Gebet als Selbstgespräch

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Gebet als Selbstgespräch
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GEBET ALS SELBSTGESPRÄCH

GEBET UND KOAN ALS BEZIEHUNG ZU GOTT IN MIR

Johannes Kopp



VORWORT

Die Anregung, das Eigentliche der Zen-Kontemplation von LEBEN AUS DER MITTE ins Wort zu bringen, erhielt ich am Tag der Priester und Diakone im Bistum Essen am 13.1.2014 durch den Referenten Prof. Tomáš Halík. Dieser erwähnte am Ende seines Vortrags, ein japanischer Kollege habe ihm gesagt, ein Zugang zur Heiligen Schrift für Glaubenserfahrung sei nur über die Koanweise erreichbar. Im Anschluss an diesen Vortrag wurde ich von Mitbrüdern gefragt, wie das zu verstehen sei.

In dieser Schrift versuche ich, soweit es möglich ist, auf diese Frage einzugehen, wohl wissend um die Grenzen der Sprache und meiner Möglichkeiten.

So sei diese Schrift Suchenden gewidmet, die offen sind für die Geheimniswirklichkeit des Menschen und gemäß des Unaussprechlichen keine widerspruchslosen Erklärungen erwarten, sondern Sprache als Hinweis eines brennenden Herzens sehen können.

Als Hinweis – und nur als Hinweis: „Brannte uns nicht das Herz“ (Lk 24,32) sagen auch wir, wenn wir auf dem Weg der Zen-Kontemplation auf dem Wege sind, im Wahren Selbst eine Chiffre der Geheimniswirklichkeit zu erkennen und zu erfahren – in Annäherung zu der Forderung: „Fragt euch selbst, ob ihr im Glauben seid. Habt ihr nicht erkannt, dass Jesus Christus in euch ist! Sonst hättet ihr als Gläubige ja schon versagt“ (2 Kor 13,5). Dies in Korrespondenz von Selbstfindung und Gottfindung, wenn auch nie in Identität, so doch in gegenseitig bedingter Intensivierung.

So wage ich mich an das Thema „Gebet als Selbstgespräch“, in dem das Wahre Selbst nicht als aufgeblähtes Ich erscheint, sondern als Entäußerung zum Wir nach den eucharistischen Worten: „Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.“

Um Missverständnisse zu mindern, sollen nicht einzelne Begriffe herausgenommen, sondern in ihrem erklärenden Kontext gelesen werden. Mit diesem Anspruch wendet sich auch Tomáš Halík an seine Leser: „Denn vielleicht erkennt auch ein Mensch, der nie die Sprachphilosophie Wittgensteins studiert hat, dessen Grundprinzip an, dass wir den wirklichen Sinn eines Satzes nicht im Satz selbst entdecken, sondern im Kontext, in dem der Satz gesagt oder geschrieben wurde.“1

Ich lege diese Schrift in ihrem Ungenügen vor nach dem Motto unseres Programms: „All unsere Bemühung ist eine Geste des Bittens“.

Johannes Kopp

Mülheim an der Ruhr im Juni 2014

INHALT

VORWORT

SCHWEIGEN UND REDEN

Gebet als Selbstgespräch

Reden und Schweigen

Es gibt Nichts, das nicht Nichts ist

Menschliche Natur als Gottebenbildlichkeit

Menschliche Wesensnatur und göttliche Offenbarung

Gesundheit und Krankheit – gleichwertig für menschliche Vollendung

SELBSTFINDUNG UND GOTTFINDUNG

WIE und WAS sind gleichwertig

Atomare Kräfte des Segens freilegen – tun, was dran ist

Gott in uns Gott sein lassen

P. Lassalle – Zen-Weg als Intensivierung der christlichen Gotteserfahrung

ZEN UND EUCHARISTIE

„Ich bin ein kosmisches Wesen“ – die unendliche Wirklichkeit

„Tut dies zu meinem Gedächtnis“ – der zengemäße Vollzug

KOAN-ZUGANG ZUR HEILIGEN SCHRIFT

Zen und die Bibel – Begegnung zwischen Ost und West

BIBLISCHE KOANS

„Dein Wille geschehe“

Die wahren Verwandten Jesu

Das Gleichnis vom Schatz und von der Perle

CHRISTLICHE KOMMENTARE ZU KOANS AUS DEM MUMONKAN

Jôshûs „Wasch‘ Deine Essschalen“

Zuigan ruft sich selbst „Meister“

Nansen tötet eine Katze

EPILOG


SCHWEIGEN UND REDEN

Du, mein Gott, sprichst keine begriffliche, keine raum – zeitliche Sprache.

