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Heidis Lehr- und Wanderjahre

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»So, davon weiß ich nichts«, bemerkte Herr Sesemann, »muss aber bitten, meine völlig ehrenwerten Ahnen nicht verdächtigen zu wollen. Und nun rufen Sie mir den Sebastian ins Esszimmer, ich will allein mit ihm reden.«

Herr Sesemann ging hinüber und Sebastian erschien. Es war Herrn Sesemann nicht entgangen, dass Sebastian und Fräulein Rottenmeier sich nicht eben mit Zuneigung betrachteten; so hatte er seine Gedanken.

»Komm Er her, Bursche«, winkte er dem Eintretenden entgegen, »und sag Er mir nun ganz ehrlich: Hat Er nicht etwa selbst ein wenig Gespenst gespielt, so um Fräulein Rottenmeier etwas Kurzweil zu machen, he?«

»Nein, meiner Treu, das muss der gnädige Herr nicht glauben; es ist mir selbst nicht ganz gemütlich bei der Sache«, entgegnete Sebastian mit unverkennbarer Ehrlichkeit.

»Nun, wenn es so steht, so will ich morgen Ihm und dem tapferen Johann zeigen, wie Gespenster beim Licht aussehen. Schäme Er sich, Sebastian, ein junger, kräftiger Bursch, wie Er ist, vor Gespenstern davonzulaufen! Nun geh Er unverzüglich zu meinem alten Freund, Doktor Classen: meine Empfehlung und er möchte unfehlbar heut Abend neun Uhr bei mir erscheinen; ich sei extra von Paris hergereist, um ihn zu konsultieren. Er müsse die Nacht bei mir wachen, so schlimm sei‘s; er solle sich richten! Verstanden, Sebastian?«

»Jawohl, jawohl! Der gnädige Herr kann sicher sein, dass ich‘s gut mache.« Damit entfernte sich Sebastian, und Herr Sesemann kehrte zu seinem Töchterchen zurück, um ihr alle Furcht vor einer Erscheinung zu benehmen, die er noch heute ins nötige Licht stellen wollte.

Punkt neun Uhr, als die Kinder zur Ruhe gegangen und auch Fräulein Rottenmeier sich zurückgezogen hatte, erschien der Doktor, der unter seinen grauen Haaren noch ein recht frisches Gesicht und zwei lebhaft und freundlich blickende Augen zeigte. Er sah etwas ängstlich aus, brach aber gleich nach seiner Begrüßung in ein helles Lachen aus und sagte, seinem Freunde auf die Schulter klopfend: »Nun, nun, für einen, bei dem man wachen soll, siehst du noch leidlich aus, Alter.«

»Nur Geduld, Alter«, gab Herr Sesemann zurück; »derjenige, für den du wachen musst, wird schon schlimmer aussehen, wenn wir ihn erst abgefangen haben.«

»Also doch ein Kranker im Haus und dazu einer, der eingefangen werden muss?«

»Weit schlimmer, Doktor, weit schlimmer. Ein Gespenst im Hause, bei mir spukt‘s!«

Der Doktor lachte laut auf.

»Schöne Teilnahme das, Doktor!«, fuhr Herr Sesemann fort; »schade, dass meine Freundin Rottenmeier sie nicht genießen kann. Sie ist fest überzeugt, dass ein alter Sesemann hier herumrumort und Schauertaten abbüßt.«

»Wie hat sie ihn aber nur kennen gelernt?«, fragte der Doktor noch immer sehr erheitert.

Herr Sesemann erzählte nun seinem Freunde den ganzen Vorgang und wie noch jetzt allnächtlich die Haustür geöffnet werde, nach der Angabe der sämtlichen Hausbewohner, und fügte hinzu, um für alle Fälle vorbereitet zu sein, habe er zwei gut geladene Revolver in das Wachtlokal legen lassen; denn entweder sei die Sache ein sehr unerwünschter Scherz, den sich vielleicht irgendein Bekannter der Dienerschaft mache, um die Leute des Hauses in Abwesenheit des Hausherrn zu erschrecken — dann könnte ein kleiner Schrecken, wie ein guter Schuss ins Leere, ihm nicht unheilsam sein —; oder auch es handle sich um Diebe, die auf diese Weise erst den Gedanken an Gespenster aufkommen lassen wollten, um nachher umso sicherer zu sein, dass niemand sich herauswage — in diesem Falle könnte eine gute Waffe auch nicht schaden.

