Am französischen Ende der Nacht

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Am französischen Ende der Nacht
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IMPRESSUM

Am französischen Ende der Nacht

Joerg Embs

www.joerg-embs.de

Copyright: © 2014 Joerg Embs

Covergestaltung: Sonneborn | Büro für Werbung, Freiburg

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-8048-7

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern,

auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Autors urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen

Die Handlung der Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind unbeabsichtigt.

1 | UN

2 | DEUX

3 | TROIS

4 | QUATTRE

5 | CINQ

6 | SIX

7 | SEPT

8 | HUIT

9 | NEUF

10 | DIX

11 | ONCE

12 | DOUZE

13 | TREIZE

14 | QUATTORZE

15 | QUINZE

16 | SEIZE

17 | DIX-SEPT

18 | DIX-HUIT

19 | DIX-NEUF

20 | VINGT

21 | VINGT-ET-UN

22 | VINGT-DEUX

23 | VINGT-TROIS

24 | VINGT-QUATTRE

25 | VINGT-CINQ

26 | VINGT-SIX

27 | VINGT-SEPT

28 | VINGT-HUIT

29 | VINGT-NEUF

30 | TRENTE

31 | TRENTE-ET-UN

32 | TRENTE-DEUX

33 | TRENTE-TROIS

1 | UN

Das Verdeck lag in Falten geworfen, die Sonne schien aus einem wolkenlosen Himmel, der Wind brauste angenehm warm um seinen Kopf, zerwühlte ihm Frisur und Kleidung. Es war der erste Sommertag des Jahres, der diese Bezeichnung zu Recht trug. Im Radio sang Rio Reiser vom tragischen Ende einer gescheiterten Liebesbeziehung. Den Mond konnte Jo zwar nicht sehen, aber Juni passte ebenso wie der Songtext zu seinem Leben.

›Doch jetzt tut's nicht mehr weh, nee jetzt tut's nicht mehr weh … es ist vorbei bye, bye Junimond.‹

Rio sang und Jo grölte lauthals mit, dazu trommelte er im Takt auf das Armaturenbrett. Der VW-Käfer war beinahe schon historisch, hatte exakt so viele PS unter der Haube wie Jo Jahre auf dem Buckel, war mindestens so launisch wie sein Besitzer selbst. Er schaltete einen Gang hoch, der Wind brauste nun schneller um seinen Kopf, das Radio quäkte gegen den anschwellenden Geräuschpegel an, rechts und links flogen zunehmend schneller die Rheinauen vorbei. Seine Stimmung hätte nicht besser sein können. Jo beglückwünschte sich dazu am Morgen seinen Privat- dem Firmenwagen vorgezogen zu haben und zum spontanen Entschluss nach dem vormittäglichen Kundentermin den Rest des Tages frei zu nehmen. Er fuhr ohne konkretes Ziel, das Fahren war sein Plan.

Jo fühlte sich frei, genoss seine zurück gewonnene Unabhängigkeit. Seine letzte Beziehung lag ebenso lange zurück wie der letzte Frost. Diesem Sommer würde unweigerlich ein nächster Herbst folgen, dem Herbst ein nächster Winter. Eine nächste Liebesbeziehung jedoch würde es in absehbarer Zeit für ihn nicht geben, da war er sich sicher. All zu sehr lockte die Vorstellung ekstatischer Abenteuer. Ungezügelt, ungehemmt, unverstellt, weil sie nichts vorheucheln mussten was es im realen Leben ohnehin nicht gab: Liebe.

›Wie schön und unbeschwert das Leben doch sein kann‹, dachte Jo, ›wenn man endlich eingesehen hat, dass der Traum von der großen Liebe genau so realistisch ist, wie der Wunsch einer Eintagsfliege nach dem ewigen Leben.‹

Sex. Jede Menge Sex würde er haben. Mit Frauen, denen er keine Rechenschaft ablegen musste. Mit Frauen, die weder wissen wollten woher er kam, noch wohin er ging. Mit Frauen, deren Namen so nebensächlich waren wie ihre Vergangenheit oder Zukunft. Das Einzige was zählen würde wären Augenblicke gieriger Lust an der Lust.

