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Heidis Lehr- und Wanderjahre

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Heidi nickte ein wenig mit dem Kopf, aber so freudlos, dass es dem Sebastian recht zu Herzen ging und er ganz teilnehmend dem Heidi nachschaute, wie es nach seinem Zimmer hin schlich.

Am Abendessen heute sagte Fräulein Rottenmeier kein Wort, aber fortwährend warf sie sonderbar wachsame Blicke zu Heidi hinüber, so als erwartete sie, es könnte plötzlich etwas Unerhörtes unternehmen; aber Heidi saß mäuschenstill am Tisch und rührte sich nicht, es aß nicht und trank nicht; nur sein Brötchen hatte es schnell in die Tasche gesteckt.

Am folgenden Morgen, als der Herr Kandidat die Treppe heraufkam, winkte ihn Fräulein Rottenmeier geheimnisvoll ins Esszimmer herein, und hier teilte sie ihm in großer Aufregung ihre Besorgnis mit, die Luftveränderung, die neue Lebensart und die ungewohnten Eindrücke hätten das Kind um den Verstand gebracht, und sie erzählte ihm von Heidis Fluchtversuch und wiederholte ihm von seinen sonderbaren Reden, was sie noch wusste. Aber der Herr Kandidat besänftigte und beruhigte Fräulein Rottenmeier, indem er sie versicherte, dass er die Wahrnehmung gemacht habe, die Adelheid sei zwar einerseits allerdings eher exzentrisch, aber anderseits doch wieder bei richtigem Verstand, so dass sich nach und nach bei einer allseitig erwogenen Behandlung das nötige Gleichgewicht einstellen könne, was er im Auge habe; er finde den Umstand wichtiger, dass er durchaus nicht über das Abc hinauskomme mit ihr, indem sie die Buchstaben nicht zu fassen imstande sei.

Fräulein Rottenmeier fühlte sich beruhigter und entließ den Herrn Kandidaten zu seiner Arbeit. Am späteren Nachmittag stieg ihr die Erinnerung an Heidis Aufzug bei seiner vorgehabten Abreise auf, und sie beschloss, die Gewandung des Kindes durch verschiedene Kleidungsstücke der Klara in den nötigen Stand zu setzen, bevor Herr Sesemann erscheinen würde. Sie teilte ihre Gedanken darüber an Klara mit, und da diese mit allem einverstanden war und dem Heidi eine Menge Kleider und Tücher und Hüte schenken wollte, verfügte sich die Dame in Heidis Zimmer, um seinen Kleiderschrank zu besehen und zu untersuchen, was da von dem Vorhandenen bleiben und was entfernt werden solle. Aber in wenig Minuten kam sie wieder zurück mit Gebärden des Abscheus. »Was muss ich entdecken, Adelheid!«, rief sie aus. »Es ist nie dagewesen! In deinem Kleiderschrank, einem Schrank für Kleider, Adelheid, im Fuß dieses Schrankes, was finde ich? Einen Haufen kleiner Brote! Brot, sage ich, Klara, im Kleiderschrank! Und einen solchen Haufen aufspeichern!« — »Tinette«, rief sie jetzt ins Esszimmer hinaus, »schaffen Sie mir das alte Brot fort aus dem Schrank der Adelheid und den zerdrückten Strohhut auf dem Tisch!«

»Nein! Nein!«, schrie Heidi auf; »ich muss den Hut haben, und die Brötchen sind für die Großmutter«, und Heidi wollte der Tinette nachstürzen, aber es wurde von Fräulein Rottenmeier festgehalten.

»Du bleibst hier und der Kram wird hingebracht, wo er hingehört«, sagte sie bestimmt und hielt das Kind zurück. Aber nun warf sich Heidi an Klaras Sessel nieder und fing ganz verzweiflungsvoll zu weinen an, immer lauter und schmerzlicher, und schluchzte ein Mal ums andere in seinem Jammer auf: »Nun hat die Großmutter keine Brötchen mehr. Sie waren für die Großmutter, nun sind sie alle fort und die Großmutter bekommt keine!«, und Heidi weinte auf, als wollte ihm das Herz zerspringen. Fräulein Rottenmeier lief hinaus. Klara wurde es angst und bange bei dem Jammer. »Heidi, Heidi, weine nur nicht so«, sagte sie bittend, »hör mich nur! Jammere nur nicht so, sieh, ich verspreche dir, ich gebe dir gerade so viel Brötchen für die Großmutter, oder noch mehr, wenn du einmal heimgehst, und dann sind diese frisch und weich, und die deinen wären ja ganz hart geworden und waren es schon. Komm, Heidi, weine nur nicht mehr so!«