Oder doch?

Wie soll ich mit dir, mein Gott, sprechen? Ganz einfach: Wie ich kann. Ich kann nur sprechen mit meiner raum-zeitlichen Sprache. Du verstehst meine Sprache, du verstehst jede Sprache. Wie kann ich deine Sprache erlernen? Ich kann deine Sprache nur erlernen, indem ich von meiner Sprache ausgehe. Ich muss damit beginnen, dass ich mit dir in meiner Sprache rede. Je mehr ich mit dir in meiner Sprache rede, desto mehr bekomme ich Beziehung zu dir.

Aber Reden ist nicht reden. Anders ist die Rede, wenn ich richte und erkläre, und anders ist die Rede, wenn ich liebe. Anders ist die Sprache, wenn ich eins werden will mit dir, wenn ich von mir ausgehe, um in dich einzugehen. Das wäre die Sprache der Liebe.

So reden Liebende. Sie beginnen, indem jeder spricht in seiner Sprache – und mehr und mehr wandelt sich die Weise der Mitteilung.

Sie beginnt mit Worten, und alles geschieht über Worte. Je mehr die Worte gesprochen werden in Liebe, desto mehr geschieht die Verständigung in Liebe und weniger in Worten. Die tiefste Verständigung, die tiefste Einigung, ereignet sich in Liebe. Die Verständigung in Worten geht über den Verstand. Die Verständigung in Liebe kommt von Herzen. Die Vereinigung in Liebe führt aber nicht dahin, dass man sich schließlich nichts mehr zu sagen hätte. Im Gegenteil. Je tiefer sich die Einigung in Liebe vollzieht, desto mehr weitet sich der Horizont in der Wahrnehmung des andern in seinem Wahren Wesen, desto mehr offenbart sich der andere als Unendlichkeitswesen.

In dieser immer neuen Wahrnehmung nährt sich auch der Verstand mit immer neuen Erkenntnissen. Wenn die Liebe sich vertieft, hat man sich immer mehr zu sagen. Was man sich aber dann sagt, erweist sich nur dann als wesentlich, wenn die Sprache motiviert zu immer größerer Liebe und tieferer Erkenntnis. Liebe und Erkenntnis weiten sich endlos ins Unendliche.

So stehen Wort und Liebe in einer sich verunendlichenden Wechselbeziehung:

Im liebenden Schweigen wird das Herz erfüllt zum Überströmen: „Denn wovon das Herz voll ist, davon spricht der Mund“ (Mt 12,34).

So sagt Zenkei Shibayama: „Jedenfalls versuchen Zen-Meister stets, uns zum Verständnis zu führen, dass im Angesicht wirklicher Erkenntnis die Begriffe – wie groß auch begriffliche Erfahrung und Erkenntnis sein mögen – Schneeflocken gleichen, die auf ein brennendes Feuer fallen.“2

Diese sich verunendlichende Wechselbeziehung kann sich aber letztlich nicht in begrenzten Wesen ereignen. Es bedarf eines unendlichen Gegenübers, das so ins Unendliche einweisen kann. Wie gefährlich ist die Sprache! Gegenüber: Schon dieses Wort verführt zu einem Missverständnis, als wäre dieses Gegenüber eine Wirklichkeit außerhalb von mir. Dieses unendliche Gegenüber ist nicht eine Wirklichkeit irgendwo, sondern nirgendwo anders als in mir. „Halt an, wo laufst du hin? Der Himmel ist in dir. Suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für.“3 „Der Himmel ist nicht eine weit entfernte und unbekannte Zone des Universums, er gehört in die Geographie des Herzens“ sagte Papst Benedikt.4 Um diesem Missverständnis des Begriffs Gegenüber vorzubeugen habe ich ein Wort gefunden, das diesem Gegenüber seinen Ort gibt, seinen Sitz im Leben: So spreche ich von diesem Gegenüber als einem Inüber. Das Inüber ist aber auch immer ein Gegenüber dem Erkennen wollenden Verstand. Das Inüber ist vom Verstand nie einholbar. Der Verstand muss aushalten, dass er diese letzte Wirklichkeit nicht erfassen kann, dass diese letzte Wirklichkeit aber alles erfasst. Sie ist Geheimnis. Nur wenn ich dieses Geheimnis in mir anerkenne, kann ich zu mir heim kommen. Das ist der Weg zum Einswerden mit mir selbst.