Kurz entschlossen bog er vom Autobahnzubringer ab. Eine dunkle Wohnung und ein leerer Kühlschrank, das waren die Einzigen, die ihn Zuhause erwarteten, die konnten auch noch ein paar Stunden länger warten. Er kehrte um, steuerte den VW über die Rheinbrücke nach Straßburg, wo er ihn auf einem großen Parkplatz abstellte und seinen Weg in die Innenstadt zu Fuß fortsetzte. Nach wenigen hundert Metern verließ er die stark frequentierte Fußgängerzone und schlug sich durch kaum weniger belebte Straßen und Gassen. Beim erstbesten Café, ließ er sich in einen Stuhl fallen … Plastik! Noch nicht einmal dies, multipliziert um die Tatsache, dass die Farbe der lauwarmen Brühe das Einzige war was entfernt an den von ihm bestellten Kaffee erinnerte, konnten seine blendende Laune eintrüben. Dafür war der Vormittag einfach ein viel zu erfolgreicher, der bisherige Nachmittag ein viel zu schöner gewesen, noch dazu hatte Jo endlich einmal wieder Zeit und Gelegenheit einer seiner Lieblingsbeschäftigungen zu frönen: dem Beobachten.

Vorwiegend Touristen bevölkerten an diesem Freitagnachmittag den Platz. Eine bunt gemischte Menschenmenge sämtlicher Nationalitäten und Hautfarben, die genauso aussah wie auf zig anderen von Reiseführern als sehenswert angepriesenen Plätzen in Europa. Ab und an zog eine Gruppe Jugendlicher vorbei, uniform gekleidet als hätten sie zuvor eine Stylingschablone durchlaufen. All das war nicht anders als daheim in Stuttgart auch.

Gelangweilt griff Jo eine herrenlose Zeitung vom Nachbartisch und bestellte einen zweiten Kaffee. Cola wäre eine Alternative gewesen, zählte Cola doch auch zu den Worten, die selbst dann verstanden wurden, wenn der Sprecher der Landessprache gar nicht oder kaum mächtig war. Aber Cola mochte er noch weniger als schlechten Kaffee und weitere Alternativen sah er auf der Karte nicht. Denn sein Französisch fiel unter die Rubrik kaum, sein Wortschatz belief sich auf die Zahlen von Null bis Zehn, auf drei Worte, Oui, Non und Merci, sowie den Satz den sich Pubertierende landauf landab zuraunten. Es waren die Überbleibsel eines Schulunterrichts, dessen Fach er leichten Herzens zu Beginn der Oberstufe abgewählt hatte. Dabei hatte er die Sprache als äußerst wohlklingend empfunden, nur eben nicht von sich selbst gesprochen. Eine Sprache, elegant wie eine Mozart-Arie, gesprochen von einem Schülermund in dem eine Zunge im Radetzkymarsch schwerfällig umhermarschierte, das war und blieb unvereinbar und dementsprechend hatte es auch geklungen.

Jo entfaltete die Zeitung, traute seinen Augen kaum, als er die Titelseite überflog. Wahllos schlug er eine weitere Seite auf, dann noch eine und noch eine. Auf allen bot sich ihm das gleiche Bild: Französisch und Deutsch einträchtig nebeneinander, als hätte es eine Erbfeindschaft zwischen beiden Völkern nie gegeben. Verwundert schaute er auf, blickte geradewegs in das Gesicht eines älteren Mannes, der zwei Tische weiter saß. Die Haare schlohweiß und wirr, die Zähne schief, in den Augen ein lebhaftes Funkeln. Der Mann lächelte amüsiert, ein Lächeln wie ein warmer Händedruck.

»Straßburg ist nicht Frankreich«, rief der herüber.

»Sondern?«, rief Jo neugierig zurück.

»In erster Linie Straßburg«, antwortete der Herr augenzwinkernd, »mit einer Portion Frankreich, einem Klecks Deutschland und einem bisschen Europa.«

»Und Sie, was sind Sie?«

»Mon passport me dit que je suis allemand, mais mon coeur me dit que je suis français. Mein Pass sagt ich bin Deutscher, aber mein Herz sagt ich bin Franzose«, übersetzte er für Jo.

»Elsässer, was bedeutet es Elsässer zu sein?«, hakte Jo interessiert nach.

 

»Fragen Sie nach unserer Identität? Nun, die ist geprägt durch die Geschichte und die Umgebung. Das Elsass ist klein, war immer die Trophäe des Siegers, war mal Deutsch, dann wieder Französisch. Wir Elsässer mussten uns immer anpassen, aber wir haben gelernt: von den Franzosen das savoir-vivre, von den Deutschen den Fleiß und von den Schnecken die Langsamkeit.« Der Herr pausierte kurz, dann fuhr er fort. »Wenn Sie uns verstehen wollen junger Mann, dann gehen Sie in die Cathédrale. Dort schlägt das Herz der Stadt … l'équilibre.«

»Was bedeutet das?«

»Gleichgewicht. Ausgeglichenheit.«

»Sie machen mich sehr neugierig«, sagte Jo.

