche.

- Ich hasse diese Stadt, sagte der andere.

- Ich liebe sie! sagte Auban leidenschaftlich.

- Wie anders war Paris!

Und die gemeinsamen Erinnerungen tauchten auf.

Aber Auban drängte vorwärts:

- Wir kommen nie zum Klub!

Sie überschritten geradeswegs Oxford Street und gingen die nächste Querstraße nach Norden hinauf. Auban stützte sich wieder stark auf den Arm seines Freundes.

- Aber sage jetzt, wie geht es euch?

- Es geht ganz gut, trotzdem wir immer noch keinen »Vorstand« haben. - Erinnerst du dich noch, welcher Lärm sich erhob, als wir seinerzeit den Klub ganz nach kommunistischem Prinzip einrichteten: ohne Vorstand, ohne Beamten, ohne Statuten, ohne Programm und ohne festgesetzte Zwangsbeiträge? Völliger Untergang in Unordnung wurde uns prophezeit und was nicht sonst noch alles! Aber wir kommen immer noch ganz gut zurecht, und in unseren Verhandlungen geht es ganz so zu wie in anderen, wo die Glocke des Präsidenten regiert - es redet immer einer nach dem anderen, wenn er etwas zu sagen hat.

Auban lächelte.

- Ja, sagte er - das können die Ordnungsschreier nicht verstehen, wie vernünftige Menschen zusammenkommen und zusammenbleiben können, um sich über ihre gemeinsamen Interessen zu besprechen, ohne daß der einzelne seine Zugehörigkeit in Rechten und Pflichten auf einem Wisch garantiert erhält. - Aber daraus, daß dieser Versuch nicht mißlungen ist, seht ihr doch noch keinen Beweis für die Möglichkeit der Konstituierung der ganzen menschlichen Gesellschaft auf gleichen Grundlagen? Das wäre doch heller Wahnsinn.

- So, das wäre heller Wahnsinn? Wir finden das nicht. Wir hegen diese Hoffnung, beteuerte Trupp hartnäckig.

Auban fiel ein:

- Was macht euer Blatt?

- Es geht langsam. Liest du es?

- Ja. Aber doch nur selten. Ich habe das wenige Deutsch verlernt, das ich auf der Straße hörte.

- Wir redigieren es auch gemeinsam. Ohne Kommission, ohne Redakteur. An einem Abend der Woche kommen zusammen, die Lust und Zeit haben, und das Eingelaufene wird verlesen, besprochen und zusammengestellt.

- Deshalb ist der Inhalt aber auch so merkwürdig verschieden und uneinheitlich. Nein, hinter einem Blatte muß eine Persönlichkeit stehen, eine volle, interessante Persönlichkeit - Trupp unterbrach ihn ungestüm.

- Ja, und dann hätten wir wieder das »Führertum«. Aus einem Verwalter wird immer ein Regierer (er sah nicht das beistimmende Nicken Aubans), hier im Kleinen, dort im Großen! Unsere ganze Bewegung hat darunter furchtbar gelitten, unter diesem Zentralismus. Wo im Anfang reine Begeisterung war, ist sie in Selbstgefälligkeit aufgegangen; wirkliches Mitgefühl und Liebe in dem Streben, selbst die Retter zu spielen. So haben wir denn überall schon Oben und Unten, die Herde und den Leithammel; auf der einen Seite den Dünkel, auf der andern Seite gedankenlose und fanatische Nachbeterei der Parteilehren …

- Aber du hast mich in der Tat völlig mißverstanden. Als ob ich je etwas anderes geglaubt hätte! Ich mißtraue überhaupt einem jeden, der sich anmaßt andere vertreten, für andere sorgen und die Verantwortung für die Angelegenheiten ander» auf seine eigenen Schultern nehmen zu wollen. Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten und laß mich für die meinen sorgen - das ist ein gutes Wort. Und wirklich Anarchismus.

- Ich bin auch Anarchist.

- Nein, mein Freund, das bist du nicht. Du vertrittst in jeder Beziehung das Gegenteil der wirklich anarchistischen Ideen. Du bist durch und durch Kommunist, nicht nur deinen Ansichten, sondern deinem ganzen Empfinden und Wünschen nach.

- Wer will mir das Recht bestreiten, meine Ansichten anarchistisch zu nennen?

- Niemand. Aber ihr bedenkt nicht, welche unheilvolle Verwirrung entsteht durch das Zusammenwerfen so völlig verschiedener Begriffe. Indessen, warum jetzt über die alte Frage streiten! Komm am Sonntag. Wir können wieder einmal diskutieren. Weshalb nicht?

- Meinetwegen! Du bist und bleibst ja doch der Individualist, zu dem du geworden bist, seitdem du die soziale Frage »wissenschaftlich« studiert hast! Ich wollte, du wärst noch derselbe, der du warst, als ich dich in Paris sah, damals, mein Lieber!

- Nein, ich nicht, Otto! sagte Auban und lachte laut auf. Trupp war gereizt.

Du weißt nicht was du verteidigst! Ist der Individualismus nicht etwa die Entfesselung aller schmutzigen Eigenschaften des Menschen, des Egoismus vor allem, und hat er nicht all dies Elend geschaffen - die Freiheit auf der einen ...

Auban blieb stehen und sah den Sprechenden an.

- Heute Freiheit des einzelnen? Heute, wo wir im kompliziertesten und brutalsten Kommunismus stecken, wie nie vorher? Heute, wo der einzelne von seiner Geburt an bis zu seinem Tode vom Staat von der Gemeinschaft mit Beschlag belegt wird? - Geh die Welt zu Ende und sage mir, wo ich diesen Verpflichtungen entgehen und Ich sein kann. Ich will zu ihr, zu dieser Freiheit, die ich vergebens gesucht habe, solange ich lebe!

- Aber deine Ansichten geben der Bourgeoisie nur neue Waffen in die Hand ...

- Wenn ihr die Waffen nicht selbst gebraucht, die einzigen überhaupt, an die ich noch glaube. Nur dann. - Denn sicherlich: sie. diese langsam reifenden Ideen des Egoismus (mit Absicht brauche ich dies Wort) - sie sind in gleicher Weise gefährlich den heutigen Zuständen, wie sie es sein werden, wenn wir in den Hafen des alle beglückenden Volksstaates, in den verdichteten Kommunismus, eingelaufen sind - gefährlicher als all eure Bomben und alle Bajonette und Mitrailleusen der heutigen Machthaber.

- Du hast dich sehr verändert, sagte Trupp ernst.

- Nein, Otto. Ich habe mich nur selbst gefunden.

- Wir müssen darauf zurückkommen. Es muß sich entscheiden …

- Ob ich noch zu euch gehöre oder nicht? Das ist doch wohl nur eine Redensart Denn der Freie - und du willst doch die ganze, unbeschränkte Autonomie des Individuums - kann nur sich selbst gehören.

Sie waren jetzt in Charlotte Street eingetreten, die in ihrer Länge und trüben Dunkelheit vor ihnen lag.

Sie bogen in eine der Nebenstraßen ein, in einen der fast menschenleeren und halbhellen Durchgänge, welche sich östlich nach dem Lärm von Tottenham Court Road hinziehen.

- Wir müssen jetzt deutsch sprechen, sagte Auban in dieser Sprache, die aus seinem Mund ungeübt und fremd klang.

 

Sie standen still vor einem schmalen, hellangestrichenen Hause.

Über der Tür, auf der durch das dahinter flackernde Licht erhellten Scheibe, stand der Name des Klubs.

Trupp stieß schnell die Tür auf, und sie traten ein.