Read the book: «James Bond 16: Kernschmelze»

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JAMES BOND


KERNSCHMELZE

von

JOHN GARDNER

Ins Deutsche übertragen von Anika Klüver und Stephanie Pannen


Die deutsche Ausgabe von JAMES BOND – KERNSCHMELZE

wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern,

Übersetzung: Anika Klüver und Stephanie Pannen;

verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde;

Lektorat: Katrin Aust und Gisela Schell; Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik;

Cover Artwork: Michael Gillette. Printausgabe gedruckt von

CPI Morvia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice.

Printed in the Czech Republic.

Titel der Originalausgabe: JAMES BOND – LICENSE RENEWED

German translation copyright © 2014, by Amigo Grafik GbR.


Copyright © Ian Fleming Publications Limited 1981 The moral rights of the author have been asserted. Die Persönlichkeitsrechte des Autors wurden gewahrt.

JAMES BOND and 007 are registered trademarks of Danjaq LLC, used under license by Ian Fleming Publications Limited. All Rights Reseved.

Print ISBN 978-3-86425-433-8 (September 2014) E-Book ISBN 978-3-86425-463-5 (September 2014)

WWW.CROSS-CULT.DE · WWW.IANFLEMING.COM

ÜBER DEN AUTOR

John Gardner war ein britischer Spionageroman- und Krimiautor. 1979 erhielt er von Glidrose Publications (heute Ian Fleming Publications) offiziell den Auftrag, Ian Flemings Vermächtnis weiterzuführen und neue James-Bond-Abenteuer zu schreiben. Zwischen 1981 und 1996 schrieb Gardner vierzehn eigene James-Bond-Romane und die Bücher zu zwei James-Bond-Filmen.

Bevor er in den frühen 1960ern eine Karriere als Romanschriftsteller begann, war John Gardner als Zauberkünstler, Offizier der königlichen Marine, Journalist und für kurze Zeit auch als Priester der Anglikanischen Kirche tätig. Gardner erschuf viele beliebte Figuren wie zum Beispiel Boysie Oakes und Herbie Kruger und verfasste insgesamt fünfundfünfzig Romane – darunter zahlreiche Bestseller –, bevor er im August 2007 verstarb.

Weitere Informationen finden sich auf www.john-gardner.com oder der Webseite für Ian Fleming: www.ianfleming.com.

Zum Gedenken an Ian Lancaster Fleming

DANKSAGUNGEN

Ich möchte ganz besonders den Vorstandsmitgliedern von Glidrose Publications Ltd., den Eigentümern des literarischen Urheberrechts für die Figur James Bond, dafür danken, dass sie mich gebeten haben, die recht einschüchternde Aufgabe zu übernehmen, dort weiterzumachen, wo Mr Ian Fleming aufgehört hat, und 007 in die 1980er zu transportieren. Im Speziellen gilt mein Dank Mr Dennis Joss und Mr Peter Janson-Smith und auch H.R.F.K., der als ursprünglicher »Vermittler« fungierte.

Wir sind mittlerweile so sehr an die verblüffenden technischen Spielereien in James-Bond-Abenteuern gewöhnt, dass ich für alle Ungläubigen gerne betonen würde, dass die gesamte »Hardware«, die Mr Bond in dieser Geschichte benutzt, echt ist. Alles, was die Q-Abteilung stellt und Bond bei sich trägt – sogar die Modifikationen an Mr Bonds Saab –, kann man auf gewöhnlichem oder geheimem Wege erwerben. Für die Hilfe auf der Suche nach Einzelheiten bezüglich dieser Ausrüstung bin ich besonders Communication Control Systems Ltd. zu Dank verpflichtet, genauer gesagt der wundervollen Ms Jo Ann O’Neill und dem gefürchteten Sidney.

Was die Erfindungen von Anton Murik, dem Laird von Murcaldy, angeht, werden wir wohl einfach abwarten müssen.

