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Hölle in Himmel


Joe Wentrup

Hölle in Himmel

Sauerland-Krimi mit Rezepten


Haftungsausschluss: Die Rezepte dieses Buchs wurden von Verlag und Herausgeber sorgfältig erwogen und geprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Die Haftung des Verlags bzw. des Herausgebers für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

© 2016 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung der

Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz und Umschlag: Thorsten Hartmann unter Verwendung von

Fotos von kwakwak / iStockphoto

Rezepte: siehe Anhang

ISBN: 978-3-944369-67-9

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Für Kerstin und Dino

But change becomes us all in time. The course is set!

Wire

KAPITEL EINS

Seine Gesichtszüge wären einem Betrachter eher geistlos als entspannt vorgekommen. Die blaue Oberlippe gab im fahlen ersten Tageslicht eine Reihe dünner, gelber Zähne preis und es schien, als würde dieser Mund, gleich dem eines Schnarchenden, dessen Uvula die Luftröhre versperrt, jeden Moment nach Luft schnappen. Doch nichts geschah.

Er wunderte sich etwas darüber, dass er so bequem ohne zu atmen dahintreiben konnte und die Kälte des Wassers nicht an ihm nagte wie eine Schar tollwütiger Ratten.

Der dunkle, träge Strom des Mühlengrabens, dessen Oberfläche noch immer von dicken Regentropfen in Unruhe versetzt wurde, trug seinen reglosen Körper entlang hoher Mauern mit alten Häusern, deren Fenster noch die Dunkelheit der Nacht in sich bargen, während die tiefhängenden Wolken mit jedem Moment mehr aufrissen.

Die Notwendigkeit drang in sein Bewusstsein, allmählich die ihn umfassende Trägheit zu überwinden, wollte er noch rechtzeitig in seine Wohnung zurückkehren, trockene Kleidung anlegen und bei einer Tasse Kaffee seine Morgenzigarette rauchen. Für die Aufnahme fester Nahrung jedoch zeigte sein Magen zu dieser frühen Stunde keinerlei Bereitschaft.

Sein Körper stieß an ein Hindernis. Das beständige, tiefe Summen verkündete ihm, dass er das Kraftwerk erreicht hatte, dessen Gatter ihn davon abhielt, in der Turbine wie durch einen Fleischwolf gedreht zu werden. Die Gewalt des Wassers ließ sich nur an der feinen Vibration der eisernen Stäbe ahnen, während es sanft durch die Barriere floss.

Ein breiter hydraulischer Rechen setzte sich in Gang und seine Blätter begannen, wie Barten eines Wals zwischen den Gitterstäben entlangzufahren. Als sie seinen Körper erfassten und aus dem Wasser hoben, begann die Hydraulik unter dem Gewicht zu ächzen. Er schämte sich, die selbst auferlegte Fastenkur des ausgehenden Winters nicht konsequenter durchgehalten zu haben.

Plötzlich sackte sein Körper mit einem ratschenden Geräusch wieder dem Wasser entgegen, nur um erneut emporgehoben zu werden. Am gleichen Punkt wie zuvor jedoch wiederholte sich der vom scharfen Ton begleitete Sturz bis kurz vor die Wasseroberfläche, von wo aus er nochmals in Richtung der Anhäufung modriger Blätter und Äste geliftet wurde, auf den ihn der zu schwache Arm des Rechens auch diesmal nicht abzuladen vermochte.

Schließlich fand er sich trotz dieser Widrigkeiten auf der dem Turbinenhaus vorgelagerten Betonplattform wieder. Er war gereizt, die Zeit drängte, hatte er doch bereits früh am Morgen wichtige Termine wahrzunehmen.

Das ächzende Geräusch hallte, gleich der rostigen Ratsche eines traurigen Clowns, noch immer durch die menschenleeren Gassen. Anscheinend kämpfte der Rechen nach wie vor mit einem zu hohen Gewicht.

Er nahm sich vor, in der nächsten Ratssitzung den Einbau einer stärkeren Hydraulik zu beantragen. Das Brummen der Turbine durchdrang ihn. Raum und Zeit verschwammen. Als er endlich beschloss aufzubrechen, war das Licht des Tages von alldurchdringender Kraft.