Heidi konnte noch lange nicht aus seinem Schluchzen herauskommen; aber es verstand Klaras Trost und hielt sich daran, sonst hätte es gar nicht mehr zu weinen aufhören können. Es musste auch noch mehrere Male seiner Hoffnung gewiss werden und Klara, durch die letzten Anfälle von Schluchzen unterbrochen, fragen: »Gibst du mir so viele, viele, wie ich hatte, für die Großmutter?«

Und Klara versicherte immer wieder: »Gewiss, ganz gewiss, noch mehr, sei nur wieder froh!«

Noch zum Abendtisch kam Heidi mit den rot verweinten Augen, und als es sein Brötchen erblickte, musste es gleich noch einmal aufschluchzen. Aber es bezwang sich jetzt mit Gewalt, denn es verstand, dass es sich am Tisch ruhig verhalten musste. Sebastian machte heute jedes Mal die merkwürdigsten Gebärden, wenn er in Heidis Nähe kam; er deutete bald auf seinen, bald auf Heidis Kopf, dann nickte er wieder und kniff die Augen zu, so als wollte er sagen: »Nur getrost! Ich hab‘s schon gemerkt und besorgt.«

Als Heidi später in sein Zimmer kam und in sein Bett steigen wollte, lag sein zerdrücktes Strohhütchen unter der Decke versteckt. Mit Entzücken zog es den alten Hut hervor, zerdrückte ihn vor lauter Freude noch ein wenig mehr und versteckte ihn dann, in ein Taschentüchlein eingewickelt, in die allerhinterste Ecke seines Schrankes. Das Hütchen hatte der Sebastian unter die Decke gesteckt; er war zu gleicher Zeit mit Tinette im Esszimmer gewesen, als diese gerufen wurde, und hatte Heidis Jammerruf vernommen. Dann war er Tinette nachgegangen, und als sie aus Heidis Zimmer heraustrat mit ihrer Brotlast und dem Hütchen oben darauf, hatte er schnell dieses weggenommen und ihr zugerufen: »Das will ich schon forttun.« Darauf hatte er es in aller Freude für Heidi gerettet, was er ihm beim Abendessen zur Erheiterung andeuten wollte.

Der Hausherr hört allerlei in seinem Hause, das er noch nicht gehört hat

Einige Tage nach diesen Ereignissen war im Hause Sesemann große Lebendigkeit und ein eifriges Treppauf- und Treppabrennen, denn eben war der Hausherr von seiner Reise zurückgekehrt, und aus dem bepackten Wagen wurde von Sebastian und Tinette eine Last nach der anderen hinaufgetragen, denn Herr Sesemann brachte immer eine Menge schöner Sachen mit nach Hause.

Er selbst war vor allem in das Zimmer seiner Tochter eingetreten, um sie zu begrüßen. Heidi saß bei ihr, denn es war die Zeit des späten Nachmittags, da die beiden immer zusammen waren. Klara begrüßte ihren Vater mit großer Zärtlichkeit, denn sie liebte ihn sehr, und der gute Papa grüßte sein Klärchen nicht weniger liebevoll. Dann streckte er seine Hand dem Heidi entgegen, das sich leise in eine Ecke zurückgezogen hatte, und sagte freundlich: »Und das ist unsre kleine Schweizerin; komm her, gib mir mal eine Hand! So ist‘s recht! Nun sag mir mal, seid ihr auch gute Freunde zusammen, Klara und du? Nicht zanken und böse werden, und dann weinen und dann versöhnen, und dann wieder von vorn anfangen, nun?«

»Nein, Klara ist immer gut mit mir«, entgegnete Heidi.

»Und Heidi hat auch noch gar nie versucht zu zanken, Papa«, warf Klara schnell ein.

»So ist‘s gut, das hör ich gern«, sagte der Papa, indem er aufstand. »Nun musst du aber erlauben, Klärchen, dass ich etwas genieße; heute habe ich noch nichts bekommen. Nachher komm ich wieder zu dir und du sollst sehen, was ich mitgebracht habe!«

Herr Sesemann trat ins Esszimmer ein, wo Fräulein Rottenmeier den Tisch überschaute, der für sein Mittagsmahl gerüstet war. Nachdem Herr Sesemann sich niedergelassen und die Dame ihm gegenüber Platz genommen hatte und aussah wie ein lebendiges Missgeschick, wandte sich der Hausherr zu ihr: »Aber Fräulein Rottenmeier, was muss ich denken? Sie haben zu meinem Empfang ein wahrhaft erschreckendes Gesicht aufgesetzt. Wo fehlt es denn? Klärchen ist ganz munter.«

»Herr Sesemann«, begann die Dame mit gewichtigem Ernst, »Klara ist mit betroffen, wir sind fürchterlich getäuscht worden.«

»Wieso?«, fragte Herr Sesemann und trank in aller Ruhe einen Schluck Wein.