1981

JOHN GARDNER

INHALT

1. Passagier für Flug 154

2. Gedanken auf einer Straße in Surrey

3. Die Opposition

4. Dossier über einen Laird

5. Der Weg nach Ascot

6. Perlen vor die Säue

7. König Murik

8. Felsgrottenmadonna

9. Alle modernen Annehmlichkeiten

10. Dilly-Dilly

11. Der Steinschleuderersatz

12. Ein Auftrag, Mr Bond

13. Nächtliche Fahrt

14. Hochfrequenz

15. Fortgegangen

16. Ein schicksalhaftes Fest

17. Der Tod steht ihr gut

18. Der Plan

19. Ultimatum

20. Warlock

21. Luftangriff

22. Das Schloss des Warlocks

23. Durch und durch eine Lady


PASSAGIER FÜR FLUG 154

Der Mann, der die Toilettenräume des Flughafens betrat, hatte helles Haar, das ordentlich auf Kragenlänge geschnitten war. Er war stämmig, etwa ein Meter sechzig groß, trug eine verknitterte Jeans, T-Shirt und Turnschuhe. Einem geschulten Beobachter wären besonders die durchdringenden blauen Augen aufgefallen, über denen sich die dünnen geschwungenen Brauen fast über der schmalen Nase berührten.

Das Gesicht des Mannes war im Vergleich zu seinem Körper dünn, und die Haut wirkte im direkten Kontrast zu seiner Haarfarbe recht dunkel. Er trug einen kleinen braunen Koffer bei sich, und als er die Toilettenräume betrat, ging er schnurstracks auf eine der Kabinen zu, wobei er vorsichtig an einer Reinigungskraft im Blaumann vorbeitrat, die ohne große Begeisterung den gefliesten Boden mit einem Gummischrubber wischte.

Sobald er sich in der Kabine befand, schob der Mann den Riegel vor, legte den Koffer auf den Toilettendeckel und öffnete ihn, um einen Spiegel herauszuholen, den er an den Türhaken hängte, bevor er sich daran machte, sich bis auf seine weiße Unterhose auszuziehen.

Bevor er das T-Shirt auszog, schob er die Finger gekonnt unter den Haaransatz an seinen Schläfen und zog die Perücke ab, sodass darunter sein kurz geschorenes eigenes Haar zum Vorschein kam.

Mit einem Finger und einem Daumen packte er das Ende seiner linken Augenbraue und zog ruckartig daran, wie eine Krankenschwester, die ein Pflaster von einer Schnittwunde entfernt. Die schmalen Augenbrauen verschwanden – zusammen mit ein wenig Haut –, zurückblieben ungepflegte dicke schwarze Streifen aus natürlichem Haar.

Der Mann arbeitete wie ein Profi – sorgfältig und schnell, als stünde er unter Zeitdruck. Er holte ein Baumwollkorsett aus dem Koffer, legte es um seine Taille und zog es fest zusammen, wodurch er umgehend eine schmalere Taille bekam und gleichzeitig größer wirkte. Letztere Illusion wurde innerhalb weniger Sekunden noch verstärkt. Der Mann faltete die Jeans und das T-Shirt sorgfältig zusammen, schob seine Socken in die ausgezogenen Turnschuhe und zog ein neues Paar dunkelgrauer Socken sowie eine elegant geschnittene, leichte dunkelgraue Hose und schwarze Slipper an, in die etwas eingebaut war, das Schauspieler als »Erhöhung« bezeichnen. Auf diese Weise wurde er gute fünf Zentimeter größer.

Er verstellte den Spiegel an der Tür, zog ein weißes Seidenhemd an und band sich eine perlgraue Krawatte um, bevor er eine längliche Plastikkiste öffnete, die direkt unter dem Korsett, den Socken, der Hose und dem Hemd im Koffer gelegen hatte und aufbeiden Seiten durch je einen der Schuhe an ihrem Platz gehalten worden war.

In dieser Plastikkiste befanden sich neue Maskenteile für das Gesicht des Mannes. Zuerst ein Paar dunkler Kontaktlinsen und die dazugehörige Flüssigkeit, um den auffälligen hellblauen Augen eine dunkle, fast pechschwarze Farbe zu verleihen. Als Nächstes schob er sich kleine, speziell geformte Schaumgummikissen in die Backen, um sein Gesicht flacher wirken zu lassen. Während er sie im Mund hatte, würde er nicht in der Lage sein, zu essen oder zu trinken, aber das spielte im Vergleich zu dem gewünschten Effekt, den er damit erzielte, kaum eine Rolle.