GEBET ALS SELBSTGESPRÄCH

Einen anderen Weg zum Einswerden mit sich selbst gibt es nicht.

Die konsequente Antwort auf die Frage: „Wie soll ich mit dir, mein Gott, sprechen?“ lautet: Reden mit Gott ist letztlich ein Selbstgespräch.

 

Letztlich, weil dies einen so hohen Grad an Vollkommenheit voraussetzt, dass dies kein Heiliger von sich selber sagt, die Annäherung daran aber nicht ausschließt. So Paulus: „Nicht dass ich es schon erreicht hätte oder dass ich schon vollendet wäre. Aber ich strebe danach, es zu ergreifen, weil auch ich von Christus Jesus ergriffen worden bin. Brüder, ich bilde mir nicht ein, dass ich es schon ergriffen hätte. Eines aber tue ich: Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist. Das Ziel vor Augen, jage ich nach dem Siegespreis: der himmlischen Berufung, die Gott uns in Christus Jesus schenkt“ (Phil 3,12–14). „Ahmt auch ihr mich nach, Brüder, und achtet auf jene, die nach dem Vorbild leben, das ihr an uns habt“ (Phil 3,17).

Gebet könnte dann als Selbstgespräch gesehen werden, wenn ein so vollkommener Grad der Identität des gottgeeinten Wahren Selbst erreicht ist, dass keine Ich-Reste im Bewusstsein verbleiben. Eben das ist gemeint mit der mystischen Nichtserfahrung, von der auch der hl. Vinzenz Pallotti sagt: „Er, Gott, ist in mir, lebt in mir und wirkt in mir, so dass ich mich in allem und immer betrachten muss, als hätte ich nie existiert, noch existierte ich, noch würde ich je existieren. Und so bin ich wie zum reinen Nichts gekommen. Gott ist alles, tut alles, wirkt alles in mir.“5 In solchem Bewusstsein sind alle Ich-Reste verbrannt, und im Selbst bleibt nur Gott. In diesem Sinne könnte man sagen: Gebet ist ein Selbstgespräch.

Ein solches Zeugnis finden wir auch bei Mutter Teresa: „Nur wenn wir unser Nichts, unsere Leere, wahrnehmen, kann Gott uns mit Sich Selbst erfüllen.“6 „Sind wir Ihm so gegeben – dass wir feststellen, dass Seine Augen durch uns herausschauen, dass Seine Zunge spricht, dass Seine Hände arbeiten, dass Seine Füße laufen und dass Sein Herz liebt?“7 Mit Freude lese ich immer wieder in der „Nachfolge Christi“: „Mein reines Streben zu dir brachte mich zu dir und gleichermaßen zu mir. Aus Liebe nahm ich mich noch gründlicher für nichts.“8 Und ein Wort des hl. Augustinus: „Du aber warst innerlicher als mein Innerstes und höher als mein Höchstes“.9

Es lassen sich unzählige Beispiele finden, die das Gebet als Selbstgespräch erscheinen lassen und in denen das Vergöttlichte des Wahren Selbst zur Sprache kommt. Es findet sich auch eine Sprache im verschärften Blick auf die „Ich-Reste“, die nie ganz im irdischen Leben ausgeschieden werden können, in den geradezu unverständlichen Verdemütigungen des hl. Vinzenz Pallotti: „Mein Gott, mein Vater! … Es ist wahr, wirklich wahr, dass ich ein entsetzliches Ungeheuer der Undankbarkeit bin“10 „Unmöglich kann ich auch meine ungeheuerliche Undankbarkeit gegen Deine Gnaden und meine unendliche Unwürdigkeit erfassen“.11 Im Licht der Gnade sieht Pallotti diese, die Gnade hindernden Ich-Reste. Er sieht, wie Gott den Menschen zum Herrlichsten berufen hat, dem gegenüber er sich immer auch als Hindernis erkennt. Er kennt aber auch ein Wort des hl. Augustinus: „Gott wurde Mensch, dass der Mensch Gott werde.“ Und das Wort des hl. Ambrosius: „Das Wort ist Fleisch geworden, damit das Fleisch Gott werde“.12 Wie gefährlich solche Aussagen sind, wenn sie aus dem Erlebniszusammenhang der Autoren heraus genommen sind, zeigt sich bei gewissen Vertretern der Zen-Praxis mit Aussagen: „Ich bin Gott.“ Sie kann in einem Erlebnismoment spontane Äußerung sein, wird aber verwerflich, wenn sie in einem öffentlichen Bekenntnis gesagt ist. Als spontane Äußerung bedarf sie einer Polarisierung – wie bei den Heiligen – in ebenso spontaner abgründiger Demut. Den höchsten Grad irdisch erreichbarer Vollkommenheit erlebt der hl. Vinzenz Pallotti in der Gnade der vollkommenen Reue im steten Beginn und in der Dynamik fortwährender Umkehr.