Während dieser Erklärungen waren die Herren die Treppe hinuntergestiegen und traten in dasselbe Zimmer ein, wo Johann und Sebastian auch gewacht hatten. Auf dem Tische standen einige Flaschen schönen Weines, denn eine kleine Stärkung von Zeit zu Zeit konnte nicht unerwünscht sein, wenn die Nacht da zugebracht werden musste. Daneben lagen die beiden Revolver, und zwei, ein helles Licht verbreitende Armleuchter standen mitten auf dem Tisch, denn so im Halbdunkel wollte Herr Sesemann das Gespenst denn doch nicht erwarten.

Nun wurde die Tür ans Schloss gelehnt, denn zu viel Licht durfte nicht in den Korridor hinausfließen, es konnte das Gespenst verscheuchen. Jetzt setzten sich die Herren gemütlich in ihre Lehnstühle und fingen an, sich allerlei zu erzählen, nahmen auch hier und da dazwischen einen guten Schluck, und so schlug es zwölf Uhr, eh sie sich‘s versahen.

»Das Gespenst hat uns gewittert und kommt wohl heut gar nicht«, sagte der Doktor jetzt.

»Nur Geduld, es soll erst um ein Uhr kommen«, entgegnete der Freund.

Das Gespräch wurde wieder aufgenommen. Es schlug ein Uhr. Ringsum war es völlig still, auch auf den Straßen war aller Lärm verklungen. Auf einmal hob der Doktor den Finger empor.

»Pst, Sesemann, hörst du nichts?«

Sie lauschten beide. Leise, aber ganz deutlich hörten sie, wie der Balken zurückgeschoben, dann der Schlüssel zweimal im Schloss umgedreht, jetzt die Tür geöffnet wurde. Herr Sesemann fuhr mit der Hand nach seinem Revolver.

»Du fürchtest dich doch nicht?«, sagte der Doktor und stand auf.

»Behutsam ist besser«, flüsterte Herr Sesemann, erfasste mit der Linken den Armleuchter mit drei Kerzen, mit der Rechten den Revolver und folgte dem Doktor, der, gleichermaßen mit Leuchter und Schießgewehr bewaffnet, voranging. Sie traten auf den Korridor hinaus.

Durch die weit geöffnete Tür floss ein bleicher Mondschein herein und beleuchtete eine weiße Gestalt, die regungslos auf der Schwelle stand.

»Wer da?«, donnerte jetzt der Doktor heraus, dass es durch den ganzen Korridor hallte, und beide Herren traten nun mit Lichtern und Waffen an die Gestalt heran. Sie kehrte sich um und tat einen leisen Schrei. Mit bloßen Füßen im weißen Nachtkleidchen stand Heidi da, schaute mit verwirrten Blicken in die hellen Flammen und auf die Waffen und zitterte und bebte wie ein Blättlein im Winde von oben bis unten. Die Herren schauten einander in großem Erstaunen an.

»Ich glaube wahrhaftig, Sesemann, es ist deine kleine Wasserträgerin«, sagte der Doktor.

»Kind, was soll das heißen?«, fragte nun Herr Sesemann. »Was wolltest du tun? Warum bist du hier heruntergekommen?«

Schneeweiß vor Schrecken stand Heidi vor ihm und sagte fast tonlos: »Ich weiß nicht.«

Jetzt trat der Doktor vor: »Sesemann, der Fall gehört in mein Gebiet; geh, setz dich einstweilen in deinen Lehnstuhl drinnen, ich will vor allem das Kind hinbringen, wo es hingehört.«

Damit legte er seinen Revolver auf den Boden, nahm das zitternde Kind ganz väterlich bei der Hand und ging mit ihm der Treppe zu.

»Nicht fürchten, nicht fürchten«, sagte er freundlich im Hinaufsteigen, »nur ganz ruhig sein, da ist gar nichts Schlimmes dabei, nur getrost sein.«

In Heidis Zimmer eingetreten, stellte der Doktor seinen Leuchter auf den Tisch, nahm Heidi auf den Arm, legte es in sein Bett hinein und deckte es sorgfältig zu. Dann setzte er sich auf den Sessel am Bett und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr an allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind bei der Hand und sagte begütigend: »So, nun ist alles in Ordnung, nun sag mir auch noch, wo wolltest du denn hin?«

»Ich wollte gewiss nirgends hin«, versicherte Heidi; »ich bin auch gar nicht selbst hinuntergegangen, ich war nur auf einmal da.«

»So, so, und hast du etwa geträumt in der Nacht, weißt du, so, dass du deutlich etwas sahst und hörtest?«

»Ja, jede Nacht träumt es mir und immer gleich. Dann mein ich, ich sei beim Großvater, und draußen hör ich‘s in den Tannen sausen und denke: Jetzt glitzern so schön die Sterne am Himmel, und ich laufe geschwind und mache die Tür auf an der Hütte und da ist‘s so schön! Aber wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt.« Heidi fing schon an zu kämpfen und zu schlucken an dem Gewicht, das den Hals hinaufstieg.