»Wir hatten ja beschlossen, wie Sie wissen, Herr Sesemann, eine Gespielin für Klara ins Haus zu nehmen, und da ich ja weiß, wie sehr Sie darauf halten, dass nur Gutes und Edles Ihre Tochter umgebe, hatte ich meinen Sinn auf ein junges Schweizermädchen gerichtet, indem ich hoffte, eines jener Wesen bei uns eintreten zu sehen, von denen ich schon so oft gelesen, welche, der reinen Bergluft entsprossen, sozusagen, ohne die Erde zu berühren, durch das Leben gehen.«

»Ich glaube zwar«, bemerkte hier Herr Sesemann, »dass auch die Schweizerkinder den Erdboden berühren, wenn sie vorwärts kommen wollen; sonst wären ihnen wohl Flügel gewachsen statt der Füße.«

»Ach, Herr Sesemann, Sie verstehen mich wohl«, fuhr das Fräulein fort; »Ich meinte eine jener so bekannten, in den hohen, reinen Bergregionen lebenden Gestalten, die nur wie ein idealer Hauch an uns vorüberziehen.«

»Was sollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch anfangen, Fräulein Rottenmeier?«

»Nein, Herr Sesemann, ich scherze nicht, die Sache ist mir ernster, als Sie denken; ich bin schrecklich, wirklich ganz schrecklich getäuscht worden.«

»Aber worin liegt denn das Schreckliche? So gar erschrecklich sieht mir das Kind nicht aus«, bemerkte ruhig Herr Sesemann.

»Sie sollten nur eines wissen, Herr Sesemann, nur das eine, mit was für Menschen und Tieren dieses Wesen Ihr Haus in Ihrer Abwesenheit bevölkert hat; davon könnte der Herr Kandidat erzählen.«

»Mit Tieren? Wie muss ich das verstehen, Fräulein Rottenmeier?«

»Es ist eben nicht zu verstehen; die ganze Aufführung dieses Wesens wäre nicht zu verstehen, wenn nicht aus dem einen Punkte, dass es Anfälle von völliger Verstandesgestörtheit hat.«

Bis hierher hatte Herr Sesemann die Sache nicht für wichtig gehalten; aber Gestörtheit des Verstandes? Eine solche konnte ja für seine Tochter die bedenklichsten Folgen haben. Herr Sesemann schaute Fräulein Rottenmeier sehr genau an, so, als wollte er sich erst versichern, ob nicht etwa bei ihr eine derartige Störung zu bemerken sei. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgetan und der Herr Kandidat angemeldet.

 

»Ah, da kommt unser Herr Kandidat, der wird uns Aufschluss geben!«, rief ihm Herr Sesemann entgegen. »Kommen Sie, kommen Sie, setzen Sie sich zu mir!« Herr Sesemann streckte dem Eintretenden die Hand entgegen. »Der Herr Kandidat trinkt eine Tasse schwarzen Kaffee mit mir, Fräulein Rottenmeier! Setzen Sie sich, setzen Sie sich — keine Komplimente! Und nun sagen Sie mir, Herr Kandidat, was ist mit dem Kinde, das als Gespielin meiner Tochter ins Haus gekommen ist und das Sie unterrichten. Was hat es für eine Bewandtnis mit den Tieren, die es ins Haus gebracht, und wie steht es mit seinem Verstand?«

Der Herr Kandidat musste erst seine Freude über Herrn Sesemanns glückliche Rückkehr aussprechen und ihn willkommen heißen, weswegen er ja gekommen war; aber Herr Sesemann drängte ihn, dass er ihm Aufschluss gebe über die fraglichen Punkte. So begann denn der Herr Kandidat: »Wenn ich mich über das Wesen dieses jungen Mädchens aussprechen soll, Herr Sesemann, so möchte ich vor allem darauf aufmerksam machen, dass, wenn auch auf der einen Seite sich ein Mangel der Entwicklung, welcher durch eine mehr oder weniger vernachlässigte Erziehung, oder besser gesagt, etwas verspäteten Unterricht verursacht und durch die mehr oder weniger, jedoch durchaus nicht in jeder Beziehung zu verurteilende, im Gegenteil ihre guten Seiten unstreitig dartuende Abgeschiedenheit eines längeren Alpenaufenthalts, welcher, wenn er nicht eine gewisse Dauer überschreitet, ja ohne Zweifel seine gute Seite —«