Warum erscheint diese Qualität des Betens oder der Selbstfindung in keiner Schule des Betens und der Selbstfindung oder der Selbstverwirklichung? Die Gefahr eines Missverständnisses darf nicht übersehen werden. Andererseits sind wohl der Weg zu Gott und der Weg zum Menschsein noch zu wenig gewertet als ein einziger Weg. Im Zeitmaß der Evolution ist das Ereignis der Inkarnation ein Licht, das in unserem Bewusstsein noch nicht in seiner vollen Bedeutung angekommen ist. Für diese alles Begreifen überbietende Wahrheit sind 2000 Jahre eine zu kurze Lehrstunde.

Es geht ja um dieses Selbst, das gemeint ist mit dem Wahren Selbst, mit diesem Selbst, in dem wir gründen in Gott und in dem wir Gott finden in uns. Das ist der Kehrvers, den die Mystiker aller Religionen und aller Zeiten singen.


Das ist so wahr, wie es wahr ist, dass ein Mensch seine vollständige Identität mit sich selbst nur in dem Maße finden kann, wie er die Geheimniswirklichkeit seines Wahren Wesens anerkennt und mehr und mehr aus ihr lebt. Solange ein Mensch sich selbst mit seinem Verstand gegenüber steht, hat er immer etwas, das gegen ihn ist, nämlich sich selbst. Und damit bekommt eine Wahrheit, nach der wir uns im Programm LEBEN AUS DER MITTE in allen Dingen orientieren, eine ungeheure Bedeutung:

„Selbstfindung und Gottfindung werden auf dem Weg mehr und mehr eins.“

Mit anderen Worten sagte dies Papst Benedikt beim Weltjugendtag in Köln: „Gott ist nicht mehr bloß uns gegenüber, der ganz Andere. Er ist in uns selbst und wir in ihm.“13

Diese Frage „Wie soll ich mit dir, mein Gott, sprechen?“ beantwortet sich konsequenterweise in der Sprache des Zen-Weges: In einem wesensgemäßen Gespräch mit meinem Wahren Selbst. In ihm bin ich einerseits ganz da, und andererseits ist dieses Ich so von Gottes Wirklichkeit überlichtet, dass es sich im fließenden Licht in Gott mehr und mehr einigt. Wichtig, zu sagen: „mehr und mehr“, weil der Weg zu Gott unendlich ist und mehr und mehr Beginn. Dann wird Beten – in vorsichtiger Ausdrucksweise – mehr und mehr ein wesensgemäßes Selbstgespräch. So wende ich mich im Gebet an das Innerste meines Innern, nämlich dahin, wo Gott auf mich wartet und wo ich ihn unfehlbar sicher erreiche, denn es gibt keinen anderen Ort als den, an den hin Gott mir seine Adresse gegeben hat. Der hl. Vinzenz Pallotti sagt dies so: „Er will, dass alle Seelen, auch wenn sie noch auf dieser Erde leben, ein Reich in sich haben, nämlich Seine heilige Liebe. Darum sagte unser Herr Jesus Christus: „Das Reich Gottes ist in euch“ (Lk 17,21). Diese Liebe bewirkt, dass die Seele Gott in sich hat. Deshalb sagt auch der hl. Johannes: „Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm“ (1 Joh. 4,16)“.14

Ich wage vorsichtig diese Ausdrucksweise Gebet, ein Selbstgespräch, weil ich Beten erkenntlich machen möchte als eine Weise, in der der Mensch nicht aus sich heraus, sondern in sich hinein geht, zu sich selber kommt und seine Reichtümer in sich selber findet. „Dadurch sollen sie getröstet werden; sie sollen in Liebe zusammenhalten, um die tiefe und reiche Einsicht zu erlangen und das göttliche Geheimnis zu erkennen, das in Christus ist. In ihm sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen“ (Kol 2,2–3). Verborgen! Das Verborgene entdecken, ans Licht bringen! Wie?