Eine unbestimmte Ahnung hielt ihn zurück. Im Wasser reflektierten sich die fahlen Wolken, doch nirgends konnte er sein eigenes Spiegelbild entdecken. Dann sah er sich noch immer unten im Rechen liegen und begriff, dass er tot war.

KAPITEL ZWEI

Die Flammen formten aus ihren lodernden, windenden Zöpfen eine Welt, in der alle Kraft sich im Zustand gleißenden, tosenden Feuers befand, dessen funkensprühende Gischt zum Himmel schoss.

Ein pulsierendes, wiederkehrendes Brummen erklang, zunächst fern und unbedeutend, dann näherkommend, bis der Flammenvorhang im Takt des Tones zu zerreißen begann und das graue Licht eines wolkenverhangenen Tages in Kahlbergs verschlafene Augen fiel.

Er grabschte nach dem auf dem Nachttisch vibrierenden Handy, und beantwortete schlaftrunken den Anruf.

Nach dem Gespräch fluchte er mit rauer Stimme und tastete nach seinen Zigaretten. Das hätte sein gottverdammter freier Tag sein sollen und nun bestellte man ihn ins Ministerium. Er richtete sich im Bett auf, schaffte es, sich eine Zigarette anzustecken und verscheuchte die Erinnerung an den Traum, aus dem ihn der Anruf gerissen hatte, an die ihn einhüllenden Flammen, die immer gleichen Flammen, indem er den Blick ins Freie, hinaus auf die unspektakuläre Düsseldorfer Skyline heftete. Sodann ließ er ihn durch das minimalistisch eingerichtete Schlafzimmer schweifen, nichts davon, das erfüllte ihn mit Stolz, aus jenem skandinavischen Möbelhaus, bis seine Augen ihren Ausflug bei dem mit leeren Bierflaschen und aufgerissenen Präservativpackungen vollgestellten Nachttisch beendeten.

Nadine war bereits gegangen, wie jedes Mal, wenn sie die Nacht bei ihm verbrachte. Sie verstand es, ihre sporadischen Zusammenkünfte mit reichlich Alkohol nie in ihrer Wohnung enden zu lassen, um so diesen immer gleichen Ausgang bestimmen zu können. Danach verschwand sie meist für längere Zeit, bis zum nächsten Anruf, und Kahlberg wusste nie, was sie in der Zwischenzeit getan oder mit wem sie ihre Zeit verbracht hatte. Ehrlich gesagt interessierte es ihn auch nicht sonderlich.

Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, steckte den Stummel in eine der leeren Flaschen und schwang sich aus dem Bett.

KAPITEL DREI

Das Düsseldorfer Innenministerium, ein ausdrucksloser Stahl-und Glasklotz, kauerte in einem zentralen Niemandsland zwischen Brückenauffahrten und Stadtteichen wie ein unbekannter Besucher eines teuren Restaurants, der von seinem etwas deplatziert wirkenden Einzeltisch diskret die erlauchten Gäste ausspähte.

Kahlberg betrat das Foyer und schob seinen Polizeiausweis unter dem Panzerglas dem betagten Pförtner zu, der durch den viel zu eng geknöpften Krawattenknoten jahrzehntelange Unberührtheit mit der jüngst auch in den niederen Diensträngen immer mehr um sich greifenden Anzugspflicht dokumentierte. Kahlberg selbst pfiff darauf, trug wie immer Boots und Jeans. Als einziges Zugeständnis an seine Position hatte er die alte Lederjacke gegen eine neue eingetauscht.

»Man erwartet Sie bereits.«

Der Beamte schob ihm Polizei- wie Besucherausweis entgegen und wies mit dem Kopf zur Empfangshalle.

Kahlberg folgte der Bewegung und sah Hahne in einem nüchternen Ledersessel sitzen. Als ihre Blicke sich trafen, lächelte sie und erhob sich, um ihn stehend zu erwarten, während er den Inhalt seiner Taschen durch die Röntgenkontrolle schleuste und den Metalldetektor passierte.

Hahne sah wie immer hinreißend aus. Sie trug ein strenges, wenn auch karges Kostüm, der Rock gerade lang genug für ihren Job und ihr Alter, welches man nur bei genauerem Hinsehen erahnte. Schade, dass sie seine Vorgesetzte war, ging es Kahlberg mal wieder durch den Kopf, bevor sie sich gegenüberstanden und mit kollegialem Grinsen den Handschlag sparten.