»Hm, und tut dir denn auch nichts weh, nirgends? Nicht im Kopf oder im Rücken?«

»O nein, nur hier drückt es so wie ein großer Stein immerfort.«

»Hm, etwa so, wie wenn man etwas gegessen hat und wollte es nachher lieber wieder zurückgeben?«

»Nein, so nicht, aber so schwer, wie wenn man stark weinen sollte.«

»So, so, und weinst du denn so recht heraus?«

»O nein, das darf man nicht, Fräulein Rottenmeier hat es verboten.«

»Dann schluckst du‘s herunter zum andern, nicht wahr, so? Richtig! Nun, du bist doch recht gern in Frankfurt, nicht?«

»O ja«, war die leise Antwort; sie klang aber so, als bedeute sie eher das Gegenteil.

»Hm, und wo hast du mit deinem Großvater gelebt?«

»Immer auf der Alm.«

»So, da ist‘s doch nicht so besonders kurzweilig, eher ein wenig langweilig, nicht?«

»O nein, da ist‘s so schön, so schön!« Heidi konnte nicht weiter; die Erinnerung, die eben durchgemachte Aufregung, das lang verhaltene Weinen überwältigten die Kräfte des Kindes; gewaltsam stürzten ihm die Tränen aus den Augen und es brach in ein lautes, heftiges Schluchzen aus.

Der Doktor stand auf; er legte freundlich Heidis Kopf auf das Kissen nieder und sagte: »So, noch ein klein wenig weinen, das kann nichts schaden, und dann schlafen, ganz fröhlich einschlafen; morgen wird alles gut.« Dann verließ er das Zimmer.

Wieder unten in die Wachtstube eingetreten, ließ er sich dem harrenden Freunde gegenüber in den Lehnstuhl nieder und erklärte dem mit gespannter Erwartung Lauschenden: »Sesemann, dein kleiner Schützling ist erstens mondsüchtig; völlig unbewusst hat er dir allnächtlich als Gespenst die Haustür aufgemacht und deiner ganzen Mannschaft die Fieber des Schreckens ins Gebein gejagt. Zweitens wird das Kind vom Heimweh verzehrt, so dass es schon jetzt fast zum Geripplein abgemagert ist und es noch völlig werden würde; also schnelle Hilfe! Für das erste Übel und die in hohem Grade stattfindende Nervenaufregung gibt es nur ein Heilmittel, nämlich, dass du sofort das Kind in die heimatliche Bergluft zurückversetzest; für das zweite gibt‘s ebenfalls nur eine Medizin, nämlich ganz dieselbe. Demnach reist das Kind morgen ab, das ist mein Rezept.«

 

Herr Sesemann war aufgestanden. In größter Aufregung lief er das Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus: »Mondsüchtig! Krank! Heimweh! Abgemagert in meinem Hause! Das alles in meinem Hause! Und niemand sieht zu und weiß etwas davon! Und du, Doktor, du meinst, das Kind, das frisch und gesund in mein Haus gekommen ist, schicke ich elend und abgemagert seinem Großvater zurück? Nein, Doktor, das kannst du nicht verlangen, das tu ich nicht, das werde ich nie tun. Jetzt nimm das Kind in die Hand, mach Kuren mit ihm, mach, was du willst, aber mach es mir heil und gesund, dann will ich es heimschicken, wenn es will; aber erst hilf du!«

»Sesemann«, entgegnete der Doktor ernsthaft, »bedenke, was du tust! Dieser Zustand ist keine Krankheit, die man mit Pulvern und Pillen heilt. Das Kind hat keine zähe Natur, indessen, wenn du es jetzt gleich wieder in die kräftige Bergluft hinaufschickst, an die es gewöhnt ist, so kann es wieder völlig gesunden; wenn nicht — du willst nicht, dass das Kind dem Großvater unheilbar oder gar nicht mehr zurückkomme?«

Herr Sesemann war erschrocken stehen geblieben: »Ja, wenn du so redest, Doktor, dann ist nur ein Weg, dann muss sofort gehandelt werden.« Mit diesen Worten nahm Herr Sesemann den Arm seines Freundes und wanderte mit ihm hin und her, um die Sache noch weiter zu besprechen. Dann brach der Doktor auf, um nach Hause zu gehen, denn es war unterdessen viel Zeit vergangen, und durch die Haustür, die diesmal vom Herrn des Hauses aufgeschlossen wurde, drang schon der helle Morgenschimmer herein.

