Grundriss der Philosophie

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Die Primärtätigkeiten der menschlichen Seele

Ein ganz anderes Thema ist die gestaffelte Darstellung der bis zu sechs Primärtätigkeiten der menschlichen Seele:

Die erste Primärtätigkeit der menschlichen Seele:

Wollen

Die ersten beiden Primärtätigkeiten der menschlichen Seele:

Denken, Wollen

Die ersten drei Primärtätigkeiten der menschlichen Seele:

Denken, Fühlen, Wollen

Die ersten vier Primärtätigkeiten der menschlichen Seele:

Denken, Empfinden, Fühlen, Wollen

Die ersten fünf Primärtätigkeiten der menschlichen Seele:

Denken, Vorstellen, Empfinden, Fühlen, Wollen

Die ersten sechs Primärtätigkeiten der menschlichen Seele:

Wahrnehmen, Denken, Vorstellen, Empfinden, Fühlen Wollen

Neue Sinneslehre


Bild: Die erste 12 Sinne des Menschen


Bild: Die zweiten 12 Sinne des Menschen

Über die Seele
Die Seele bei Platon

Es folgt ein Zitat aus dem Werk „Kleine Weltgeschichte der Philosophie“ von Hans Joachim Störig (S.182):

„Die menschliche Seele ist nach Platon dreigeteilt in Denken, Wille und Begierde. Das Denken hat seinen Sitz im Kopf, das Gefühl in der Brust, die Begierde im Unterleib. Das Denken, die Vernunft, ist aber allein der unsterbliche Bestandteil der sich beim Eintritt in den Leib mit den übrigen verbindet.

Die unsterbliche Seele hat weder Anfang, noch Ende und ist in ihrem Wesen der Weltseele gleichartig. Alle unsere Erkenntnis ist ein Wiedererinnern aus früheren Zuständen und Verkörperungen der Seele. „Weil nun die Seele unsterblich ist und oftmals geboren und alle Dinge, die hier und in der Unterwelt sind, geschaut hat, so gibt es nichts, was sie nicht in Erfahrung gebracht hätte, und so ist es nicht zu verwundern, dass sie imstande ist, sich der Tugend und alles anderen zu erinnern, was sie ja auch früher schon gewusst hat. Denn da die ganze Natur unter sich verwandt ist und die Seele alles innegehabt hat, so hindert nichts, dass wer nur an ein einziges erinnert wird, was bei den Menschen lernen heißt, alles übrige selbst auffinde, wenn er nur tapfer ist und nicht ermüdet im Suchen. Denn das Suchen und Lernen ist demnach ganz und gar Erinnerung.“

Solche Sätze haben die Vermutung entstehen lassen, Platon habe Gedanken der altindischen Philosophie gekannt.“ (Hans Joachim Störig: „Kleine Weltgeschichte der Philosophie“, S.182)

Und nu n lasse ich noch ein Zitat aus dem Werk „Geschichte der Philosophie – Band 1“ von Johannes

Hirschberger folgen:

„Die Seele ist für Platon, wie sich aus seiner Lehre über ihre Unsterblichkeit sofort ergibt, eine unsichtbare, immaterielle, geistige, überirdische Wesenheit, die Weltseele sowohl wie auch die Menschenseele. Das will gesagt sein mit der Erklärung, dass der Demiurg selbst sie bilde. Was er geschaffen hat, ist ein unsterbliches Wesen. Erst wenn sie auf die „Werkzeuge der Zeit“ verpflanzt wird, verbindet sie sich mit dem Körper, und erst jetzt entstehen die Sinneswahrnehmungen.

Die Immaterialität und Unsterblichkeit ist insbesondere das Thema des Phaidon; ihre überirdisch Heimat und Natur das Thema des Phaidros. Gegen die Immaterialität scheint zu sprechen, dass Platon auch eine Sinnenseele kennt. Die geschaffenen Götter nämlich, so sagt er, „bildeten rings um die Seele den sterblichen Körper und gaben ihr den ganzen Leib zu einer Art Gefährt, zudem fügten sich ihm noch eine andere Art von Seele ein, die sterbliche, die Heimstätte gefährlicher und unvermeidlicher Erregungen, als da sind: erstens die Lust, die größte Verführerin zum Schlechten, dann der Schmerz, der Verscheucher des Guten, ferner Keckheit und Furcht, zwei unbesonnene Ratgeber, und der Zorn, der schwer zu besänftigende Unruhestifter, und die Hoffnung, die Mutter der Täuschung. All dem gesellten sich noch vernunftlose Wahrnehmungen und Leidenschaft alles wagender Liebe zu unlösbarem Bunde bei und bildeten so das Geschlecht der Sterblichen.“ (Tim. 69)