»Worauf warten Sie dann noch?«

Der Mann legte ein paar Münzen auf den Tisch und erhob sich. Er lachte herzlich und ging. Und Jo bereute, Stift und Block im Wagen liegen gelassen zu haben. Seufzend nahm er die Zeitung wieder auf, blätterte darin, während er über die Worte des älteren Herren nachdachte. Noch ein wenig, wie er empfand. Als er jedoch wieder aufblickte stand die Sonne längst nicht mehr so hoch am Himmel, Fassaden und Bäume warfen lange Schatten auf die Pflastersteine, statt Kaffee und Kuchen wurde nun immer öfter ein Aperitif und kleine Appetithäppchen bestellt. Immer häufiger hallten die Gassen wider von Schritten in Schuhen mit Ledersohlen oder Pumps mit hohen Absätzen. Sie kündeten davon, dass immer mehr chic gekleidete Menschen auf den Platz strömten. Die Frauen in meist grauen oder blauen Businesskostümen, die Männer größtenteils in schwarzen Anzügen. Genau wie in seiner Heimatstadt um diese Uhrzeit. Und doch war etwas anders. Aber was? Jo brauchte nicht sehr lange um den Unterschied zu ergründen: die geschäftige Hektik moderner Großstädter, sie war bei weitem nicht so ausgeprägt. Auch hier hetzte vereinzelt ein Geschäftsmann über den Platz, die überwiegende Mehrzahl aber schlenderte entspannt den Bistros entgegen. Hatte der Mann also Recht gehabt: l'équilibre.

Jo winkte dem Kellner und beglich seine Rechnung. Mit einem Mal hatte er es eilig zur Kathedrale zu kommen, die Neugier kitzelte ihn gewaltig in der Nase. Strebenden Schrittes bewegte er sich vorwärts, schlüpfte geschickt durch dichte Besucherströme die sich zähfließend durch enge Gassen schoben. An der Einmündung in die Place du Château stoppte Jo für einen Moment. Auf dem Platz wuselten Personen hin und her, Touristen standen in Gruppen zusammen und lauschten ihrem Stadtführer, dahinter erhob sich die Westfassade des Münsters über die Menschen - ein im Abendlicht leuchtender Fingerzeig gen Himmel. Jo musste den Kopf weit in den Nacken legen, um die Turmspitze überhaupt ausmachen zu können.

Selbst einem an Gigantismus gewöhnten Augenpaar des zwanzigsten Jahrhunderts rang dieser monumentale Anblick ehrfürchtige Bewunderung ab. Nichtig und klein wirkten vergleichsweise die Gebäude ringsum, von den Menschen davor gar nicht zu sprechen.

Unter diesem Eindruck setzte Jo seinen Weg fort, näherte sich auf direktem Weg dem Hauptportal mit den mehr als zweifach mannshohen, eisenbeschlagenen Toren. Sie ließen sich nur schwer öffnen und knarrten Furcht erregend in den Angeln. Jo schob sich durch die schmale Öffnung und blieb vorerst ihm rückwärtigen Teil des Bauwerks stehen, um seine Augen an das Halbdunkel zu gewöhnen. Jahrzehntelang hatte er keine Kirche mehr betreten. Das Licht war körnig und matt, in den Strahlen schwebten feinste Teilchen, die Jahrhunderte schienen als dünner Schleier in den Gewölben zu hängen. Nach und nach gaben auch die Seitenflügel den Blick auf ihre kunstfertigen Schätze frei, entließen sie aus dem Schutz der Dunkelheit. Jo folgte dem Seitengang, schritt langsam dem Altar zu. In den Bankreihen hockten zumeist ältere Gläubige in stille Andacht versunken, die Hände zum Gebet gefaltet. Im Widerstreit zwischen Gewohnheit und Beherrschung reisten seine rastlos um den Körper, unfähig eine angemessene Position zu finden. Intuitiv wollten sich die Finger ineinander verschränken, um vor dem Körper zu ruhen, Relikt einer jahrzehntelangen Tätigkeit als Messdiener, im Wissen um den Kirchenaustritt untersagte ihnen die Ratio jedoch ebendiese Haltung. Seiner eigenen Lesart nach war Jo konfessionslos aber nicht ohne Glauben. Unmittelbar vor der Kapelle schob er sich in eine der äußeren Reihen und nahm ganz am Rand Platz. Waren es zunächst Schritte und Bewegungen gewesen die ruhig und ruhiger wurden, waren es nun seine Gedanken: l'équilibre.