»Mein lieber Herr Kandidat«, unterbrach hier Herr Sesemann, »Sie geben sich wirklich zu viel Mühe; sagen Sie mir, hat auch Ihnen das Kind einen Schrecken beigebracht durch eingeschleppte Tiere, und was halten Sie überhaupt von diesem Umgang für mein Töchterchen?«

»Ich möchte dem jungen Mädchen in keiner Art zu nahe treten«, begann der Herr Kandidat wieder, »denn wenn es auch auf der einen Seite in einer Art von gesellschaftlicher Unerfahrenheit, welche mit dem mehr oder weniger unkultivierten Leben, in welchem das junge Mädchen bis zu dem Augenblick seiner Versetzung nach Frankfurt sich bewegte, welche Versetzung allerdings in die Entwicklung dieses, ich möchte sagen noch völlig, wenigstens teilweise unentwickelten, aber anderseits mit nicht zu verachtenden Anlagen begabten und wenn allseitig umsichtig geleitet —«

»Entschuldigen Sie, Herr Kandidat, bitte, lassen Sie sich nicht stören, ich werde — ich muss schnell einmal nach meiner Tochter sehen.« Damit lief Herr Sesemann zur Tür hinaus und kam nicht wieder. Drüben im Studierzimmer setzte er sich zu seinem Töchterchen hin; Heidi war aufgestanden. Herr Sesemann wandte sich nach dem Kinde um: »Hör mal, Kleine, hol mir doch schnell — wart einmal — hol mir mal« — (Herr Sesemann wusste nicht recht, was er bedurfte, Heidi sollte aber ein wenig ausgeschickt werden) — »hol mir doch mal ein Glas Wasser.«

»Frisches?«, fragte Heidi.

»Jawohl! Jawohl! Recht frisches!«, gab Herr Sesemann zurück. Heidi verschwand.

»Nun, mein liebes Klärchen«, sagte der Papa, indem er ganz nah an sein Töchterchen heranrückte und dessen Hand in die seinige legte, »sag du mir klar und fasslich: Was für Tiere hat diese deine Gespielin ins Haus gebracht und warum muss Fräulein Rottenmeier denken, sie sei zeitweise nicht ganz recht im Kopf; kannst du mir das sagen?«

Das konnte Klara, denn die erschrockene Dame hatte auch ihr von Heidis sich verwirrenden Reden gesprochen, die aber für Klara alle einen Sinn hatten. Sie erzählte erst dem Vater die Geschichten von der Schildkröte und den jungen Katzen und erklärte ihm dann Heidis Reden, welche die Dame so erschreckt hatten. Jetzt lachte Herr Sesemann herzlich. »So willst du nicht, dass ich das Kind nach Haus schicke, Klärchen, du bist seiner nicht müde?«, fragte der Vater.

»Nein, nein, Papa, tu nur das nicht!«, rief Klara abwehrend aus. »Seit Heidi da ist, begegnet immer etwas, jeden Tag, und es ist so kurzweilig, ganz anders als vorher, da begegnete nie etwas, und Heidi erzählt mir auch so viel.«

»Schon gut, schon gut, Klärchen, da kommt ja auch deine Freundin schon wieder. Na, schönes, frisches Wasser geholt?«, fragte Herr Sesemann, da ihm Heidi nun ein Glas Wasser hinstreckte.

»Ja, frisch vom Brunnen«, antwortete Heidi.

»Du bist doch nicht selbst zum Brunnen gelaufen, Heidi?«, sagte Klara.

»Doch gewiss, es ist ganz frisch, aber ich musste weit gehen, denn am ersten Brunnen waren so viele Leute. Da ging ich die Straße ganz hinab, aber beim zweiten waren wieder so viele Leute; da ging ich in die andere Straße hinein und dort nahm ich Wasser, und der Herr mit den weißen Haaren lässt Herrn Sesemann freundlich grüßen.«

»Na, die Expedition ist gut«, lachte Herr Sesemann, »und wer ist denn der Herr?«

»Er kam beim Brunnen vorbei und dann stand er still und sagte: ›Weil du doch ein Glas hast, so gib mir auch einmal zu trinken; wem bringst du dein Glas Wasser?‹ Und ich sagte: ›Herrn Sesemann.‹ Da lachte er sehr stark, und dann sagte er den Gruß und auch noch, Herr Sesemann solle sich‘s schmecken lassen.«

»So, und wer lässt mir denn wohl den guten Wunsch sagen? Wie sah der Herr denn weiter aus?«, fragte Herr Sesemann.