Am Sommerabend die Alm hinan

Herr Sesemann stieg in großer Erregtheit die Treppe hinauf und wanderte mit festem Schritt zum Schlafgemach der Dame Rottenmeier. Hier klopfte er so ungewöhnlich kräftig an die Tür, dass die Bewohnerin mit einem Schreckensruf aus dem Schlaf auffuhr. Sie hörte die Stimme des Hausherrn draußen: »Bitte sich zu beeilen und im Esszimmer zu erscheinen, es muss sofort eine Abreise vorbereitet werden.«

Fräulein Rottenmeier schaute auf ihre Uhr, es war halb fünf des Morgens; zu solcher Stunde war sie in ihrem Leben noch nie aufgestanden. Was konnte nur vorgefallen sein? Vor Neugierde und angstvoller Erwartung nahm sie alles verkehrt in die Hand und kam durchaus nicht vorwärts, denn was sie einmal auf den Leib gebracht hatte, suchte sie nachher rastlos im Zimmer herum.

Unterdessen ging Herr Sesemann den Korridor entlang und zog mit aller Kraft an jedem Glockenzug, der je für die verschiedenen Glieder der Dienerschaft angebracht war, so dass in jedem der betreffenden Zimmer eine Schreckensgestalt aus dem Bett sprang und verkehrt in die Kleider fuhr, denn einer wie der andere dachte sogleich, das Gespenst habe irgendwie den Hausherrn gepackt und dies sei sein Hilferuf. So kamen sie nach und nach, einer schauerlicher aussehend als der andere, herunter und stellten sich mit Erstaunen vor den Hausherrn hin, denn dieser ging frisch und munter im Esszimmer auf und ab und sah keineswegs aus, als habe ihn ein Gespenst erschreckt. Johann wurde sofort hingeschickt, Pferde und Wagen in Ordnung zu bringen und sie nachher vorzuführen. Tinette erhielt den Auftrag, sogleich Heidi aufzuwecken und es in den Stand zu stellen, eine Reise anzutreten. Sebastian erhielt den Auftrag, nach dem Hause zu eilen, wo Heidis Base im Dienst stand, und diese herbeizuholen. Fräulein Rottenmeier war unterdessen zurechtgekommen mit ihrem Anzug, und alles saß, wie es musste, nur die Haube saß verkehrt auf dem Kopf, so dass es von weitem aussah, als sitze ihr das Gesicht auf dem Rücken. Herr Sesemann schrieb den rätselhaften Anblick dem frühen Schlafbrechen zu und ging unverweilt an die Geschäftsverhandlungen. Er erklärte der Dame, sie habe ohne Zögern einen Koffer zur Stelle zu schaffen, die sämtliche Habe des Schweizerkindes hineinzupacken — so nannte Herr Sesemann gewöhnlich das Heidi, dessen Name ihm etwas ungewohnt war —, dazu noch einen guten Teil von Klaras Zeug, damit das Kind was Rechtes mitbringe; es müsse aber alles schnell und ohne langes Besinnen vor sich gehen.

Fräulein Rottenmeier blieb vor Überraschung wie in den Boden eingewurzelt stehen und starrte Herrn Sesemann an. Sie hatte erwartet, er wolle ihr im Vertrauen die Mitteilung einer schauerlichen Geistergeschichte machen, die er in der Nacht erlebt und die sie eben jetzt bei dem hellen Morgenlicht nicht ungern gehört hätte; stattdessen diese völlig prosaischen und dazu noch sehr unbequemen Aufträge. So schnell konnte sie das Unerwartete nicht bewältigen. Sprachlos stand sie immer noch da und erwartete ein Weiteres.

Aber Herr Sesemann hatte keine Erklärungen im Sinn; er ließ die Dame stehen, wo sie stand, und ging nach dem Zimmer seiner Tochter. Wie er vermutet hatte, war diese durch die ungewöhnliche Bewegung im Hause wach geworden und lauschte nach allen Seiten hin, was wohl vorgehe. Der Vater setzte sich nun an ihr Bett und erzählte ihr den ganzen Verlauf der Geistererscheinung und dass Heidi nach des Doktors Ausspruch sehr angegriffen sei und wohl nach und nach seine nächtlichen Wanderungen ausdehnen, vielleicht gar das Dach besteigen würde, was dann mit den höchsten Gefahren verbunden wäre. Er habe also beschlossen, das Kind sofort heimzuschicken, denn solche Verantwortung könne er nicht auf sich nehmen, und Klara müsse sich dareinfinden, sie sehe ja ein, dass es nicht anders sein könne.