»Tut mir wirklich leid, Sie aus Ihrem freien Tag gerissen zu haben.«

»Und aus dem Bett.«

»Ich hoffe, Sie hatten ausreichend Schlaf.«

Ihre aufgeweckten braunen Augen sahen ihn forschend an und Kahlberg vermutete für einen Moment in ihrem Blick eine süffisante Doppeldeutigkeit.

»Ich bin okay«, antwortete er dann und lächelte breit, wobei die Stoppeln seines unrasierten Kinns sich aufstellten wie die Stacheln eines Kugelfisches.

»Gut. Dann wollen wir mal.«

Sie durchquerten die Eingangshalle und fuhren mit dem Lift in den obersten Stock. Erneut kontrollierte eine Empfangsdame ihre Ausweise, bevor sie die beiden Beamten durch einen mit dickem Teppich belegten Flur zu einer Tür führte, an die sie klopfte.

»Herein«, kam es dumpf durch das dunkle Tropenholz.

Die Sekretärin öffnete, ließ Hahne und Kahlberg eintreten und zog sich diskret zurück.

Der Innenminister, ein drahtiger Mann, der gelernt hatte, seine linkische Menschenscheu durch das geübte Gebaren eines Berufspolitikers zu verbergen, saß hinter einem ausladenden Schreibtisch aus Teakholz, hinter sich an der Wand ein Neo Rauch, dessen Bedeutung sich ihm entzog, den er jedoch höchstpersönlich ausgewählt hatte, um die Zeitbezogenheit und finanzielle Potenz seines Ministeriums zu untermalen.

Eine Seite des Raums bestand einzig aus Fenstern, die den Blick freigaben auf den Spee’schen Graben und den weiter entfernt dahinfließenden Rhein. Ohne sich zu erheben, bat der Minister die beiden Besucher, ihm gegenüber Platz zu nehmen, und kam ohne Umschweife zur Sache.

»Wir haben eine kleine Unannehmlichkeit, über die wir uns gerne Klarheit verschaffen würden.« Er öffnete und schloss einen teuren Füllfederhalter, während er seinen Gegenübern routiniert eindringliche Blicke zuwarf. »Ein Mitglied der Koalitionspartei ist heute Morgen tot aufgefunden worden. Nicht hier in Düsseldorf, sondern in der Provinz.«

»Und was haben wir dann damit zu tun?«, fragte Kahlberg, ohne der Rangordnung gemäß Hahne das Wort zu überlassen.

Diese hätte ihn ob seines draufgängerischen Protokollfehlers gerne mit einem nachsichtigen Lächeln abgestraft, welches sie jedoch, in Gegenwart des Innenministers, in einen strengen Blick umwandelte.

»Es ist ein delikater Fall«, erklärte sie Kahlberg übertrieben kühl. »Bei dem Toten handelt es sich um einen dortigen Parteivorsitzenden, einen gewissen Rottmann.«

Kahlberg zog die Augenbrauen hoch. Seine Chefin befand sich also schon auf dem Laufenden.

»Ein Verbrechen?«, fragte er fast beiläufig.

»Tod durch Ertrinken lautet der vorläufige gerichtsmedizinische Befund.«

»Irgendwelche Spuren von Gewalt?«

»Keine.«

Kahlberg zuckte verständnislos mit den Schultern.

»Es ist bald Wahlkampf«, meldete sich der Innenminister zu Wort und zog den Füllfederhalter komplett aus der Hülle. »Der Tote war eine Person des öffentlichen Lebens mit potentiell vielen Feinden. Wir müssen jeder Art von Skandal möglichst zuvorkommen.«

»Sie meinen wohl, Sie müssen dem zuvorkommen.« Kahlberg funkelte ihn herausfordernd an.

Der Innenminister warf ihm einen indignierten Blick zu, dann wandte er sich an Hahne.

»Erklären Sie’s ihm.«

»Der Innenminister hat das Recht, eine solche Untersuchung anzuberaumen, wenn der Verdacht besteht, die örtlichen Behörden könnten befangen sein.«

»Und worin begründet sich dieser Verdacht?«

»Kahlberg, ich muss Ihnen doch wohl nicht erklären, wie die Dinge in der Provinz funktionieren.«

»Bestimmt nicht. Aber ich frage erneut, was hat das Ganze mit uns, oder vielmehr mit mir zu tun?«

»Der Tote wurde in Himmel gefunden.«

»In Himmel?« Kahlbergs Augen weiteten sich ungläubig. Sie erwarteten doch nicht von ihm, seine Nase in den Ort zu stecken, den er am wenigsten riechen konnte. Alles in ihm bäumte sich dagegen auf.