Ich sehe den Zen-Weg als ein Geschenk Gottes an suchende Christen unserer Zeit, als einen Weg, dieses Verborgene ans Licht zu bringen. Zugleich sehe ich die Weise des Zen in der Offenbarung bereits vorgegeben. So höre ich Mose meisterlich diese Weise zu fordern, da er sagt: „Höre Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen. Du sollst von ihnen reden, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst. Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden. Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Stadttore schreiben. … nimm dich in acht, dass du nicht den Herrn vergisst“ (Dtn 6,4–9.12). Das ist meisterliche Anweisung für den Vollzug der Übung. Mose sagt auf diese Weise, in der er selbst mit Jahwe lebt. In diesen Worten höre ich wieder die Forderung meines verehrten Zen-Meisters Yamada Kôun Roshi: „Du musst verwirklichen, dass Jesus Christus in dir ist.“ Ja, die Worte Mose sind mir der Auftrag, die Forderung meines Meisters immer mehr zu meiner Lebensweise werden zu lassen. Der hl. Vinzenz Pallotti hat dies auf den Punkt gebracht in wohl letztmöglicher Vereinfachung: „Wir müssen Gott einatmen und Gott ausatmen.“15


REDEN UND SCHWEIGEN

Wie soll ich mit dir, mein Gott, sprechen? Gemäß der Zen-Praxis scheint die nächstliegende Antwort zu sein: im Schweigen. Aber nur Schweigen ist ebenso falsch wie nur Reden. Die rechte Antwort dürfte sein: wie Liebende. Sie unterscheiden in der Wertigkeit nicht, ihr einziger Wert ist die Liebe. In der Zen-Sprache geht es um den Ausdruck des Wahren Wesens, um seine Wahrhaftigkeit. Dies kann sein im Schweigen wie im Reden. Schweigen, wenn wesensgemäßes Verhalten Reden fordert, Reden, wenn wesensgemäßes Verhalten Schweigen fordert, ist in gleicher Weise falsch oder Verrat. Reden mit Gott ist Gebet. Man spricht von Stufen des Gebetes. Auf der höchsten Stufe vollzieht Gebet sich im Schweigen. Es geht dabei um dieses Schweigen, in dem sich die Qualität von Wort und Schweigen nicht unterscheidet. Schweigen ist zugleich Reden in dem Sinne, dass ich schweige und Gott in mir reden lasse. Das ist wesensgemäße Mitteilung im beredten Schweigen. „Auch meine Zunge soll von deiner Gerechtigkeit reden den ganzen Tag“ (Ps 71,24). Im Reden geht es immer um Etwas. Wenn ich mich aber ganz mitteilen will, geht es um mehr als um Etwas. Wenn ich mich ganz mitteilen will, muss ich mich mitteilen mit meinem ganzen Wesen. In meinem Wesen bin ich Geheimniswirklichkeit. Als Bild und Gleichnis Gottes bin ich ein Unendlichkeitswesen, das sich nicht ausdrücken kann mit etwas, das zur Sprache kommen kann. Und Gott ist nicht Etwas. Er kann sich nicht nur mitteilen in raum-zeitlicher Rede. Die Geheimniswirklichkeit Gottes und des Menschen bedarf des alles überbietenden Schweigens. Aber im Schweigen steckenzubleiben, ist die gefährlichste Zen-Krankheit. Das Schweigen ist die Fülle, die sich verströmen will im Wort. Dieses sich so verströmende Wort aber führt wiederum hin ins tiefere Schweigen – und so weiter in unendlicher Spirale.

Damit stehe ich vor der Frage, wie diese Wesensmitteilung im alles überbietenden Schweigen geschehen kann, wie dieses Schweigen das Wort nicht verdrängt, sondern überstrahlt und wie diese Überstrahlung dem Wort geradezu dient, damit es immer mehr zu Wesensmitteilungen kommen kann. Immer mehr heißt, dass Wort und Schweigen sich der Gleichwertigkeit nähern. Das Beispiel für diese Gleichwertigkeit geben die Liebenden. Das Werdegeschehen zum Menschen hin ist die fortwährende Annäherung zum Zustand eines Liebenden. Seine vollkommene Identität erlangt der Mensch in der Liebe. Und wie das passt: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm“ (1 Joh 4,16).