Klara war sehr schmerzlich überrascht von der Mitteilung und wollte erst allerlei Auswege finden, aber es half nichts, der Vater blieb fest bei seinem Entschluss, versprach aber, im nächsten Jahre mit Klara nach der Schweiz zu reisen, wenn sie nun recht vernünftig sei und keinen Jammer erhebe. So ergab sich Klara in das Unvermeidliche, begehrte aber zum Ersatz, dass der Koffer für Heidi in ihr Zimmer gebracht und da gepackt werde, damit sie hineinstecken könne, was ihr Freude mache, was der Papa sehr gern bewilligte, ja er ermunterte Klara noch, dem Kinde eine schöne Aussteuer zurechtzumachen. Unterdessen war die Base Dete angelangt und stand in großer Erwartung im Vorzimmer, denn dass sie um diese ungewöhnliche Zeit einberufen worden war, musste etwas Außerordentliches bedeuten. Herr Sesemann trat zu ihr heraus und erklärte ihr, wie es mit Heidi stehe und dass er wünsche, sie möchte das Kind sofort, gleich heute noch, nach Hause bringen. Die Base sah sehr enttäuscht aus; diese Nachricht hatte sie nicht erwartet. Sie erinnerte sich auch noch recht wohl der Worte, die ihr der Öhi mit auf den Weg gegeben hatte, dass sie ihm nie mehr vor die Augen kommen solle, und so das Kind dem Alten einmal bringen und dann nehmen und dann wiederbringen, das schien ihr nicht ganz geraten zu sein. Sie besann sich also nicht lange, sondern sagte mit großer Beredsamkeit, heute wäre es ihr leider völlig unmöglich, die Reise anzutreten, und morgen könnte sie noch weniger daran denken, und die Tage darauf wäre es am allerunmöglichsten, um der darauf folgenden Geschäfte willen, und nachher könnte sie dann gar nicht mehr. Herr Sesemann verstand die Sprache und entließ die Base ohne weiteres. Nun ließ er den Sebastian vortreten und erklärte ihm, er habe sich unverzüglich zur Reise zu rüsten; heute habe er mit dem Kinde bis nach Basel zu fahren, morgen bringe er es heim. Dann könne er sogleich wieder umkehren, zu berichten habe er nichts, ein Brief an den Großvater werde diesem alles erklären.

»Nun aber noch eine Hauptsache, Sebastian«, schloss Herr Sesemann, »und dass Er mir das pünktlich besorgt! Den Gasthof in Basel, den ich Ihm hier auf meine Karte geschrieben, kenne ich. Er weist meine Karte vor, dann wird Ihm ein gutes Zimmer angewiesen werden für das Kind; für sich selbst wird Er schon sorgen. Dann geht Er erst in des Kindes Zimmer hinein und verrammelt alle Fenster so vollständig, dass nur große Gewalt sie aufzubringen vermöchte. Ist das Kind zu Bett, so geht Er und schließt von außen die Tür ab, denn das Kind wandert herum in der Nacht und könnte Gefahr laufen in dem fremden Haus, wenn es etwa hinausginge und die Haustür aufmachen wollte; versteht Er das?«

»Ah! Ah! Ah! Das war‘s? So war‘s?«, stieß Sebastian jetzt in größter Verwunderung aus, denn es war ihm eben ein großes Licht aufgegangen über die Geistererscheinung.

»Ja, so war‘s! Das war‘s! Und Er ist ein Hasenfuß, und dem Johann kann Er sagen, er sei desgleichen und alle miteinander eine lächerliche Mannschaft.« Damit ging Herr Sesemann nach seiner Stube, setzte sich hin und schrieb einen Brief an den Alm-Öhi.

Sebastian war verdutzt mitten im Zimmer stehen geblieben und wiederholte jetzt zu öfteren Malen in seinem Innern: »Hätt ich mich doch von dem Feigling von einem Johann nicht in die Wachtstube hineinreißen lassen, sondern wäre dem weißen Figürchen nachgegangen, was ich doch jetzt unzweifelhaft tun würde!«, denn jetzt beleuchtete die helle Sonne jeden Winkel der hellgrauen Stube mit voller Klarheit.