Die wichtigsten Utensilien waren ein maßgefertigter kurzer Bart und ein dazugehöriger Schnurrbart, die aus echtem Haar auf einer unsichtbaren, selbstklebenden Latexschicht aufgebracht waren. Über den Rand der Latexschicht hingen echte Borsten, und wenn der Mann diesen falschen Bart korrekt an seinem Kinn und seiner Unterlippe anbrachte, entstand selbst aus nächster Nähe der Eindruck einer vollkommen echten Gesichtsbehaarung. Ein Experte in New York, der behauptete, in einem fragwürdigen entfernten Verwandtschaftsverhältnis zu Ludwig Leichner zu stehen – dem berühmten Wagnersänger aus dem neunzehnten Jahrhundert, der außerdem als Erfinder der Theaterschminke gilt –, hatte diesen Bart speziell hergestellt.

Der Mann lächelte das ungewohnte Gesicht an, das ihm nun aus dem Spiegel entgegenblickte, und komplettierte das neue Bild durch eine Metallgestellbrille mit Fensterglas. Auch ohne das Zutun von Leichners unbewiesenem Verwandten war die nicht wiedererkennbare Person, die ihn nun aus dem Spiegel anschaute, ein wahrer Make-up-Experte und Tarnkünstler. Es war Teil seines Repertoires – vermutlich der am wenigsten tödliche Teil –, und er hatte unter den besten Männern und Frauen in Hollywood studiert. Außerdem grenzte sein diesbezügliches persönliches Wissen fast an den Inhalt eines Lexikons. Er hatte all die berühmten Werke gelesen, wie zum Beispiel Lacys Art of Acting, den anonym verfassten Practical Guide to the Art of Making Up, der von Haresfoot and Rouge herausgegeben worden war, sowie all die anderen Standardwerke von Leman Rede, C. H. Fox und dem großen S. J. A. Fitzgerald.

Nun schloss er die längliche Kiste, nahm ein Jackett aus dem Koffer, das zu seiner Hose passte, steckte alles Notwendige in seine Taschen – Brieftasche, Pass, Reisepapiere, Taschentuch, Kleingeld und Scheine – und musterte sich ein letztes Mal im Spiegel. Dann packte er alles mit enormer Sorgfalt ein, befestigte eine goldene Digitaluhr an seinem linken Handgelenk und nahm einen letzten Gegenstand aus einer Tasche im Kofferdeckel – eine eng anliegende Hülle, die man über den Koffer ziehen konnte, um dessen Farbe zu verändern: Auf diese Weise wurde aus dem ursprünglichen Braun ein glänzendes Schwarz. Zum Schluss verschloss er den Koffer, zog die neue Hülle darüber und verriegelte die Zahlenschlösser.

Er schaute sich ein letztes Mal um, überprüfte seine Taschen und verließ die Kabine. Er war nun nicht mehr als die Person wiederzuerkennen, die den Toilettenraum betreten hatte. Er ging geradewegs auf den Ausgang zu, trat hinaus und marschierte quer durch die Wartehalle zum Check-in-Schalter.

Im Inneren der Toilettenräume lehnte der Mann, der den gefliesten Boden gewischt hatte, seinen Gummischrubber an die Wand und ging ebenfalls hinaus. Er ging genau wie der andere Mann durch die Wartehalle, aber am Check-in-Schalter vorbei und zu einer Tür mit der Aufschrift PRIVAT, die er mit einem eigenen Schlüssel aufschloss. Im Inneren des Raums befanden sich ein Tisch, ein Stuhl und ein Telefon.

Während sich der Mann mit dem neuen Gesicht darauf vorbereitete, an Bord der Aer-Lingus-Maschine EI 154 von Dublin nach London Heathrow zu gehen, sprach die unbedeutend aussehende Reinigungskraft schnell in das Telefon. Es war fast Viertel vor neun.


GEDANKEN AUF EINER STRASSE IN SURREY

James Bond schaltete in den dritten Gang runter, bog mit dem Saab 900 Turbo scharf nach links ab, kratzte am Grassaum entlang und beschleunigte dann noch ein wenig mehr, um den Wagen aus der Kurve herauszubringen.