»Sie glauben doch wohl nicht, dass ich …«

»Doch. Und zwar noch heute. Ich habe bereits ein Hotelzimmer für Sie reservieren lassen.«

»Können Sie niemanden da hinschicken, der mal Urlaub auf dem Land nötig hat?«

Hahnes Augen wurden hart. Kahlberg kannte diesen Blick nur allzu gut, kalkulierte, wie lange ihre Beziehung wohl halten würde, sollte sie sich je ergeben, und nickte resigniert.

Der Innenminister steckte zufrieden die Hülle zurück auf seinen Füllfederhalter.

Als sie alleine im Aufzug standen, lächelte Hahne Kahlberg mitfühlend an. Sie sah wirklich verdammt gut aus.

»Irgendwann müssen wir alle mal zurück, Kahlberg.«

KAPITEL VIER

Er sah nicht besonders gut aus, eher durchschnittlich, und besaß trotz aller Diätversuche einen leichten Bauchansatz.

Seine Stimme aber hatte es in sich. Wenn er in Begleitung seiner Bigband sang und man die Augen schloss, konnte man Sinatra persönlich auf der Bühne vermuten.

Und er sang. Nur lauschte niemand mit geschlossenen Augen. Das Publikum starrte ihn vielmehr mit dem kalten, abschätzenden Blick eines Schlachtermeisters an und hatte zudem Bohnen in den Ohren. Zumindest die wenigen, die er als Publikum an diesem grauen, kalten Samstagnachmittag auf dem Marktplatz ausmachen konnte, weit weg von der Bühne am Bierstand, verschanzt hinter in Krügen schalendem Gerstensaft.

Start spreadin’ the news

I am leavin’ today

I want to be a part of it

New York‚ New York

Seine Band legte sich ins Zeug, die Bläser spielten mit Nachdruck, das Keyboard führte sicher, der Schlagzeuger brachte alles auf den Punkt. Er spürte, wie seine Stimme sich beflügelt über jenen Hades emporschwang, der sich feindselig vor ihm ausbreitete.

Als ob bei dem hiesigen Motto »Himmler Schlosstage« nicht ein genitivisches »s« fehlte, dachte er mit Häme.

These vagabond shoes

They are longing to stray

Right through the very heart of it

New York‚ New York

Kahlberg saß hinter dem Steuer seines 83er Audi Quattros. Doch obwohl er bereits seit einiger Zeit nur halbherzig Gas gab, kam die Abfahrt unerbittlich näher. Widerwillig fuhr er von der Autobahn herunter, bog auf die Landstraße, rollte an einer Tankstelle sowie einem Burgerrestaurant vorbei und unter einem Eisenbahnviadukt hindurch, der sich über das enge Tal spannte.

Erstaunt bemerkte er einen vor anscheinend noch nicht allzu vielen Jahren durch den Berg getriebenen Autotunnel und erinnerte sich vage, davon gehört zu haben.

Dann fuhr Kahlberg zwischen düsteren, mit schwarzem Schiefer bedeckten Häusern zur Altstadt hinauf. Die Schaufenster der ehemaligen Geschäfte waren von innen mit Laken oder Gardinen verhängt, vereinzelt auch ersetzte zusammenhangslos exponierter Trödel die Auslagen. Auf dem schmalen Bürgersteig ging nur ein einzelner Mann in Turnhose und Parka, eine Baseballkappe gegen die Kälte tief ins bleiche Gesicht gezogen.