Nur Schritte entfernt von der Realität eines belebten Platzes hockte Jo in der sakralen Stille eines Gotteshauses und war doch meilenweit weg. Es war steinkalt, der muffige Geruch war exakt jener der winterlichen Waschküche seiner Großmutter. Schlotternd vor Angst und Kälte musste er diesen Kellerraum durchqueren, um zum Abort zu gelangen. Abort, das Wort erwachte so lebhaft in seinen Erinnerungen wie der Vorfall, der sich achtundzwanzig Jahre zuvor abgespielt hatte. Jo liefen eiskalte Schauer über den Rücken und mit Macht stürmte die Vergangenheit heran. Unversehens stand er wieder im Keller der Oma, Hausschläppchen an den Füßen, einen dünnen Schlafanzug über dem schmächtigen Kinderkörper, die Hand nach dem Lichtschalter tastend. Wie damals hörte er nun die trappelnden Geräusche scharfer Krallen auf glattem Stein, sah huschende Schatten, spürte pelziges an seinem Bein. Wieder entwand sich seinem Mund nur ein stummer Schrei. Immer deutlicher wurden nun die Erinnerungsbilder, ließen kaum ein Detail im Halbdunkel der Vergangenheit zurück. Seine Hand ruhte bewegungslos auf dem Türgriff, weitere Nager drängten an den Füßen vorbei, kalte Tränen liefen auf seine Lippen. Endlich hörte er das erlösende Zuschlagen der Tür, spürte fliegende Beine die viel zu kurz waren für die Größe der Schritte mit denen sie die Treppe nach oben hasteten. Erneut blickte er in die überraschten Gesichter der Erwachsenen, die in geselliger Runde um den Küchentisch versammelt saßen, las in ihren Augen: Hatte das ängstliche Träumerchen also wieder einmal schwarze Schatten in der Nacht gesehen. Keuchend, am ganzen Körper zitternd stand er in der überheizten Küche, schon eilte die Mutter herbei, um ihn zurück ins Bett zu verfrachten, als er ein einzelnes Wort herauswürgte: »Ratten!«, Stühle rückten, die Frauen nahmen ihn in ihre Mitte, Vater und Onkel bewaffneten sich mit Besen und Spaten und zogen ins Gefecht. Während er einige Schlucke heißen würzigen Weines zu sich nahm, nahm ein Stockwerk tiefer die Metzelei ihren Lauf. In der Küche war sie als Hörspiel des Grauens zu verfolgen. Das hell tönende Aufschlagen von Metall auf Stein, dumpfer, wenn die Schaufeln etwas anderes trafen, die kurzen Zurufe der Männer, die markerschütternd spitzen Lauten in Agonie schreiender Kreaturen. Und immer wieder dieses dumpfe Geräusch wenn ein Schlag sein Ziel gefunden hatte. Die Augen fest zusammengekniffen, den Kopf tief in den Schoß der Mutter vergraben, die Hände schützend auf die Ohren gepresst sehnte er das Ende des Blutvergießens herbei. Dumpf dröhnend rauschte das Blut in seinen Ohren, als er ein sachtes Wummern vernahm, vorerst kaum mehr als eine Ahnung und doch unüberhörbar. Es war, als vibrierte in der leeren Stille eines Sommermorgens die Luft unter den zarten Flügelschlägen eines Schmetterlings. Näher und näher kam das Geräusch, schwoll dabei in seinem Pegel stetig an, drängte das Rauschen in den Hintergrund bis nur mehr das Wummern zu hören war. Bald übersprang es die inneren Grenzen und füllte den ganzen Raum, war auch ohne auf die Ohren gepresste Hände deutlich zu vernehmen, das Pochen eines Herzens. Viel zu mächtig um das eines einzelnen Menschen sein zu können, selbst eine Stadt schien dafür als Herberge nicht groß genug zu sein. Jo war es, als säße er inmitten dieses Herzens und jeder dumpfe Schlag einer Schaufel war ein schmerzhafter Stich hinein. Nach einem Augenblick des Zögerns entwand er sich dem Mutterschoß und hetzte im Rhythmus des Pochens dem dunklen Keller zu. ›Aufhören! Aufhören! Aufhören!‹ schrie er, in rasender Angst mit geballten Fäusten gegen das Holz trommelnd. Einen langen Moment noch tobte der Krieg Mensch gegen Kreatur, dann kehrte plötzlich Ruhe ein und die Tür wurde geöffnet. »Es ist vorbei!«, sagte der Vater und legte ihm einen Arm um die Schultern. Äußerlich war alles vorbei, innerlich blieben ihm Erinnerungen, die lange Zeit seine Träume vergifteten und das Schlagen eines Herzens im Ohr das nicht sein eigenes war.