Die Rede von einer anderen, einer sterblichen Sinnenseele will nicht besagen, dass es im Menschen tatsächlich mehr als eine Seele gäbe, sondern meint nur, was Platon im Staat der drei Seelenteile heißt: Die Vernunft- oder Geistseele, die im reinen Denken und unsinnlichen Schauen aufgeht, die muthafte Seele, der die edleren Erregungen, wie Zorn, Ehrgeiz, Mut und Hoffnung zugehören, und die triebhafte Begierdenseele, in der der Nahrungs- und Geschlechtstrieb seinen Sitz hat sowie Lust und Unlust und das Ruhebedürfnis. Obwohl im Timaios diese Seelenteile sogar noch lokalisiert werden in Kopf, Brust und Unterleib, nimmt Platon doch nur eine einzige Menschenseele an. Der Mensch besteht aus Seele und Leib, nicht aus Seelen und Leib. Diese Einheit der Menschenseele ersieht man sehr anschaulich aus dem Phaidros, der die Menschenseele vergleicht mit der „zusammengewachsenen Kraft eines geflügelten Wagengespannes und seines Lenkers“ (Tim. 246ff.). Der Lenker ist die Geistseele, die beiden Rosse sind die zwei anderen Seelenteile, das Edlere der muthafte, das Unedlere der triebhafte Seelenteil.“ (Johannes Hirschberger „Geschichte der Philosophie – Band 1“, S.118-119)

Platon unterscheidet also eine dreifache Seele. Auch unterscheidet er zwischen drei Leibesgliedern.

Die drei Eigenschaften der „einen“ Seele, wie ich sie einmal nennen möchte, haben nun ihren Sitz in je einem Glied der „dreigliedrigen Leibesorganisation“:

Körper..........................Seele

Kopf.............................Verstand

Brust............................Wille/Gefühl

Bauch...........................Begierde

Im Okkultismus, der Anthroposophie und der christlichen Esoterik ist ein etwas anderes, aber nicht unähnliches Bild gebräuchlich:

Köper............................Seele...........................Geist

Kopf.............................Denken........................Imagination

Brust.............................Fühlen.........................Inspiration

Bauch...........................Wollen.........................Intuition

Die drei „Primärtätigkeiten“ der Seele sind ihr Denken, ihr Fühlen und ihr Wollen. Vergeistigtes Denken nennt der Esoteriker „Imagination“, vergeistigtes Fühlen „Inspiration“ und vergeistigtes Wollen „Intuition“. Auf diese Weise ergibt sich ein ganzheitliches Menschenbild, nämlich das Bild des Menschen als Köper, Geist und Seele (Trichotomie).

Es sei betont, dass über diese dreigliedrige Leibesorganisation im Okkultismus, in der Anthroposophie und in der christlichen Esoterik allgemein Konsens besteht.

Literaturhinweise:

- Hans Joachim Störig: Kleine Weltgeschichte der Philosophie

- Johannes Hirschberger: Geschichte der Philosophie

- Jüttemann, Sonntag, Wulf: Die Seele – Ihre Geschichte im Abendland

Die Seele bei Aristoteles

Ich lasse nun noch einmal einen Abschnitt aus dem Werk „Geschichte der Philosophie – Band1“ von Johannes Hirschberger folgen:

„Die allgemeine ontologische Problematik des Aristoteles verdichtet sich zu drei spezielle metaphysischen Problemen, den Fragen nämlich um Seele, Welt und Gott.

Das Werk, das Aristoteles über die Seele geschrieben hat, behandelt nicht wie die moderne Psychologie bloß die Bewusstseinserscheinungen, sondern das Leben überhaupt in seinem Grund

und seinen wesentlichen Eigentümlichkeiten; denn Seele haben heißt für die Alten soviel wie Leben

haben. In diesem Zusammenhang kommt natürlich dann auch zur Sprache, was die heutige Psychologie interessiert, die Sinnesempfindung, Phantasie und Gedächtnis, Vernunft und Denken, Streben und Wollen, weil die Welt des Bewusstseins eben mit dem Leben auftritt. Was Aristoteles über die Gefühle und Affekte denkt, trägt er in seiner Rhetorik vor.

Was ist Seele? Erscheinungsmäßig gesehen, wird sie wieder, wie schon bei Platon, als das Sichselbstbewegende bezeichnet. Die Seele macht das Leben aus bei Menschen, Tieren und Pflanzen;

Leben aber ist Selbstbewegung und darum ist auch die Seele wesentlich Selbstbewegung. Aber das Lebewesen besitzt nicht eine absolute Selbstbewegung. Es scheint nur so, als würde das Lebewesen sich ganz spontan bewegen. In Wirklichkeit wird seine Bewegung von der Umgebung verursacht, die die Nahrung liefert und damit Atmung und Wachstum sowie Sinneswahrnehmung und Streben möglich macht, wodurch die Ortsbewegung des ganzen Lebewesens sich ergibt, die uns dann von Selbstbewegung erst reden lässt. Da die Nahrungszufuhr als ein Teil der Natur in den großen Bewegungsprozess der Welt überhaupt eingereiht ist und insofern wieder von anderen „Erstbewegern“ abhängt, zeigt sich, dass die Seele, die das Lebewesen zum lebenden Wesen macht, nicht im eigentlichen Sinn Selbstbewegung genannt werden kann, sondern dies nur in einem relativen Sinn ist. (…)