Auch in diesem fundamentalen Satz christlicher Offenbarung leuchtet die Wahrheit auf: „Daran erkennen wir, dass wir in ihm bleiben und er in uns bleibt: Er hat uns von seinem Geist gegeben“ (1 Joh 4,13).

Ich sehe im vorhin genannten Wort von Papst Benedikt nicht nur eine Botschaft an die Jugend, sondern gleichzeitig eine Botschaft an die Welt mit ungeheurer Konsequenz. Ihre Bedeutung lässt sich nicht ablesen an ihrer momentanen Wirkung, sondern an ihrer überzeitlichen Wahrheit und damit auch an ihrer überzeitlichen Wirkung. Sie geht aber eins zu eins über in die Grundorientierung von LEBEN AUS DER MITTE: „Selbstfindung und Gottfindung sind eins.“ Und wir können aus ihr alles ableiten in der Frage: „Wie soll ich mit dir, mein Gott, sprechen, mit dir in Beziehung kommen?“ Wir müssen einfach den Ort ausfindig machen, an dem Gott sich finden lässt, und das ist – wie wiederholt gesagt – im Menschen. Also müssen wir den Mut aufbringen, der Beziehung zu uns selbst geradezu eine göttliche Bedeutung zu geben, jedenfalls eine Bedeutung, wie wir ihr zu geben bisher nicht gewagt haben. Damit bekommt der Mensch in seiner Beziehung zu sich selbst eine neuzeitliche und providentielle Bedeutung, die wir erst erlernen müssen.

 

ES GIBT NICHTS, DAS NICHT NICHTS IST

Die Konsequenz ist, dass wir in der Sinnfindung unseres Lebens nicht nur mit der Frage beginnen, „Wie finde ich zu Gott?“, sondern auch „Wie finde ich zu mir selbst?“ Wir werden dabei feststellen, dass uns diese Weise der Gottfindung schon ins Stammbuch geschrieben ist, nämlich dass wir uns sehen sollen als Bild und Gleichnis Gottes. Was liegt dann näher, als dass wir uns an diesem Bild orientieren, das wir selber sind, um uns mehr und mehr in dieses Urbild verwandeln zu lassen? Gemäß meiner Erfahrung auf dem Zen-Weg muss ich sagen: Unsere Gottfindung kann zeitgemäß geschehen in buddhistischer Methode. Der buddhistische Weg zum Absoluten führt ganz und gar über den Menschen. In buddhistischer Sprache ist das Absolute ausgedrückt mit Buddha-Weg. Eines der berühmtesten Worte von Dôgen Zenji (1200–1253) beschreibt diesen Weg: „Den Buddha-Weg zu studieren bedeutet, sich selbst zu studieren. Sich selbst zu studieren, bedeutet, sich selbst zu vergessen.“16 Sich selbst vergessen bedeutet, das Absolute ungehindert durchstrahlen zu lassen. Für den Weg christlicher Gottfindung heißt das, sich selbst zu studieren, sich selbst auf dem Erfahrungsweg unters Mikroskop zu legen und dabei zu sehen, was es zu sehen gibt: Nichts. Nichts, das nicht Nichts ist. Welch eine Entsprechung zur naturwissenschaftlichen Forschung, die nach dem kleinsten Teilchen, dem Gottesteilchen, sucht. Dieses Teilchen ist kein Etwas, das in Verkleinerungen neben anderen Teilchen ausgemacht werden könnte. Es hat mit groß oder klein nichts zu tun, es hat auch kein Gewicht und keine Form. Es ist eine Wirkweise, die die Materie des gesamten Universums entstehen lässt. So ist auch das Wort Teilchen irreführend, als würde es unter dem Mikroskop mit genügender Vergrößerung ausgemacht werden können. Sich selbst zu studieren heißt, nach dem Ich-Teilchen zu suchen, in dem man das Ich verstehen könnte. Man kann aber kein Ich-Element finden, das das Ich verständlich machen könnte. Je mehr ich nach dem Ich forsche, desto mehr entzieht es sich einem Verständnis, desto durchsichtiger wird alles, was in den Blick kommt. Letztlich bleibt der Blick an nichts haften. Was ist, ist nicht erkennbar. Einerseits ist es nicht erkennbar, und andererseits lebt man und spricht man von diesem Ich in Selbstverständlichkeit. Sich selbst studieren heißt aber, sich nicht von scheinbar Selbstverständlichem täuschen zu lassen, sondern es zu vergessen: die Täuschungen zu vergessen. So wage ich, von einem buddhistisch-christlichen Selbstverständnis zu sprechen: Je mehr ich mir selbst auf den Grund komme, desto mehr leuchtet in diesem Grund die unendliche Wirklichkeit durch, in der in christlicher Offenbarung Gott sich erfahren lässt.