»Er lacht freundlich und hat eine dicke goldene Kette und ein goldenes Ding hängt daran mit einem großen roten Stein und auf seinem Stock ist ein Rosskopf.«

»Das ist der Herr Doktor« — »Das ist mein alter Doktor«, sagten Klara und ihr Vater wie aus einem Munde, und Herr Sesemann lachte noch ein wenig in sich hinein im Gedanken an seinen Freund und dessen Betrachtungen über diese neue Weise, seinen Wasserbedarf sich zuführen zu lassen.

Noch an demselben Abend erklärte Herr Sesemann, als er allein mit Fräulein Rottenmeier im Esszimmer saß, um allerlei häusliche Angelegenheiten mit ihr zu besprechen, die Gespielin seiner Tochter werde im Hause bleiben; er finde, das Kind sei in einem normalen Zustand, und seine Gesellschaft sei seiner Tochter sehr lieb und angenehmer als jede andere. »Ich wünsche daher«, setzte Herr Sesemann sehr bestimmt hinzu, »dass dieses Kind jederzeit durchaus freundlich behandelt und seine Eigentümlichkeiten nicht als Vergehen betrachtet werden. Sollten Sie übrigens mit dem Kinde nicht allein fertig werden, Fräulein Rottenmeier, so ist ja eine gute Hilfe für Sie in Aussicht, da in nächster Zeit meine Mutter zu ihrem längeren Aufenthalt in mein Haus kommt, und meine Mutter wird mit jedem Menschen fertig, wie er sich auch anstelle, das wissen Sie ja wohl, Fräulein Rottenmeier?«

»Jawohl, das weiß ich, Herr Sesemann«, entgegnete die Dame, aber nicht mit dem Ausdruck der Erleichterung im Hinblick auf die angezeigte Hilfe. —

Herr Sesemann hatte diesmal nur eine kurze Zeit Ruhe zu Hause, schon nach vierzehn Tagen riefen ihn seine Geschäfte wieder nach Paris, und er tröstete sein Töchterchen, das mit der nahen Abreise nicht einverstanden war, mit der Aussicht auf die baldige Ankunft der Großmama, die schon nach einigen Tagen erwartet werden konnte.

Kaum war auch Herr Sesemann abgereist, als schon der Brief anlangte, der die Abreise der Frau Sesemann aus Holstein, wo sie auf einem alten Gute wohnte, anzeigte und die bestimmte Zeit ihrer Ankunft auf den folgenden Tag meldete, damit der Wagen nach dem Bahnhof geschickt würde, um sie abzuholen.

Klara war voller Freude über die Nachricht und erzählte noch an demselben Abend dem Heidi so viel und so lange von der Großmama, dass Heidi auch anfing, von der ›Großmama‹ zu reden, worauf Fräulein Rottenmeier Heidi mit Missbilligung anblickte, was aber das Kind auf nichts Besonderes bezog, denn es fühlte sich unter fortdauernder Missbilligung der Dame. Als es sich dann später entfernte, um in sein Schlafzimmer zu gehen, berief Fräulein Rottenmeier es erst in das ihrige herein und erklärte ihm hier, es habe niemals den Namen ›Großmama‹ anzuwenden, sondern wenn Frau Sesemann nun da sei, habe es sie stets ›gnädige Frau‹ anzureden. »Verstehst du das?«, fragte die Dame, als Heidi sie etwas zweifelhaft ansah; sie gab ihm aber einen so abschließenden Blick zurück, dass Heidi sich keine Erklärung mehr erbat, obschon es den Titel nicht verstanden hatte.

Eine Großmama

Am folgenden Abend waren große Erwartungen und lebhafte Vorbereitungen im Hause Sesemann sichtbar, man konnte deutlich bemerken, dass die erwartete Dame ein bedeutendes Wort im Hause mitzusprechen hatte und dass jedermann großen Respekt vor ihr empfand. Tinette hatte ein ganz neues, weißes Deckelchen auf den Kopf gesetzt, und Sebastian raffte eine Menge von Schemeln zusammen und stellte sie an alle passenden Stellen hin, damit die Dame gleich einen Schemel unter den Füßen finde, wohin sie sich auch setzen möge. Fräulein Rottenmeier ging zur Musterung der Dinge sehr aufrecht durch die Zimmer, so wie um anzudeuten, dass, wenn auch eine zweite Herrschermacht herannahe, die ihrige dennoch nicht am Erlöschen sei.