Er folgte einer komplizierten Abfolge von Landstraßen, einer Abkürzung durch Hecken und Felder und vorbei an hohen Bäumen, die die Nebenstraßen von Surrey säumten. Es war eine Route, die quer durchs Land führte und ihn schließlich zur Zufahrt nach Guildford und dann geradewegs über gute Straßen nach London bringen würde. Bond fuhr viel zu schnell. Ein Blick auf die Digitalanzeigen, die sich in der Windschutzscheibe seines speziell aufgerüsteten Saabs spiegelten, verriet ihm, dass der Wagen mit fast hundertfünfzehn Stundenkilometern unterwegs war. Auf dieser Art von Nebenstraßen war das definitiv gefährlich. Der Motor heulte auf, als er erneut einen Gang runterschaltete und dann durch eine Reihe S-Kurven beschleunigte. Langsam kehrte der gesunde Menschenverstand zurück, und Bond bremste, um die Geschwindigkeit auf ein realistischeres Maß zu drosseln. Er war jedoch noch immer aufgebracht und wütend.

Er hatte diese Strecke an diesem Abend schon einmal in die andere Richtung zurückgelegt, um zu seinem kürzlich erworbenen und neu eingerichteten Landhaus zu gelangen. Nun raste er an diesem schönen Freitagabend Anfang Juli mit halsbrecherischer Geschwindigkeit nach London zurück. Das Wochenende war seit einiger Zeit geplant gewesen, und da die Handwerker und Innenausstatter ihre Arbeiten gerade abgeschlossen hatten, hätte das sein erstes freies Wochenende im Landhaus werden sollen. Außerdem hatte er geplant, es mit einer langjährigen Freundin zu verbringen – einer lebhaften, herrlich attraktiven Blondine –, mit der er sich, wie Ms Stabschef Bill Tanner es ausgedrückt hatte, »seit Jahren immer mal wieder vergnügte«. Die Tatsache, dass sie nur knapp zehn Kilometer von seinem Landhaus entfernt wohnte, hatte großen Einfluss auf Bonds Kaufentscheidung gehabt. An diesem Freitag hatte er einen ganzen Berg Papierkram in Rekordzeit erledigt und das Büro nicht einmal in der Mittagspause verlassen, damit er rechtzeitig das Londoner Verkehrschaos hinter sich lassen konnte, bevor der übliche freitägliche Feierabendverkehr begann.

Die Landschaft zeigte sich von ihrer besten Seite. Der vielseitige Duft eines perfekten Sommers strömte ins Innere des Autos und brachte ein Gefühl der Behaglichkeit und Zufriedenheit mit sich – etwas, das Bond in letzter Zeit nur selten erlebte.

James Bond war kein abergläubischer Mann, doch als er sich an diesem Abend dem Landhaus näherte, fiel ihm auf, dass sich dort mehr Elstern als gewöhnlich aufzuhalten schienen. Sie flogen tief, segelten und flatterten quer über die Straßen und Wege wie schwarz-weiße Würfel bei einem Glücksspiel. Bond dachte an das alte Sprichwort: »Eine steht für Trauer, zwei für Freude.« An diesem Abend segelten jede Menge einzelne Elstern um sein Auto herum.

Als er das Landhaus erreichte, stellte Bond eine Flasche 55er Dom Perignon kalt und wusste, dass er entweder köstlich oder der teuerste Weinessig sein würde, den er je probiert hatte.

Dann ging er in das zusätzliche Zimmer im Erdgeschoss, zog den einigermaßen konservativen Anzug aus und duschte erst mit kochend heißem und dann mit eiskaltem Wasser, das wie Nadeln auf seiner Haut prickelte. Nachdem er sich mit einem rauen Handtuch abgetrocknet hatte, trug Bond eine kleine Menge Parfum von Guerlain auf, bevor er eine leichte marineblaue Kammgarnhose und ein weißes Baumwollhemd anzog. Er schlüpfte in bequeme weiche Ledersandalen und befestigte gerade die alte und geschätzte goldene Rolex Oyster Perpetual an seinem Handgelenk, als das Telefon klingelte.