Sich selbst zu studieren heißt, in meinem eigenen Grund Gott zu erkennen. Mit anderen Worten: Man muss sich nur gründlich genug anschauen als der, der man ist, als Bild und Gleichnis Gottes, und man wird belohnt, begnadet mit der Gotteserkenntnis. Wenn ich schon wage, von einer buddhistisch-christlichen Weise die Sprache mit und über Gott zu suchen, so muss ich doch gleichzeitig sagen, dass die Möglichkeiten der Irritation so groß sind, dass ich ohne besondere Hilfe, die wir Gnade nennen, zu dieser Erkenntnis nicht gelangen könnte. Auch und besonders hierzu gilt: „denn nicht Fleisch und Blut hat dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel“ (Mt 16,17). Die Bitte um diesen Geist muss im Studieren seiner selbst die fortwährend begleitende Maßnahme sein. Und: „All meine Bemühung ist eine Geste des Bittens.“

Der Mensch ist das einzige Gebilde der Schöpfung, das fähig ist, nach sich selbst zu fragen und den Grund seines Daseins zu ergründen, sich selbst zu studieren, die Gesetzmäßigkeiten zu erlernen, nach denen er ins Dasein zur Selbstverantwortung gerufen wurde – und das damit seinen Eigenanteil an seiner Vollendung zu einem geglückten Dasein bekommt. So bin ich in gewisser Hinsicht der Mitschöpfer meiner selbst. Ich muss die Gebrauchsanweisung erlernen, nach der ich mich selbst zu meiner Vollendung bediene und damit auch die Gebote nicht in ihrer moralischen Bedeutung, sondern als Seins-Gesetze, eben als Gebrauchsanweisung zum rechten Dasein, sehe und werte.

Zen ist keine Religion, sondern ein Selbststudium zu meiner Vollendung. In diesem Studium liegt das Gelingen nicht in einer intellektuellen Begabung, sondern in der Gehorsamsbereitschaft und der Aufmerksamkeit gegenüber den Seins-Gesetzen. Genial einfach beschreibt Dôgen Zenji den Zen-Weg als eine Weise, sich selbst zu studieren, eine jedem Menschen aufgegebene Weise, sich bewusst zu machen, was mit seinem Dasein überhaupt los ist – das für jeden Menschen wichtigste Bildungsziel. Deswegen wehrt er sich aufs Heftigste gegen jeden Versuch, Zen in die Ecke einer Besonderheit zu drängen: „Jeder, der Zen für eine Schule oder Sekte des Buddhismus hält und es Zen-shu, Zen-Schule nennt, ist ein Teufel.“17 Er will Zen als nichts anderes sehen als das Menschlichste vom Menschlichen. Damit weist er in großer Abscheu alle Tendenzen zurück, Zen als eine Religion neben andere Religionen zu stellen.

Zen ist das eigentlich Religiöse in jeder Religion. Es ist das Grundwasser für die Fruchtbarkeit jeglicher mystischer Erfahrung und damit auch eine wundervolle Bestätigung der Wahrheit christlich-jüdischer Tradition mit ihrem Menschenbild als Bild und Gleichnis Gottes und somit als Unendlichkeitswesen. Es ist geradezu ein Zeugnis dieser Wahrheit: Die unendliche Wirklichkeit, die in größter Wortscheu in jüdisch-christlicher Tradition Gott genannt wird, ist in der menschlichen Natur angelegt. Besser gesagt: Die menschliche Natur ist auf Gott hin angelegt.