Jetzt rollte der Wagen vor das Haus, und Sebastian und Tinette stürzten die Treppe hinunter; langsam und würdevoll folgte Fräulein Rottenmeier nach, denn sie wusste, dass auch sie zum Empfang der Frau Sesemann zu erscheinen hatte. Heidi war beordert worden, sich in sein Zimmer zurückzuziehen und da zu warten, bis es gerufen würde, denn die Großmutter würde zuerst bei Klara eintreten und diese wohl allein sehen wollen. Heidi setzte sich in einen Winkel und repetierte seine Anrede. Es währte gar nicht lange, so steckte die Tinette den Kopf ein klein wenig unter Heidis Zimmertür und sagte kurz angebunden wie immer: »Hinübergehen ins Studierzimmer!«

Heidi hatte Fräulein Rottenmeier nicht fragen dürfen, wie es mit der Anrede sei, aber es dachte, die Dame habe sich nur versprochen, denn es hatte bis jetzt immer erst den Titel nennen gehört und nachher den Namen; so hatte es sich nun die Sache zurechtgelegt. Wie es die Tür zum Studierzimmer aufmachte, rief ihm die Großmutter mit freundlicher Stimme entgegen: »Ah, da kommt ja das Kind! Komm mal her zu mir und lass dich recht ansehen.«

Heidi trat heran, und mit seiner klaren Stimme sagte es sehr deutlich: »Guten Tag, Frau Gnädige.«

»Warum nicht gar!«, lachte die Großmama. »Sagt man so bei euch? Hast du das daheim auf der Alp gehört?«

»Nein, bei uns heißt niemand so«, erklärte Heidi ernsthaft.

»So, bei uns auch nicht«, lachte die Großmama wieder und klopfte Heidi freundlich auf die Wange. »Das ist nichts! In der Kinderstube bin ich die Großmama; so sollst du mich nennen, das kannst du wohl behalten, wie?«

»Ja, das kann ich gut«, versicherte Heidi, »vorher hab ich schon immer so gesagt.«

»So, so, verstehe schon!«, sagte die Großmama und nickte ganz lustig mit dem Kopfe. Dann schaute sie Heidi genau an und nickte von Zeit zu Zeit wieder mit dem Kopf, und Heidi guckte ihr auch ganz ernsthaft in die Augen, denn da kam etwas so Herzliches heraus, dass es dem Heidi ganz wohl machte, und die ganze Großmama gefiel dem Heidi so, dass es sie unverwandt anschauen musste. Sie hatte so schöne weiße Haare, und um den Kopf ging eine schöne Spitzenkrause, und zwei breite Bänder flatterten von der Haube weg und bewegten sich immer irgendwie, so als ob stets ein leichter Wind um die Großmama wehe, was das Heidi ganz besonders anmutete.

»Und wie heißt du, Kind?«, fragte jetzt die Großmama.

»Ich heiße nur Heidi; aber weil ich soll Adelheid heißen, so will ich schon Acht geben —«; Heidi stockte, denn es fühlte sich ein wenig schuldig, da es noch immer keine Antwort gab, wenn Fräulein Rottenmeier unversehens rief: »Adelheid!«, indem es ihm noch immer nicht recht gegenwärtig war, dass dies sein Name sei, und Fräulein Rottenmeier war eben ins Zimmer getreten.

»Frau Sesemann wird unstreitig billigen«, fiel hier die eben Eingetretene ein, »dass ich einen Namen wählen musste, den man doch aussprechen kann, ohne sich selbst genieren zu müssen, schon um der Dienstboten willen.«

»Werteste Rottenmeier«, entgegnete Frau Sesemann, »wenn ein Mensch einmal ›Heidi‹ heißt und an den Namen gewöhnt ist, so nenn ich ihn so, und dabei bleibt‘s!«

Es war Fräulein Rottenmeier sehr genierlich, dass die alte Dame sie beständig nur bei ihrem Namen nannte, ohne weitere Titulatur; aber da war nichts zu machen; die Großmama hatte einmal ihre eigenen Wege, und diese ging sie, da half kein Mittel dagegen. Auch ihre fünf Sinne hatte die Großmama noch ganz scharf und gesund, und sie bemerkte, was im Hause vorging, sobald sie es betreten hatte.