Bedächtig öffnete Jo die Augen. Im Altarraum fielen letzte Sonnenstrahlen farbig durch hohe Fenster, das Kirchenschiff lag weich gezeichnet im schummrigen Licht des frühen Abends, vereinzelt zeichnete sich die Silhouette eines Gläubigen darin ab, Seitenflügel und Westwerk versanken in mythischem Halbdunkel. Reglos saß Jo auf der harten Pritsche, den Blick ins Nirgendwo gerichtet, der Geist immer noch zwischen Gestern und Heute dämmernd. Erst das hölzerne Knarren einer rückwärtigen Bank beförderte ihn endgültig ins Hier und Jetzt. Mit Behutsamkeit wandte er den Kopf. Fünf Sitzreihen hinter ihm hatte sich eine hutzelige Frau erhoben, mit müdem Schritt und tief gebeugt unter der Last vieler Jahre schlurfte sie dem Ausgang zu. Momente später schlug dumpf krachend die Tür, dann saß Jo ganz allein in der riesigen Kathedrale. Es war so still, dass er das Blut in seinen Ohren rauschen, das Herz in seiner Brust schlagen, seine Gedanken in der Stille schwirren hören konnte. Und plötzlich spürte er es: sanft wie der Atem des Windes strich etwas über seine Haut. Kühl, sodass sich die feinen Härchen im Nacken und auf den Armen aufstellten. Er war nicht allein. Jo fühlte ganz deutlich ein Paar Augen auf ihn gerichtet, sie bohrten sich regelrecht in seinen Rücken. Unvermittelt drehte er den Kopf. Niemand war zu sehen ringsum. Wieder glitt ein kalter Hauch über ihn hinweg. Und dann sah er sie. Ein Paar funkelnder Augen lugten neugierig aus der schützenden Dämmerung heraus. Sekundenlang verschränkten sich ihre Blicke ineinander. Dann entschmolz eine Person dem Schutz des dunklen Westwerks. Im Gegenlicht war sie wenig mehr als ein Umriss, ein schwarzer Schatten vor einem dunkelgrauen Hintergrund. Für einen Mann einen Tick zu schmächtig, für eine Frau ein wenig zu kantig. Unbewegt stand sie da, den Blick weiterhin ungeniert auf Jo gerichtet. Sekundenlang, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und schickte sich an das Gotteshaus zu verlassen. Jo verfolgte den grauen Schatten bis er mit dem Halbdunkel verschmolzen war, lauschte nach dem Schlagen der Tür. Nichts, kein hölzernes Knarren, kein Ächzen in den Angeln, kein donnerndes ins Schloss fallen der schweren Flügel.

Wer war diese Person? Was wollte sie von ihm? Was hatte dieser Blick den die Dunkelheit nicht zu kümmern schien, gesehen? Nichts war diesem Blick entgangen. Nichts Äußeres. Nichts Inneres. Über derlei Fragen sinnend blieb Jo noch eine geraume Weile in seiner Bank hocken, dann erhob er sich und ging ohne weiteres Zögern dem Ausgang zu. Entschlossen schob er die massigen Flügel auf und trat vor die Tür, wo er sich bereits erwartet wusste.

2 | DEUX

»Sie?«

»Ich. Ja. Wieso?«

»Ich … hatte …«, stammelte Jo und schnaufte erleichtert durch. Sein Gegenüber lächelte ebenso herzlich wie er es bei ihrem ersten Aufeinandertreffen Stunden zuvor bereits getan hatte. »Hübsch großes Schneckenhaus, das Sie da haben.«

»Ja. Zuweilen geht die Schnecke aber auch ganz gern einmal aus. Insbesondere wenn sie ihre Fühler nach einem Thema für die Predigt des kommenden Sonntags ausstreckt.«

»Fündig geworden?«, fragte Jo nun ebenfalls lächelnd.