Unterdessen stand Heidi völlig ahnungslos in seinem Sonntagsröckchen und wartete ab, was geschehen sollte, denn die Tinette hatte es nur aus dem Schlafe aufgerüttelt, die Kleider aus dem Schrank genommen und das Anziehen gefördert, ohne ein Wort zu sagen. Sie sprach niemals mit dem ungebildeten Heidi, denn das war ihr zu gering.

Herr Sesemann trat mit seinem Brief ins Esszimmer ein, wo das Frühstück bereitstand, und rief: »Wo ist das Kind?«

Heidi wurde gerufen. Als es zu Herrn Sesemann herantrat, um ihm ›guten Morgen‹ zu sagen, schaute er ihm fragend ins Gesicht: »Nun, was sagst du denn dazu, Kleine?«

Heidi blickte verwundert zu ihm auf.

»Du weißt am Ende noch gar nichts«, lachte Herr Sesemann. »Nun, heut gehst du heim, jetzt gleich.«

»Heim?«, wiederholte Heidi tonlos und wurde schneeweiß, und eine kleine Weile konnte es gar keinen Atem mehr holen, so stark wurde sein Herz von dem Eindruck gepackt.

»Nun, willst du etwa nichts wissen davon?«, fragte Herr Sesemann lächelnd.

»O ja, ich will schon«, kam jetzt heraus, und nun war Heidi dunkelrot geworden.

»Gut, gut«, sagte Herr Sesemann ermunternd, indem er sich setzte und Heidi winkte, dasselbe zu tun. »Und nun tüchtig frühstücken und hernach in den Wagen und fort.«

Aber Heidi konnte keinen Bissen herunterbringen, wie es sich auch zwingen wollte aus Gehorsam; es war in einem Zustand von Aufregung, dass es gar nicht wusste, ob es wache oder träume und ob es vielleicht wieder auf einmal erwachen und im Nachthemdchen an der Haustür stehen werde.

»Sebastian soll reichlich Proviant mitnehmen«, rief Herr Sesemann Fräulein Rottenmeier zu, die eben eintrat; »das Kind kann nicht essen, begreiflicherweise. — Geh hinüber zu Klara, bis der Wagen vorfährt«, setzte er freundlich, zu Heidi gewandt, hinzu.

Das war Heidis Wunsch: Es sprang hinüber. Mitten in Klaras Zimmer war ein ungeheurer Koffer zu sehen, noch stand dessen Deckel weit offen.

»Komm, Heidi, komm«, rief ihm Klara entgegen. »Sieh, was ich dir habe einpacken lassen, komm, freut‘s dich?«

Und sie nannte ihm eine ganze Menge von Dingen, Kleider und Schürzen, Tücher und Nähgerät, »und sieh hier, Heidi«, und Klara hob triumphierend einen Korb in die Höhe. Heidi guckte hinein und sprang hoch auf vor Freude, denn drinnen lagen wohl zwölf schöne, weiße, runde Brötchen, alle für die Großmutter. Die Kinder vergaßen in ihrem Jubel ganz, dass nun der Augenblick komme, da sie sich trennen mussten, und als mit einem Mal der Ruf erschallte: »Der Wagen ist bereit!« — da war keine Zeit mehr zum Traurigwerden. Heidi lief in sein Zimmer, da musste noch ein schönes Buch von der Großmama liegen, niemand konnte es eingepackt haben, denn es lag unter dem Kopfkissen, weil Heidi Tag und Nacht sich nicht davon trennen konnte. Das wurde in den Korb auf die Brötchen gelegt. Dann machte es seinen Schrank auf; noch suchte es nach einem Gute, das man vielleicht auch nicht eingepackt hatte. Richtig — auch das alte rote Tuch lag noch da, Fräulein Rottenmeier hatte es zu gering erachtet, um mit eingepackt zu werden. Heidi wickelte es um einen anderen Gegenstand und legte es zuoberst auf den Korb, so dass das rote Paket sehr sichtbar zur Erscheinung kam. Dann setzte es sein schönes Hütchen auf und verließ sein Zimmer.

Die beiden Kinder mussten sich schnell Lebewohl sagen, denn Herr Sesemann stand schon da, um Heidi nach dem Wagen zu bringen. Fräulein Rottenmeier stand oben an der Treppe, um hier Heidi zu verabschieden. Als sie das seltsame rote Bündelchen erblickte, nahm sie es schnell aus dem Korb heraus und warf es auf den Boden.