I wanna wake up in a city

That doesn’t sleep

And find I’m king of the hill

Top of the heap

Der Sänger und seine Bigband gaben alles. Trotz und Stolz ließen sie die höchsten musikalischen Gipfel erklimmen, zu nie gehörtem Einklang zusammenwachsen. Wäre auch nur ein musikalisches Ohr präsent gewesen, sein Besitzer hätte vor Ergriffenheit geweint. Und tatsächlich, etwas abseits, auf einem Treppenabsatz sitzend, eine Dose Bier und eine Selbstgedrehte in der Hand, entblößte jemand mit stillem Lächeln eine große Zahnlücke und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

These little town blues

Are melting away

I’ll make a brand new start of it

In old New York

Kahlberg sah die Bühne, bevor er die Band hören konnte. Er hielt in angemessener Entfernung und stieg ins Freie. Die Luft fühlte sich spürbar kälter an als in Düsseldorf, der Himmel hing bleiern über dem sporadisch anwesenden Publikum. Die Band klang gut. Zu gut für diesen Ort, ging es ihm durch den Kopf. Er las das große Schild über der Bühne, »Himmler Schlosstage«, bevor sein Blick auf etwas fiel, das dahinter groß und unerschütterlich aufragte. Als wären die Jahrzehnte, die Kahlberg diesen Ort gemieden hatte, nur ein Wimpernschlag gewesen, stand er an seinem Platz. Der Glockenturm.

Aus seinem Dach sah Kahlberg Flammen schlagen wie aus dem Maul eines wütenden Drachen, der versuchte, das Blei des Himmels zu schmelzen. Head of the heap‚ king of the hill. Er wandte sich ab ließ sich davontragen von der Musik die in einem Crescendo endete, come on‚ come through‚ New York‚ New York‚ New York!

Dann Stille.

Die Wolken hingen grau und reglos wie ein metallener Baldachin, der Turm stand starr und unversehrt, die schieferschwarze Kuppel im eisigen Wind, der den letzten Nachhall der Musik mit sich forttrug.

Niemand applaudierte.

Der Bandleader griff zum Mikrofon. »Die Big Bang Brass Band, zum ersten Mal in Himmel …«, er genoss die Pause mit hämischer Vorfreude, »und hoffentlich auch zum letzten Mal!«

Als die Band von der Bühne stieg, herrschte noch immer Schweigen, verständnisloses Schweigen jetzt. Konnte jemand so etwas gesagt haben? Oder hatte man sich verhört? Die wenigen Anwesenden beschlossen offensichtlich, diese Frage über ihren schaumlosen Bieren zu überdenken und blieben stumm und reglos im aufkommenden feinen Nieselregen stehen. Nur hier und da wurde ein Glas an schweigsame Lippen gehoben.

Kahlberg bemerkte erst jetzt, dass sich seine Hand bisher geweigert hatte, die Wagentür zu schließen. Einladend wartete der noch warme Sitz hinter dem Lederlenkrad auf ihn.

Er riss sich zusammen und schlug die Tür zu. Zu fest. Die versammelten Köpfe wandten sich ihm zu. Einige davon waren ihm noch gut im Gedächtnis. Zu viele. Er fragte sich, ob sie ihn auch wiedererkannten. Unwillkürlich tastete seine Hand nach dem Türgriff.

Da sah er aus einem Polizeiwagen eine Frau in Uniform steigen und auf ihn zukommen. Ihre sportliche Figur balancierte leichtfüßig auf Schuhen, gerade so hochhackig wie im Dienst zugelassen, und sie wiegte ihre Hüften weiblicher, als es die meisten seiner Kolleginnen wagten. Als sie näher kam, konnte er ein freundliches Paar Augen erkennen, das unter einem blonden Pony hervorspähte. Zwar hatte der Dienst schon ein paar Spuren in ihrem ebenmäßigen Gesicht hinterlassen, aber noch dominierte ihre Jugend.

»Hallo, ich bin Sandra Scheiwe, ich habe Sie schon erwartet«, sagte sie lächelnd und reichte ihm die Hand.

KAPITEL FÜNF

Seit seiner Jugend assoziierte Kahlberg den Geruch von Krankenhäusern mit dem Tod. Später, bei der Kripo, nach all den Visiten in den Katakomben der Gerichtsmedizin, hatte sich dies nur verstärkt. Aufgefräste Brustkörbe, entnommene Herzen, Lebern, Gehirne, die immer gleichen dünnen beflissenen Finger der Gerichtsmediziner, mit denen die Sektionen vorgenommen wurden, waren ihm dabei zu einem gewohnten Anblick geworden.

Doch diesmal drohte ihn sein Bewusstsein beim Betreten jener neonerleuchteten Totenwelt zu verlassen, was nicht an der nackten, bereits wieder mit grober Naht verschlossenen Leiche vor ihm auf dem Seziertisch lag, sondern dem Umstand entsprang, dass in eben diesem Krankenhaus, mit seinem provisorisch zur gerichtsmedizinischen Abteilung umgestalteten Leichenkeller, seine Mutter verstorben war.