Es war eher ein Schnurren als ein Klingeln. Das rote Telefon. Sein Herz wurde schwer. Sowohl hier im Landhaus als auch in seiner Londoner Wohnung in der King’s Road musste James Bond zwei Telefone haben: eins für den normalen Gebrauch, auch wenn es nicht registriert war, und ein zweites, einen roten Apparat – ein flaches, eckiges Gerät ohne Wählscheibe oder Ziffernblock. In seiner Branche galt es als »abhörsicher«. Dieses sichere, saubere, nicht zu verwanzende Telefon war direkt mit dem Gebäude im Regent’s Park verbunden, das als Hauptgeschäftsstelle von Transworld Export Ltd. bekannt war.

Bevor er auch nur eine Hand nach dem Telefon ausgestreckt hatte, verspürte Bond einen ersten Anflug leichter Verärgerung. Der einzige Grund für einen Anruf aus dem Hauptquartier an einem Freitagabend war irgendeine Art Notfall, oder ein Bereitschaftszustand, den M extra für Bond geschaffen hatte. Bonds Verärgerung wurde vermutlich noch von der Tatsache verstärkt, dass in letzter Zeit viele Notfälle bedeutet hatten, tagelang in einem Kontroll- oder Kommunikationsraum herumzusitzen oder eine komplexe Besprechung durchzustehen, die mit der Anweisung endete, die geplante Mission abzubrechen. Die Zeiten hatten sich geändert, und Bond hielt nicht viel von den politischen Einschränkungen, die man dem Secret Service auferlegt hatte, dem er nun schon länger treue Dienste leistete, als er sich eingestehen wollte.

Er nahm den Hörer des roten Telefons ab.

»James?« Wie Bond erwartet hatte, erklang Bill Tanners Stimme am anderen Ende der Leitung.

Bond brummte eine säuerliche Bestätigung.

»M braucht Sie hier«, sagte Tanner tonlos.

»Jetzt?«

»Seine genauen Worte möchte ich am Telefon nicht wiederholen, aber er hat angedeutet, dass Sie sich so schnell wie möglich herbemühen sollen.«

»An einem Freitagabend?«, hakte Bond nach. Seine Verärgerung wuchs schnell an, während er vor seinem inneren Augen sah, wie sein idyllisches Wochenende verschwand wie der Inhalt einer ausgezeichneten Flasche Wein, die man in den Ausguss schüttete.

»Jetzt sofort«, betonte der Stabschef und legte auf.

Als er die Abfahrt nach Guildford erreichte, erinnerte sich Bond an die Enttäuschung in der Stimme seiner Freundin, als er sie angerufen hatte, um ihr gemeinsames Wochenende abzusagen. Er schätzte, dass ihm das ein gewisser Trost sein sollte – nicht dass es in letzter Zeit viel gegeben hätte, das Bond Trost spendete. Es hatte sogar Augenblicke gegeben, in denen er ernsthaft über eine Kündigung nachgedacht hatte – oder wie es im Fachjargon hieß: »eine Privatisierung«. Fachjargon änderte sich. Früher wäre dieser Ausdruck gleichbedeutend mit Abtrünnigkeit gewesen, doch das war nun nicht mehr der Fall.

»Die Welt und die Zeiten ändern sich, James«, hatte M vor ein paar Jahren zu ihm gesagt, als er ihm die Neuigkeit eröffnet hatte, dass sein gesonderter Doppelnullstatus – der bedeutete, dass er die Lizenz besaß, in Ausübung seiner Pflicht zu töten – abgeschafft werden würde. »Narren und Politiker haben keine Ahnung von unseren Anforderungen. Die werden schon bald dafür sorgen, dass wir nach der Stechuhr arbeiten müssen.«

Dieses Gespräch hatte während der sogenannten Neuordnungssäuberung stattgefunden, die man beim Secret Service oft nur als »Operation gelungen, Patient tot«-Aktion bezeichnete, ähnlich wie das berühmte »Halloween-Massaker« bei der CIA, bei dem man zahllose treue Mitarbeiter des amerikanischen Geheimdiensts buchstäblich über Nacht entlassen hatte. Ähnliche Aktionen waren in Großbritannien durchgeführt worden. Man hatte die finanziellen Mittel gestrichen und eine Vorgehensweise angeordnet, die eine großspurige Anordnung aus Whitehall als »eine realistischere Logik in Bezug auf den Geheim- und Sicherheitsdienst« bezeichnete.