 

»Nein, Adelheid«, sagte sie tadelnd, »so kannst du nicht reisen von diesem Hause aus; solches Zeug brauchst du überhaupt nicht mitzuschleppen. Nun lebe wohl.«

Auf dieses Verbot hin durfte Heidi sein Bündelchen nicht wieder aufnehmen, aber es schaute mit einem flehentlichen Blick zu dem Hausherrn auf, so, als wollte man ihm seinen größten Schatz nehmen.

»Nein, nein«, sagte Herr Sesemann in sehr bestimmtem Tone, »das Kind soll mit heimtragen, was ihm Freude macht, und sollte es auch junge Katzen oder Schildkröten mit fortschleppen, so wollen wir uns darüber nicht aufregen, Fräulein Rottenmeier.«

Heidi hob eilig sein Bündelchen wieder vom Boden auf, und Dank und Freude leuchteten ihm aus den Augen. Unten am Wagen reichte Herr Sesemann dem Kinde die Hand und sagte ihm mit freundlichen Worten, sie würden seiner gedenken, er und seine Tochter Klara; er wünschte ihm alles Gute auf den Weg, und Heidi dankte recht schön für alle Guttaten, die ihm zuteil geworden waren, und zum Schluss sagte es: »Und den Herrn Doktor lasse ich tausendmal grüßen und ihm auch vielmals danken.« Denn es hatte sich wohl gemerkt, wie er gestern Abend gesagt hatte: »Und morgen wird alles gut.« Nun war es so gekommen, und Heidi dachte, er habe dazu geholfen.

Jetzt wurde das Kind in den Wagen gehoben und der Korb und die Provianttasche und der Sebastian kamen nach. Herr Sesemann rief noch einmal freundlich: »Glückliche Reise!«, und der Wagen rollte davon.

Bald nachher saß Heidi in der Eisenbahn und hielt unbeweglich seinen Korb auf dem Schoße fest, denn es wollte ihn nicht einen Augenblick aus den Händen lassen, seine kostbaren Brötchen für die Großmutter waren ja darin, die musste es sorgfältig hüten und von Zeit zu Zeit einmal wieder ansehen und sich freuen darüber. Heidi saß mäuschenstille während mehrerer Stunden, denn erst jetzt kam es recht zum Bewusstsein, dass es auf dem Wege sei heim zum Großvater, auf die Alm, zur Großmutter, zum Geißenpeter, und nun kam ihm alles vor Augen, eins nach dem anderen, was es wieder sehen werde und wie alles aussehen werde daheim, und dabei stiegen ihm wieder neue Gedanken auf, und auf einmal sagte es ängstlich: »Sebastian, ist auch sicher die Großmutter auf der Alm nicht gestorben?«

»Nein, nein«, beruhigte dieser, »wollen‘s nicht hoffen, wird schon noch am Leben sein.«

Dann fiel Heidi wieder in sein Sinnen zurück; nur hier und da guckte es einmal in seinen Korb hinein, denn alle die Brötchen der Großmutter auf den Tisch legen war sein Hauptgedanke. Nach längerer Zeit sagte es wieder: »Sebastian, wenn man nur auch ganz sicher wissen könnte, dass die Großmutter noch am Leben ist.«

»Jawohl! Jawohl!«, entgegnete der Begleiter halb schlafend; »Wird schon noch leben, wüsste auch gar nicht, warum nicht.«

Nach einiger Zeit drückte der Schlaf auch Heidis Augen zu, und nach der vergangenen unruhigen Nacht und dem frühen Aufstehen war es so schlafbedürftig, dass es erst wieder erwachte, als Sebastian es tüchtig am Arm schüttelte und ihm zurief: »Erwachen! Erwachen! Gleich aussteigen, in Basel angekommen!«