In ihren letzten Stunden hatte er ihre Hand gehalten. Als sie ihre Augen für immer schloss, durchzog ihr Gesicht für einen Moment, zum ersten Mal seit vielen Jahren, so etwas wie Erleichterung, bevor das Blut entwich und die ausdruckslose Maske des Todes hinterließ.

Unmittelbar nach Erledigung der Formalitäten und der Beerdigung in kleinstem Kreise war er fortgegangen, um niemals zurückzukommen. Und nun stand er dort, wo wohl auch der Leichnam seiner Mutter von einem Skalpell geöffnet worden war, um im Namen der Wissenschaft die genaue Zahl ihrer Metastasen festzustellen.

»Tod durch Herzstillstand«, fasste der Gerichtsmediziner seine Erkenntnisse zusammen und riss damit Kahlberg aus seinen düsteren Erinnerungen, um bei dessen verstörtem, fahlem Anblick süffisant eine Braue hochzuziehen. Die Gegenwart eines Leichnams führte bei seinen Zuhörern des Öfteren zum Erbleichen.

»Seine Hose war offen, wahrscheinlich ist er beim Pinkeln in den eiskalten Mühlengraben gefallen«, fuhr er fort. »Auf Geschlechtsverkehr gibt es jedenfalls keine Hinweise. Hätte mich bei seinem Gesundheitszustand auch gewundert.«

»Rottmann galt aber allgemein als sehr lebensfroh, man sah ihn immer um die Blöcke ziehen«, gab Sandra Scheiwe zu bedenken und warf Kahlberg ob ihres vorlauten Einwandes einen entschuldigenden Blick zu.

Der grinste anerkennend und riss sich zusammen, um nicht wieder in seine Abgründe zu sinken.

»Also, ich bitte Sie.« Der Gerichtsmediziner rückte etwas pikiert seine goldgeränderte Brille zurecht. »Ganz abgesehen von den Promille in seinem Blut muss durch seine Leber genug Alkohol geflossen sein, damit die Brauereien Kränze an seinem Grab niederlegen; die Lunge trug vom Kettenrauchen eine Teerdecke wie eine Autobahn und das Herz scheint mir so schwach, dass es ihm auch beim Niesen hätte stehenbleiben können, und da glauben Sie …«

»Irgendwelche Hinweise auf Gewalteinwirkung?«, fiel ihm Kahlberg ins Wort. Die Selbstgefälligkeit dieses Weißkittels ging ihm allmählich auf die Nerven.

»Nein, er hat nicht eine einzige Schramme. Selbst wenn er mit jemandem gekämpft oder gerungen hätte, das Wasser hätte jede fremde DNA auf Kleidung, Haut oder unter den Fingernägeln untauglich gemacht. Schließlich lag er Stunden darin.«

»Wie lange genau?«

»So sechs bis acht.«

»Dann ist er also gegen Mitternacht oder kurz danach gestorben«, resümierte Kahlberg und wandte sich an Scheiwe. »Was hatte Rottmann wohl betrunken am Mühlengraben zu suchen?«

»Wahrscheinlich befand er sich auf dem Heimweg von irgendeiner Veranstaltung oder einem Kneipenbesuch.«

Kahlberg hegte seine Zweifel, der Graben lag zu abgelegen. Trotzdem sagte er: »Finden Sie raus, wo er sich zuletzt aufgehalten hat. Ich glaube, damit werden wir den Fall beenden können.«

Er wollte nur noch fort von hier, fort von dem aseptischen Geruch des Todes, fort aus dieser Kleinstadt, die schon wieder begann, ihm die Kehle zuzuschnüren. Wenn alles gut lief, würde er sich sogar eine mit Sicherheit schlaflose Nacht im Hotel sparen und stattdessen die Gewalt seines Quattros auf den Asphalt der A1 bringen können. Er würde schnell fahren. Sehr schnell.

Sie gaben dem Gerichtsmediziner zum Abschied die Hand, wobei es Kahlberg bei der Berührung der feingliedrigen Chirurgenfinger schauderte, und begannen, die Stufen zum Erdgeschoß hinaufzusteigen. »Jetzt machen wir noch unseren kleinen Pflichtbesuch beim Bürgermeister und dann ist Feierabend.«