»Sie versuchen, uns die Zähne zu ziehen, James«, hatte M an diesem deprimierenden Tag weiter erklärt. Dann hatte M eines dieser seltenen Lächeln aufblitzen lassen, die seine tief liegenden grauen Augen stets zu erhellen schienen, und schnaubend bemerkt, dass sich Whitehall mit dem falschen Mann angelegt habe, solange er noch das Sagen habe. »Soweit es mich betrifft, 007, werden Sie 007 bleiben. Ich werde die volle Verantwortung für Sie übernehmen. Und Sie werden wie immer ausschließlich von mir Befehle und Aufträge entgegennehmen. Es gibt Momente, in denen dieses Land einen Friedensstifter braucht – eine Schlagwaffe –, und verdammt noch mal, den wird es auch haben. Die können uns mit ihrem Papierkram bombardieren und die Doppelnullabteilung abschaffen. Wir werden einfach den Namen ändern. Von nun an wird es die Spezialabteilung sein, und Sie sind ein Teil davon. Verstanden, 007?«

»Natürlich, Sir.«

Bond lächelte bei der Erinnerung daran. Trotz Ms brüsker und oft kompromissloser Art liebte Bond ihn wie einen Vater. Für 007 war M der Secret Service, und der Secret Service war Bonds Leben. Und was M vorschlug, war genau das, was die Russen mit seinen alten Feinden von SMERSCH – Smert Schpionam, Tod den Spionen – gemacht hatten. Er existierte noch, dieser dunkle Kern im Herzen des KGBs, und hatte eine ganze Reihe an Metamorphosen durchgemacht. Zuerst wurde daraus der OKR, dann die Dreizehnte Abteilung von Linie F und nun nannte sich die Organisation Abteilung Viktor. Doch ihre Arbeit und ihre grundlegenden Strukturen waren gleich geblieben – politischer Mord, Entführungen, Sabotage, Attentate und die schnelle Beseitigung feindlicher Agenten, entweder nach einem Verhör oder als Kriegshandlung auf dem geheimen Schlachtfeld.

Bond hatte Ms Büro an jenem Tag in gehobener Stimmung verlassen. Doch in den paar Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte er lediglich vier Missionen ausgeführt, in denen seine Doppelnullnummer eine Rolle gespielt hatte. Ein Teil seiner Arbeit bestand darin, Menschen zu töten. Er mochte diesen Aspekt nicht, aber da es seine Pflicht war, erfüllte er auch diese Aufgabe sehr gut. Dennoch empfand er definitiv kein Verlangen nach dieser Art von Arbeit. Bond vermisste das aktive Leben, die ständige Herausforderung eines neuen Problems, einer schwierigen Entscheidung im Dienst, das Gefühl, einen Zweck zu erfüllen und seinem Land zu dienen. Manchmal fragte er sich, ob er in den Bann jener Unpässlichkeit geraten war, die Großbritannien hin und wieder an der Kehle zu packen schien – politische und wirtschaftliche Lethargie, kombiniert mit einem kurzsichtigen Blick auf die Probleme der Welt.

Bonds letzte vier Missionen waren schnelle, unproblematische verdeckte Operationen gewesen. Und auch wenn es falsch wäre, zu behaupten, dass sich James Bond nach der Gefahr sehnte, schien es seinem Leben momentan gelegentlich an einem richtigen Sinn zu mangeln.

Er hielt sich nach wie vor topfit: Jeden Morgen absolvierte er ein strenges Trainingsprogramm aus Liegestützen, Bein-, Arm- und Atemübungen. Einmal im Monat machte er einen »Auffrischungskurs« in Nahkampf und Anschleichmethoden in der Trainingseinrichtung der Firma, einmal wöchentlich ging er zum Handfeuerwaffentraining am hochmodernen elektronischen Schießstand tief unter dem Hauptquartier im Regent’s Park und einmal monatlich zum Training für die größeren Schusswaffen am Polizeischießstand in Maidstone. Zweimal jährlich verschwand er für vierzehn Tage ins Hauptquartier des Special Air Service in Herefordshire.