Als am Tage nach ihrer Ankunft Klara sich zur gewohnten Zeit nach Tisch niederlegte, setzte die Großmama sich neben sie auf einen Lehnstuhl und schloss ihre Augen für einige Minuten; dann stand sie schon wieder auf — denn sie war gleich wieder munter — und trat ins Esszimmer hinaus; da war niemand. »Die schläft«, sagte sie vor sich hin, ging dann nach dem Zimmer der Dame Rottenmeier und klopfte kräftig an die Tür. Nach einiger Zeit erschien diese und fuhr erschrocken ein wenig zurück bei dem unerwarteten Besuch.

 

»Wo hält sich das Kind auf um diese Zeit, und was tut es? Das wollte ich wissen«, sagte Frau Sesemann.

»In seinem Zimmer sitzt es, wo es sich nützlich beschäftigen könnte, wenn es den leisesten Tätigkeitstrieb hätte; aber Frau Sesemann sollte nur wissen, was für verkehrtes Zeug sich dieses Wesen oft ausdenkt und wirklich ausführt, Dinge, die ich in gebildeter Gesellschaft kaum erzählen könnte.«

»Das würde ich gerade auch tun, wenn ich so da drinnen säße wie dieses Kind, das kann ich Ihnen sagen, und Sie könnten zusehen, wie Sie mein Zeug in gebildeter Gesellschaft erzählen wollten! Jetzt holen Sie mir das Kind heraus und bringen Sie mir‘s in meine Stube, ich will ihm einige hübsche Bücher geben, die ich mitgebracht habe.«

»Das ist ja gerade das Unglück, das ist es ja eben!«, rief Fräulein Rottenmeier aus und schlug die Hände zusammen. »Was sollte das Kind mit Büchern tun? In all dieser Zeit hat es noch nicht einmal das Abc erlernt; es ist völlig unmöglich, diesem Wesen auch nur einen Begriff beizubringen, davon kann der Herr Kandidat reden! Wenn dieser treffliche Mensch nicht die Geduld eines himmlischen Engels besäße, er hätte diesen Unterricht längst aufgegeben.«

»So, das ist merkwürdig, das Kind sieht nicht aus wie eines, das das Abc nicht erlernen kann«, sagte Frau Sesemann. »Jetzt holen Sie mir‘s herüber, es kann vorläufig die Bilder in den Büchern ansehen.«

Fräulein Rottenmeier wollte noch einiges bemerken, aber Frau Sesemann hatte sich schon umgewandt und ging rasch ihrem Zimmer zu. Sie musste sich sehr verwundern über die Nachricht von Heidis Beschränktheit und gedachte, die Sache zu untersuchen, jedoch nicht mit dem Herrn Kandidaten, den sie zwar um seines guten Charakters willen sehr schätzte; sie grüßte ihn auch immer, wenn sie mit ihm zusammentraf, überaus freundlich, lief dann aber sehr schnell auf eine andere Seite, um nicht in ein Gespräch mit ihm verwickelt zu werden, denn seine Ausdrucksweise war ihr ein wenig beschwerlich.

Heidi erschien im Zimmer der Großmama und machte die Augen weit auf, als es die prächtigen bunten Bilder in den großen Büchern sah, welche die Großmama mitgebracht hatte. Auf einmal schrie Heidi laut auf, als die Großmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit glühendem Blick schaute es auf die Figuren, dann stürzten ihm plötzlich die hellen Tränen aus den Augen, und es fing gewaltig zu schluchzen an. Die Großmama schaute das Bild an. Es war eine schöne, grüne Weide, wo allerlei Tierlein herumweideten und an den grünen Gebüschen nagten. In der Mitte stand der Hirt, auf einen langen Stab gestützt, der schaute den fröhlichen Tierchen zu. Alles war wie in Goldschimmer gemalt, denn hinten am Horizont war eben die Sonne im Untergehen.