»Jep!«, antwortete der ältere Herr und grinste wie ein Lausbub der soeben einen Streich ausgeheckt hatte. »Ich werde nach langer Pause wieder einmal mein Lieblingsthema predigen.«

Zur Antwort zog Jo fragend die Stirn kraus.

»Zeit!«, antwortete der Priester knapp. »Und Sie haben mich darauf gebracht«, fügte er an. In diesem Moment begannen die Glocken zu läuteten und er zog Jo bestimmt ins Innere der Kirche zurück und deutete mit dem Finger zur Seite. In der astronomischen Uhr setzte ein Räderwerk eine Vielzahl von Figuren in Bewegung. Engel kippten eine Sanduhr um und schlugen eine Glocke, Planeten umkreisten die Sonnen, der Tod schlug mit einem Knochen die Stunde.

»Wie meinten Sie das: ICH hätte Sie darauf gebracht?«.

»Nun, als ich vom Café wegspazierte, da hatte ich noch keine Idee für meine Predigt. Zudem wollten Sie mir einfach nicht aus dem Kopf gehen, denn ich war mir sicher Sie schon einmal gesehen zu haben. Nur wo, das wusste ich nicht mehr. Wie ich in unserem Gespräch herausfand, sind Sie weder Straßburger noch kannten Sie die Cathèdrale. In einem der Gottesdienste konnte ich Sie also nicht gesehen haben. Aber Ihr Gesicht war mir bekannt. Ohne Zweifel. Mit einem Mal wusste ich es. Und im selben Moment kannte ich auch das Thema der nächsten Sonntagspredigt: Zeit.«

 

»Ich fürchte hier liegt eine Verwechselung vor«, sagte Jo.

»Ich glaube nicht mein Sohn«, entgegnete der Herr, nun ganz der Priester, der er Kraft seines Amtes war. »Vorhin, als Du in die Vorhalle tratest, hattest Du jemand ganz anderen als mich erwartet. Vielleicht sogar befürchtet.«

»Woher wissen Sie?«, fragte Jo aufgeschreckt.

»Was hältst Du davon wenn wir ein Stückchen gehen?«, Er lächelte so warm und freundlich wie am Nachmittag und wies mit der Hand einladend vor sich. »Mein Name ist Pater Frédéric«, schob er hinterher.

»Jo«, sagte Jo und nickte einverständig. Und so setzten sie sich in Bewegung, streiften durch die nun vorabendlich leeren Gassen der Altstadt für die Jo keinen Blick mehr hatte.

»Es ist eine längere Geschichte, zuweilen klingt sie ein wenig phantastisch, wie ich zugeben muss und ich werde ein wenig ausholen müssen«, setzte Pater Frédéric an. Er stoppte kurz, eine Einrede seines Zuhörers abwartend, dann fuhr er fort. Dabei sprach er so ruhig wie er einher schritt, darauf bedacht seinen Zuhörer auf dem Weg nicht zu verlieren.

»Es ist nun ziemlich genau sechs Monate her, dass die Geschichte begann. Letztes Weihnachten, am heiligen Abend, um exakt zu sein. Die Mitternachtsmette war beendet, die letzten Gemeindemitglieder hatten die Kirche verlassen, der Küster alle Türen verschlossen und die Lichter gelöscht. Ich war ganz allein in der Kirche, gerade dabei den Tabernakel zu verschließen, als ein einzelner Windhauch die Kerze auf dem Altar ausblies. Ich dachte Monsieur Lemond hätte eine der seitlichen Türen vergessen und ging in den Westflügel, als ich eine Person bemerkte, die ganz außen in einer Bank hockte. Eigentlich habe ich nur ihre Augen gesehen, die mich fixierten. Es war seltsam. Es war, als sei gar niemand da, nur diese Augen die mir auf Schritt und Tritt folgten. Die Seitentür war abgeschlossen. Und als ich mich wieder umwendete war niemand mehr da. Der Platz an dem die Person gesessen hatte war leer. So lange ich auch suchte, sie blieb verschwunden, schien durch eine Ritze entwichen zu sein wie eine Kirchenmaus, denn sämtliche Türen waren fest verriegelt. Drei Wochen nach der ersten Treffen, es war Mitte Januar und bitterkalt draußen, bin ich ihr zum zweiten Mal begegnet. Wiederum nach dem Ende eines Gottesdienstes, wieder nachdem alle gegangen, ich ganz alleine in der Cathèdrale war. Ich habe meine Arbeit zu Ende gebracht. Zu meinem Erstaunen saß sie plötzlich in der ersten Reihe. Kein Knarren der Bank, keine Schritte, kein Rascheln der Kleidung, nichts hatte ihre Bewegungen verraten. Die Person saß vollkommen ruhig und starrte auf die Marienstatue, schien mich nicht zu beachten. Ich habe mich zu ihr gesetzt. Es war ein Mann. Er sprach nicht, hockte einfach nur da und sah weiter auf die Marienstatue. Ein Mann, dem Leben fern«.