Bond hatte es sogar geschafft, seinen Lebensstil ganz leicht zu verändern, um sich an die veränderten Anforderungen der 1970er und frühen 1980er anzupassen: Er hatte – zumindest für einen Großteil der Zeit – seinen Alkoholkonsum drastisch reduziert und bei Morelands in der Grosvenor Street eine Zigarettensorte mit einer neuen besonderen Tabakmischung bestellt, deren Teergehalt ein wenig geringer war als bei denen, die man momentan auf dem Markt erwerben konnte. In diesem Augenblick lagen zwanzig dieser Zigaretten – jede davon mit den drei charakteristischen goldenen Ringen direkt unterhalb des Filters versehen – in dem Etui aus Geschützbronze, das sicher in Bonds Brusttasche steckte.

Den Rest der vergangenen paar Jahre hatte Bond mit der Plackerei verbracht, die seine Position als Ms Verwaltungsbeamter mit sich brachte: Papierkram zur Planung, Befragungen, Abschlussbesprechungen, Analysen, schmutzige Tricks und Abhöroperationen und eine Menge Stunden im Hauptquartier in der Funktion des diensthabenden Offiziers. Seine einzigen kleinen Freuden während dieser Zeit waren der Kauf des Landhauses und des neuen Autos gewesen.

Er hatte schon lange mit der Anschaffung eines ruhigen kleinen Landsitzes geliebäugelt und fand das geeignete Objekt schließlich acht Kilometer außerhalb von Haslemere und gute anderthalb Kilometer vom nächsten Dorf entfernt. Das Haus passte perfekt zu Bonds Ansprüchen, und er kaufte es innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach der ersten Besichtigung. Einen Monat später waren die Handwerker und Inneneinrichter mit sehr genauen Anweisungen des neuen Besitzers angerückt.

Das Auto war eine andere Angelegenheit. Da die Benzinpreise mittlerweile enorm hoch waren und auch unweigerlich weiter steigen würden, hatte Bond beschlossen, seinen geliebten alten Bentley Continental Mark II den Weg seines Vorgängers, dem 4½-Liter-Bentley, gehen zu lassen.

Manch einer hatte verwundert reagiert, als er sich für ein ausländisches Auto entschied, obwohl man doch ständig bedrängt wurde, britische Produkte zu kaufen, aber Bond hatte die Bemerkungen abgetan und auf die Tatsache hingewiesen, dass die Feinheiten der besonders komplexen und hochentwickelten Sonderausstattung – wie die digitale Armaturenbrettanzeige, der Tempomat und die zahlreichen anderen Zaubertricks – von einer britischen Expertenfirma eingebaut wurden und nur durch britisches Fachwissen und den mächtigen Mikrochip verwirklicht werden konnten.

Er erwähnte nicht, dass der Wagen etwa einen Monat lang bei der multinationalen Firma Communication Control Systems (C.C.S.) gewesen war, damit die dortigen Experten ein paar ihrer eigenen Standardverbesserungen installieren konnten – Sicherheitsapparaturen, nach denen sich die Q-Abteilung die Finger lecken würde. Bond argumentierte, dass es sein Auto war und er, nicht die Q-Abteilung – die ohnehin unter enormen finanziellen Einschränkungen litt –, entscheiden würde, welche Sonderfunktionen eingebaut werden sollten. Bei mehreren Gelegenheiten hatte er den Waffenmeister Major Boothroyd in der Nähe seines Saabs herumschnüffeln sehen. Und mittlerweile war es ganz normal für ihn, Mitglieder der Q-Abteilung – die genialen Technikzauberer des Secret Service – dabei zu erwischen, wie sie einen gründlichen Blick auf den Wagen warfen. Keiner von ihnen erwähnte jemals die Dinge, die sie einfach nicht übersehen konnten – wie zum Beispiel die kugelsicheren Scheiben, die mit Stahl verstärkten Stoßstangen und die hochbelastbaren Reifen, die sich sogar dann noch selbst versiegeln konnten, wenn sie von Kugeln getroffen worden waren. Es gab allerdings noch weitere Feinheiten, die niemand aus der Q-Abteilung ohne Spezialausrüstung entdecken konnte.

Der Saab war nun an Bonds Bedürfnisse angepasst. Er ließ sich problemlos von Benzin auf Gas umrüsten, falls die Treibstoffsituation noch kritischer werden sollte, der Verbrauch war im Verhältnis zur Geschwindigkeit niedrig, und der Turboantrieb verlieh ihm diesen zusätzlichen dynamischen Schub, den man in einer brenzligen Situation immer brauchen konnte.