Die Großmama nahm Heidi bei der Hand. »Komm, komm, Kind«, sagte sie in freundlichster Weise, »nicht weinen, nicht weinen. Das hat dich wohl an etwas erinnert; aber sieh, da ist auch eine schöne Geschichte dazu, die erzähl ich heut Abend. Und da sind noch so viele schöne Geschichten in dem Buch, die kann man alle lesen und wieder erzählen. Komm, nun müssen wir etwas besprechen zusammen, trockne schön deine Tränen, so, und nun stell dich hier vor mich hin, dass ich dich recht ansehen kann; so ist‘s recht, nun sind wir wieder fröhlich.«

Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu schluchzen aufhören konnte. Die Großmama ließ ihm auch eine gute Weile zur Erholung, nur sagte sie von Zeit zu Zeit ermunternd: »So, nun ist‘s gut, nun sind wir wieder froh zusammen.«

Als sie endlich das Kind beruhigt sah, sagte sie: »Nun musst du mir was erzählen, Kind! Wie geht es denn beim Herrn Kandidaten in den Unterrichtsstunden, lernst du auch gut und kannst du was?«

»O nein«, antwortete Heidi seufzend; »aber ich wusste schon, dass man es nicht lernen kann.«

»Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinst du?«

»Lesen kann man nicht lernen, es ist zu schwer.«

»Das wäre! Und woher weißt du denn diese Neuigkeit?«

»Der Peter hat es mir gesagt und er weiß es schon, der muss immer wieder probieren, aber er kann es nie lernen, es ist zu schwer.«

»So, das ist mir ein eigener Peter, der! Aber sieh, Heidi, man muss nicht alles nur so hinnehmen, was einem ein Peter sagt, man muss selbst probieren. Gewiss hast du nicht recht mit all deinen Gedanken dem Herrn Kandidaten zugehört und seine Buchstaben angesehen.«

»Es nützt nichts«, versicherte Heidi mit dem Ton der vollen Ergebung in das Unabänderliche.

»Heidi«, sagte nun die Großmama, »jetzt will ich dir etwas sagen: Du hast noch nie lesen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt hast; nun aber sollst du mir glauben, und ich sage dir fest und sicher, dass du in kurzer Zeit lesen lernen kannst, wie eine große Menge von Kindern, die geartet sind wie du und nicht wie der Peter. Und nun musst du wissen, was nachher kommt, wenn du dann lesen kannst — du hast den Hirten gesehen auf der schönen, grünen Weide —; sobald du nun lesen kannst, bekommst du das Buch, da kannst du seine ganze Geschichte vernehmen, ganz so, als ob sie dir jemand erzählte, alles, was er macht mit seinen Schafen und Ziegen und was ihm für merkwürdige Dinge begegnen. Das möchtest du schon wissen, Heidi, nicht?«

Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, und mit leuchtenden Augen sagte es jetzt, tief Atem holend: »Oh, wenn ich nur schon lesen könnte!«

»Jetzt wird‘s kommen, und gar nicht lange wird‘s währen, das kann ich schon sehen, Heidi, und nun müssen wir mal nach der Klara sehen; komm, die schönen Bücher nehmen wir mit.« Damit nahm die Großmama Heidi bei der Hand und ging mit ihm nach dem Studierzimmer.

Seit dem Tage, da Heidi hatte heimgehen wollen und Fräulein Rottenmeier es auf der Treppe ausgescholten und ihm gesagt hatte, wie schlecht und undankbar es sich erweise durch sein Fortlaufenwollen und wie gut es sei, dass Herr Sesemann nichts davon wisse, war mit dem Kinde eine Veränderung vorgegangen. Es hatte begriffen, dass es nicht heimgehen könne, wenn es wolle, wie ihm die Base gesagt hatte, sondern dass es in Frankfurt zu bleiben habe, lange, lange, vielleicht für immer. Es hatte auch verstanden, dass Herr Sesemann es sehr undankbar von ihm finden würde, wenn es heimgehen wollte, und es dachte sich aus, dass die Großmama und Klara auch so denken würden. So durfte es keinem Menschen sagen, dass es heimgehen möchte, denn dass die Großmama, die so freundlich mit ihm war, auch böse würde, wie Fräulein Rottenmeier geworden war, das wollte Heidi nicht verursachen. Aber in seinem Herzen wurde die Last, die darinnen lag, immer schwerer; es konnte nicht mehr essen, und jeden Tag wurde es ein wenig bleicher. Am Abend konnte es oft lange, lange nicht einschlafen, denn sobald es allein war und alles still ringsumher, kam ihm alles so lebendig vor die Augen, die Alm und der Sonnenschein darauf und die Blumen; und schlief es endlich doch ein, so sah es im Traum die roten Felsenspitzen am Falknis und das feurige Schneefeld an der Schesaplana, und erwachte dann Heidi am Morgen und wollte voller Freude hinausspringen aus der Hütte — da war es auf einmal in seinem großen Bett in Frankfurt, so weit, weit weg, und konnte nicht mehr heim. Dann drückte Heidi oft seinen Kopf in das Kissen und weinte lang, ganz leise, dass niemand es höre.