»Ein Mann, dem Leben fern«, wiederholte Jo vergessen.

»Ja«, antwortete Pater Frédéric knapp.

Sie gingen ein Stück schweigend, hingen ihren Gedanken nach. Ein Auto bog in die schmale Gasse ein, zeichnete dabei ihre Schatten auf eine Häuserwand. Es waren drei. Jo drehte hektisch den Kopf. Niemand war zu erblicken.

»Du wirst ihn nicht sehen, wenn er nicht will, dass Du ihn siehst. Er hatte die Sinne eines wilden Tieres und lebt schon so lange auf der Flucht, dass er eine Bedrohung wittert, bevor sie zur Gefahr werden könnte.« Pater Frédéric stoppte kurz. »Er ist wie der Wind: man spürt, dass er da ist, aber man kann ihn nicht sehen, nur seinen Schatten.«

»Wissen Sie seinen Namen?«

»Nein. Aber ich glaube einen Teil seiner Geschichte zu kennen. Inzwischen.«

»Spannen Sie mich nicht so auf die Folter«, sagte Jo.

»Ich habe ihm die Kammer in der Küsterei angeboten in jener Nacht. Und seitdem ist er da. Den Großteil der Zeit sieht man ihn nicht, aber ich spüre, dass er da ist. Irgendwo im Dunkel der Nischen. Und an manchen Abenden, wenn die letzten Gläubigen gegangen und die Türen verriegelt sind, hocken wir zusammen eine Weile in der Kirche. Schweigend, denn er spricht nach wie vor kein Wort.«

In ihrem Rücken wurde eine Haustür geöffnet, Worte des Abschieds drangen zu ihnen, ein Lichtschein streifte sie, abermals fielen drei Schattenrisse auf eine Hausfassade. Den Blick geradeaus gerichtet schlenderten sie durch die abendlichen Straßen bis ein Baum bestandener kleiner Platz zum Verweilen einlud und Pater Frédéric fragend auf eine steinerne Bank am Rand des Platzes wies.

Für einige Momente saßen sie schweigend nebeneinander und beobachteten die Szenerie. Menschen kamen, Menschen gingen, Stühle wurden gerückt, weiß beschürzte Kellner trugen Speisen und Getränke an die Tische, zwei späte Spaziergänger kreuzten den Blick, der Duft nach Knoblauch und heißem Öl waberte heran, leise Jazzmusik drang ans Ohr.

»Wenn er nicht spricht, woher kennen Sie dann einen Teil seiner Geschichte?«

»An einem dieser Abende brachte er etwas mit, ungefähr so groß wie eine Postkarte, in ein schwarzes, samtenes Tuch gewickelt. Er legte es auf die Ablage vor sich und nach einer Weile schob er es mir zu. Eine Kiste wichtiger Dokumente hatte ich erwartet. Als ich den Stoff jedoch zurückschlug, kam ein in einen Schutzumschlag eingeschlagenes Buch zum Vorschein. Die Titelseite von einem Schwarz-Weiß-Foto geziert, eine serife Schrift gab den Titel mit ›Die Fenster der Zeit‹ an und nannte einen Mann namens Nathan Messner als Autor.«

»Komischer Titel«, murmelte Jo.

»Dachte ich zunächst auch. Aber dann fiel mir ein, dass ich schon einmal etwas über die Fenster der Zeit gelesen hatte. Wie gesagt, Zeit ist eines meiner Lieblingsthemen.«

»Und?«, drängte Jo.

»Träume sind Fenster der Zeit. Zuweilen lassen Sie uns die Zukunft schauen, häufig jedoch wendet sich der Blick der Vergangenheit zu«, deklamierte Pater Frédéric mit salbungsvoller Stimme, als bete er ein Vaterunser.