Nur wenige Personen wussten von dem Haus, also erntete Bond keine verwunderten Blicke oder dummen Sprüche dafür, dass er nun einen Landsitz besaß.

Das freitagabendliche Verkehrschaos in London war fast schon wieder vorbei, als er Roehampton erreichte, also konnte er den Saab noch vor halb acht auf seinem persönlichen Parkplatz in der Tiefgarage unter dem Hauptquartier abstellen.

Bond wäre jede Wette eingegangen, dass M irgendeine sinnlose und langweilige Aufgabe für ihn hatte, und schloss im Geiste sogar eine Wette mit sich selbst, während ihn der Aufzug lautlos in den neunten Stock des Gebäudes hinaufbrachte, in dem sich Ms Aufenthaltsraum und Büro befanden.

Miss Moneypenny, Ms persönliche Assistentin, schaute mit einem besorgten Lächeln auf, als Bond das Empfangsbüro betrat. Das war das erste Anzeichen dafür, dass es sich um etwas Wichtiges handeln könnte.

»Hallo, Penny.« Bond begrüßte sie fröhlich und verdrängte seinen Ärger über das verlorene Wochenende. »Sind Sie heute nicht mit einem Ihrer jungen Männer unterwegs? Wir haben verdammt noch mal Freitagabend, wissen Sie?«

Miss Moneypenny deutete mit dem Kopf in Richtung von Ms Bürotür und sagte: »Und er wartet verdammt noch mal auf Sie. Und deswegen muss ich auch hierbleiben.« Sie lächelte. »Außerdem schien der einzige Mann, der mich zu einer Runde durch die Stadt überreden könnte, anderweitig beschäftigt zu sein.«

»Oh Penny, wenn es doch nur so wäre …« Bond grinste. Sie neckten sich schon seit Jahren mit diesen kleinen Wortgefechten, und doch hatte Bond nie wirklich erkannt, wie sehr die fähige und ordentliche Moneypenny für ihn schwärmte.

»Sagen Sie Commander Bond, dass er sofort reinkommen soll«, schnauzte Ms blecherne Stimme aus der Gegensprechanlage auf Miss Moneypennys Schreibtisch.

Bond zog fragend eine Augenbraue hoch und ging auf die Tür zu. Mit gedämpfter Stimme raunte er: »Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Janet Reger ihr Geschäft mit dem Gedanken an Sie gegründet hat, Penny?«

Miss Moneypenny errötete, als Bond bereits in Ms Büro verschwand und die Tür hinter sich zuzog. Ein grünes Licht ging über der Tür an, als sie ins Schloss fiel. Sie starrte einen Augenblick lang ins Leere und hatte immer noch das Nachbild des Mannes im Kopf, der gerade Ms Allerheiligstes betreten hatte: das braungebrannte attraktive Gesicht mit den recht langen dunklen Augenbrauen über den großen, geraden blauen Augen; die fast acht Zentimeter lange Narbe, die vertikal über seine rechte Wange verlief; die lange, sehr gerade Nase und der feine, aber grausame Mund. Im dunklen Haar waren einzelne graue Strähnen aufgetaucht, doch das jungenhafte schwarze Komma über dem rechten Auge war noch immer da. Die Backen wirkten noch nicht dicklich, und das Profil um das Kinn herum war so glatt und fest wie eh und je. Es war das Gesicht eines attraktiven Freibeuters, dachte Miss Moneypenny und riss sich aus ihrem ein wenig unangemessenen Tagtraum. Sie fragte sich, ob sie James Bond hätte warnen sollen, dass M nicht allein in seinem Büro war.

Als James Bond die Tür zu Ms Büro öffnete, ging etwa achthundert Kilometer nördlich von London eine weitere Tür auf.

Der Mann, der Dublin früh an diesem Morgen in einer geschickten Tarnung verlassen hatte, schaute auf, erhob sich von seinem Stuhl und streckte zur Begrüßung eine Hand aus.

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367 p. 29 illustrations
ISBN:
9783864254635
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Copyright holder:
Bookwire
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