MENSCHLICHE NATUR ALS GOTTEBENBILDLICHKEIT

Die Anerkennung der unendlichen Wirklichkeit in der jedem Menschen eigenen Wesensnatur ist Voraussetzung für den ersten Schritt auf dem Zen-Weg. Ist das nicht ein wundervolles Zeugnis für das Ineinander von Natur und Gnade, von Schöpfung und Offenbarung? Geschieht durch Zen nicht eine Sanierung der defizitär gewerteten geschöpflichen Dinge? Die Überlichtung durch die Gnade bewirkte eine gewisse Verdunkelung der Natur. Das Ereignis der Inkarnation ist ein so ungeheuerlicher Einbruch in das Wirklichkeitsverständnis, dass in der Faszination dieses Geschehens alles gesehen wurde im Lichte der Gnade. Das Gnadenangebot verleitete zu einer Entwertung der menschlichen Natur. Der menschliche Körper ist bis heute in seiner spirituellen Bedeutung noch nicht genügend gewertet. Wir sind in unserem Körper ganz und gar eine spirituelle Potenz. Wir müssen wohl sehen, dass dieser Mangel ein Krankheitsbild der christlichen Tradition ausmacht. In dieser kalt gewordenen Naturbewertung wirkt Zen wie der wärmende und heilende Golfstrom. Das neue Bewusstsein sucht und drängt nach einem Ausgleich in der Bewertung von Natur und Gnade. Zen bringt den Ausgleich. Dieser beginnt im Studieren der menschlichen Natur. Sie wird durch die Gnade nicht gemindert, sondern überlichtet und erreicht ihren Höchstwert in der Gottebenbildlichkeit: „Die Gottebenbildlichkeit des Menschen, von Natur aus gegeben, durch Christus erhöht und wirksam gemacht, ist allen Menschentums höchste Würde“18, schreibt ein Pallotti-Biograf. Das heißt aber: Die Gnade der Inkarnation setzt die Natur voraus. Eine Minderung der Natur mindert den Landeplatz für die Gnade. Mit anderen Worten: Zen setzt die Natur ins rechte Licht und sichert ihren unüberbietbaren Wert als Fundament für Vollendung in der Gnade. Das könnte verständlich machen, warum Romano Guardini Buddha sah als Johannes den Täufer des Ostens. Und auch, warum Christus den Täufer als den Größten vom Weibe Geborenen nannte. Vielleicht wird durch die Evolution verdeutlicht, dass in unserer Zeit der Mensch sich zuerst seiner Natur bewusst werden soll, bevor er zur Wirkung der Gnade ausgreift. Also: Er muss sich selbst studieren.

So ergibt sich die Frage, was sich in diesem Studium zeigt und was sich offenbart im Gehorsam gegenüber den Dingen der Natur. Sich selbst studieren ist eine Aufforderung, die in biblischer Sprache nur anders genannt ist: „Da ging er in sich (…)“ (Lk 15,17), „Kehrt um! (…)“ (Mt 3,2). So kann man die gesamte Heilige Schrift als ein Studienprogramm seines eigenen Wahren Wesens verstehen. Man könnte sagen: Die Heilige Schrift ist Sekundärliteratur, Primärliteratur ist eines jeden Menschen eigene Wesensnatur als Bild und Gleichnis Gottes. Der hl. Vinzenz Pallotti kommt klar zu dieser Konsequenz: „Die unendliche Liebe und unendliche Barmherzigkeit drängte Gott, mich so zu erschaffen, dass ich mit Hilfe seiner Gnade und meines freien Willens mich immer mehr vervollkommnen muss – es ist das eine naturgegebene Verpflichtung. In diesem Sinne bin ich ein lebendiges Abbild der Heiligkeit und Vollkommenheit selber. Unser Herr Jesus Christus hat darum kein neues Gebot gegeben, als er zu allen sagte: „Seid also vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ (Mt 5,48)“.19

In dieser Konsequenz lehrt der hl. Ignatius: „Gott finden in allen Dingen.“ Er bedurfte keiner weiteren Konzentration auf diese Wahrheit hin und wollte deswegen auch seinen Gefährten nicht mehr als eine halbe Stunde besonderer Gebetszeit zugestehen. Ein Zitat möge genügen, um seine Sicht zu belegen: „Bezüglich des Gebets und der Meditation sehe ich, wenn … keine besondere Notwendigkeit wegen … Versuchungen besteht, dass es mehr billigt, in allen Dingen, die man tut, Gott zu finden zu suchen, als dem Gebet viel zusammenhängende Zeit zu widmen.“ Und diesen Geist wünscht Ignatius bei den Mitgliedern der Gesellschaft zu sehen: „… dass sie – wenn es möglich ist – nicht weniger Andacht bei welchem Werk auch immer der Liebe und des Gehorsams finden als im Gebet oder in der Meditation. Denn sie sollen keine Sache tun außer um der Liebe und des Dienstes für Gott unseren Herrn willen.“20

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