Jo kam es vor, als zögen ihn die Worte zurück in die Kirche, zurück in die harte Bank, zurück in seine Kinderträumen. Der Wind kam heran, atmete in seinen Nacken. Die Härchen stellten sich auf, sein Herz schlug hoch in den Hals, die Hände wurden ihm feucht, ein dicker Kloß rutschte trocken seine Kehle hinab, der Atem ging schubweise und schwer. Minuten verstrichen bis Jo im Zeitlupentempo den Kopf drehte und dem Mann hinter sich ins Angesicht sah. Nach mehr als dreißig Jahren hatte er ihn also doch noch eingeholt, der Schatten seiner Kinderträume.

»Zeigen Sie sich endlich!«, rief Jo ins Halblicht der Nacht hinein.

Wortlos entstieg ein Mann dem Schutz einer dunklen Nische und trat nahe. Völlig lautlos sein Gang, nicht einmal der Stoff seiner Kleidung raschelte. Der Temperatur trotzend trug er einen langen schwarzen Mantel, darunter einen Anzug gleicher Farbe, dazu einen breitkrempigen Hut der die Gesichtszüge in Unkenntlichkeit barg.

»Warum verbergen Sie ihr Gesicht?«

Mit einer fließenden Bewegung zog der Mann den Hut vom Kopf und begann langsam sein Gesicht dem Licht zuzudrehen, bis es im vollen Schein stand. Bei dessen Anblick riss es Jo den Atem aus dem Mund: zwei Augen, eine Nase, ein Mund, rein physiognomisch ein komplettes Menschengesicht, aber eines in das das Leben nichts hineingeschrieben hatte. Es war leer wie ein unbenutztes Blatt Papier. Ein unbenutztes Gesicht. Kein Lachen und Weinen, weder Freude noch Trauer hatten darin Spuren hinterlassen, noch nicht einmal die Zeit selbst.

Jo’s anfängliche Angst wich immer weiter unendlicher Traurigkeit, die Bestürzung machte einem bohrenden Gefühl der Hilflosigkeit Platz, Fragen schoben sich in dichten Scharen durch seinen Kopf wie tagsüber Ströme Touristen durch die Straßen und Gassen der umliegenden Altstadt. Antworten hingegen fanden sich ebenso selten ein wie Einheimische ins tagtägliche Gewühl an den Souvenirständen. Langsam aber stetig griff kalte Wut in seinem Inneren Raum, dass er am liebsten einen Stuhl durch eine Glasscheibe geworfen hätte, nur um das berstende Geräusch zu hören.

›Ein Mann, dem Leben fern‹, sprach Jo still in sich hinein und sah dem Unbekannten noch einmal ins Angesicht. Erneut zuckte er bei dessen Anblick zusammen, erschütterte ihn sein leeres Gesicht bis ins Mark. Dieses Antlitz, aus dem alle Spuren des Lebens ausradiert, das gelöscht war, das selbst keinerlei Spuren hinterließ. Wütend und verstört wendete er sich Pater Frédéric zu, brachte nur ein einziges Wort heraus: »Warum?«

Pater Frédéric hob den Finger vor die Lippen. Gemeinsam lauschten sie einem verzweifelt um Worte ringenden Schatten. Einzelne Silben, unverständliche Wortfetzen, heisere Flüsterlaute krochen aus seinem Mund, zu schwach und zu müde vom beschwerlichen Weg den sie gegangen waren um eine verständliche Antwort zu sein.

»Man hat ihm die Vergangenheit gestohlen«, sprang ihm Pater Frédéric bei. »Sein Gesicht ist Indiz der Tat, ist der Fingerabdruck den der Täter am Tatort hinterlassen hat.« Er legte eine kurze Pause ein. »Wer aber keine Vergangenheit besitzt, der verfügt auch über keine Zukunft, der hat noch nicht einmal eine Gegenwart, der hat gar kein Leben.« Neuerlich pausierte der Geistliche, bedeutungsschwer wie es Jo schien. »Du bist der Einzige der ihm helfen kann, Jo. Finde seine gestohlene Vergangenheit und gib sie ihm zurück bevor das Schicksal seinen Lauf vollendet hat, bevor es zu spät ist. Bitte.«

Der Schatten legte Jo ein schwarzes samtenes Bündel in die Hände. Mechanisch, wie hypnotisiert, schlug Jo die Stoffbahnen auseinander, entnahm ihnen das Buch. Er drehte und kippte das Druckwerk bis genug Licht darauf fiel und die Titelseite erkennbar wurde, blätterte dann ein paar Seiten vor und stieß auf eine Widmung: ›Für Jo‹.