Am folgenden Morgen ging‘s weiter, viele Stunden lang. Heidi saß wieder mit seinem Korb auf dem Schoß, den es um keinen Preis dem Sebastian übergeben wollte; aber heute sagte es gar nichts mehr, denn nun wurde mit jeder Stunde die Erwartung gespannter. Dann auf einmal, als Heidi gar nicht daran dachte, ertönte laut der Ruf: »Maienfeld!« Es sprang von seinem Sitz auf, und dasselbe tat Sebastian, der auch überrascht worden war. Jetzt standen sie draußen, der Koffer mit ihnen, und der Bahnzug pfiff weiter ins Tal hinein. Sebastian sah ihm wehmütig nach, denn er wäre viel lieber so sicher und ohne Mühe weitergereist, als dass er nun eine Fußpartie unternehmen sollte, die dazu noch mit einer Bergbesteigung enden musste, die sehr beschwerlich und dazu gefahrvoll sein konnte in diesem Lande, wo doch alles noch halb wild war, wie Sebastian annahm. Er schaute daher sehr vorsichtig um sich, wen er etwa beraten könnte über den sichersten Weg nach dem ›Dörfli‹. Unweit des kleinen Stationsgebäudes stand ein kleiner Leiterwagen mit einem mageren Rösslein davor; auf diesen wurden von einem breitschultrigen Manne ein paar große Säcke aufgeladen, die mit der Bahn hergebracht worden waren. Sebastian trat zu ihm heran und brachte seine Frage nach dem sichersten Weg zum Dörfli vor.

»Hier sind alle Wege sicher«, war die kurze Antwort.

Jetzt fragte Sebastian nach dem besten Wege, auf dem man gehen könne, ohne in die Abgründe zu stürzen, und auch wie man einen Koffer nach dem betreffenden Dörfli befördern könnte. Der Mann schaute nach dem Koffer hin und maß ihn ein wenig mit den Augen; dann erklärte er, wenn das Ding nicht zu schwer sei, so wolle er es auf seinen Wagen nehmen, da er selbst nach dem Dörfli fahre, und so gab noch ein Wort das andere, und endlich kamen die beiden überein, der Mann solle Kind und Koffer mit auf seinen Wagen nehmen, und nachher vom Dörfli aus könne das Kind am Abend mit irgendjemand auf die Alm geschickt werden.

»Ich kann allein gehen, ich weiß schon den Weg vom Dörfli auf die Alm«, sagte hier Heidi, das mit Aufmerksamkeit der Verhandlung zugehört hatte. Dem Sebastian fiel eine schwere Last vom Herzen, als er sich so auf einmal seiner Aussicht auf das Bergklettern entledigt sah. Er winkte nun Heidi geheimnisvoll auf die Seite und überreichte ihm hier eine schwere Rolle und einen Brief an den Großvater und erklärte ihm, die Rolle sei ein Geschenk von Herrn Sesemann, die müsse aber zuunterst in den Korb gesteckt werden, noch unter die Brötchen, und darauf müsse genau Acht gegeben werden, dass sie nicht verloren gehe, denn darüber würde Herr Sesemann ganz fürchterlich böse und sein Leben lang nie mehr gut werden; das sollte das Mamsellchen nur ja bedenken.

»Ich verliere sie schon nicht«, sagte Heidi zuversichtlich und steckte die Rolle samt dem Brief zuallerunterst in den Korb hinein. Nun wurde der Koffer aufgeladen, und nachher hob Sebastian Heidi samt seinem Korb auf den hohen Sitz empor, reichte ihm seine Hand hinauf zum Abschied und ermahnte es noch einmal mit allerlei Zeichen, auf den Inhalt des Korbes ein Auge zu haben; denn der Führer war noch in der Nähe, und Sebastian war vorsichtig, besonders jetzt, da er wusste, er hätte eigentlich selbst das Kind an Ort und Stelle bringen sollen. Der Führer schwang sich jetzt neben Heidi auf den Sitz hinauf, und der Wagen rollte den Bergen zu, während Sebastian, froh über seine Befreiung von der gefürchteten Bergreise, sich am Stationshäuschen niedersetzte, um den zurückgehenden Bahnzug abzuwarten.

Der Mann auf dem Wagen war der Bäcker vom Dörfli, welcher seine Mehlsäcke nach Hause fuhr. Er hatte Heidi nie gesehen, aber wie jedermann im Dörfli wusste er von dem Kinde, das man dem Alm-Öhi gebracht hatte; auch hatte er Heidis Eltern gekannt und sich gleich vorgestellt, er werde es mit dem viel besprochenen Kinde hier zu tun haben. Es wunderte ihn nun ein wenig, warum das Kind schon wieder heimkommen und während der Fahrt fing er nun mit Heidi ein Gespräch an: »Du wirst das Kind sein, das oben beim Alm-Öhi war, beim Großvater?«

»Ja.«

»So ist es dir schlecht gegangen, dass du schon wieder von so weit her heimkommst?«

»Nein, das ist es mir nicht; kein Mensch kann es so gut haben, wie man es in Frankfurt hat.«

»Warum läufst du denn heim?«

»Nur weil es mir der Herr Sesemann erlaubt hat, sonst wär ich nicht heimgelaufen.«