Metaphysisch gesehen, lautet die Auskunft: „Seele ist die erste Entelechie eines organischen physischen Körpers.“ Welche Seele hiermit gemeint ist, wird sogleich zu erörtern sein. Zunächst zeigt sich, dass aus dieser Definition des Hylemorphismus spricht: Seele ist form des Leibes. Das philosophisch und auch biologisch Bedeutsame dieser Auffassung liegt in der damit vorausgesetzten Teleologie. Entelechie heißt bei Aristoteles soviel wie vollendet sein, das Ziel, den Zweck erreicht haben. Und das ist dann der Fall, wenn eine Wirklichkeit so geworden ist, wie es der Idee, durch die der Zweck gesetzt ist, entspricht. Seele meint darum die Idee und das Ganze, die Sinnhaftigkeit und den Zweckzusammenhang eines lebenden Körpers. Darum erklärt Aristoteles, dass der Leib um der Seele willen da sei, d.h., alles an ihm ist um des Ganzen willen, ist auf sein Ziel hingeordnet wie ein Werkzeug, womit wir den Ursinn des Begriffs des Organischen vor uns haben.

 

Bei dieser Frage ist zweierlei zu beachten. Einmal ist die Entelechie nicht eine eigene physische oder biologische Emergente, sondern Idee; „Logis“ und „Eidos“ eines organischen Körpers heißt sie bezeichnenderweise. Und zweitens dürfen wir nicht übersehen, dass für uns Heutige der Inhalt einer solchen Idee nicht so feststeht, wie er für Aristoteles feststand, für den die Formen nicht genauso, wie für Platon die Ideen, festgefügte Sinnzusammenhänge, „Substanzen“, waren. Für das griechische und überhaupt das antike Denken sind eben die „Gestalten“ etwas Selbstverständlicher.

Die Philosophen erläutern deren Erkenntnisgrundlagen durch den Begriff des Apriorischen oder der Wesensschau. Dass diese Gestalten immer mit sich selbst identische Einheiten sind, ist hier unbestritten, während in der Neuzeit gerade dies zum Problem wird, wieso innerlich zusammengehören soll, was wir in unseren Begriffen und Sinneswahrnehmungen an geistigen Inhalten verbinden. Die Antike wusste darum, was der Mensch ist, was Tier und was Pflanze. Für den modernen Menschen ist die Welt zerschlagen in Atome und Sinnesempfindungen, und er muss erst durch die „Erfahrung“ aus den Teilen ein Ganzes machen, wobei ihm die Erfahrung immer nur Tatsächlichkeiten, aber keine Notwendigkeiten zeigt. Auch die Seele ist hier nur ein Bündel von Inhalten, von denen man nicht weiß, warum sie zusammengehören sollen. Für Aristoteles aber ist sie Gestalt, ist Sinn und Zweckzusammenhang, ist die Ganzheit einer Körpers. Und eben durch diese sinnvolle Ganzheit wir der „lebende“ Körper zu dem, was er ist. Das ist das Wesen des Lebens.

Die Auffassung der Seele als Form des Leibes hat Aristoteles sich erst später angeeignet. Sie ist voll ausgebildet in „De anima“. In den Dialogen der Jugendzeit dagegen vertritt er den platonischen Dualismus. Leib und Seele verhalten sich wie zwei getrennte und feindliche Substanzen.

Sie sind nur äußerlich verbunden. Später sind Seele und Leib zwar einander nicht mehr fremd, sondern arbeiten zusammen, sind aber noch immer selbständige Wesen. Noch etwas später ist die Seele die Lebenskraft, die an irgendeiner Stelle des Leibes ihren Sitz hat. Auch die Physik steht noch auf diesem Standpunkt. Im 8. Buch heißt es, dass die Lebewesen keine eigentlichen Selbstbeweger sind; denn man könne in ihnen auch ein Bewegtes und ein Bewegendes unterscheiden, so wie auch Schiffe und Menschen keine physikalisch Einheit bilden, sondern in ihnen das Bewegende immer getrennt sei von dem Bewegten. Es ist das Beispiel, mit dem in der Neuzeit der Occasionalismus wieder seinen Dualismus von Seele und Leib illustriert hat. Erst in „De anima“ verschwindet die Zweiheit und verschmelzen Leib und Seele zu einer unio substantialis.

Die Seele ist als Ganzes im ganzen Körper, und der Mensch ist eine aus Leib und Seele zusammengesetzte einheitliche Substanz.

Analog der platonischen Lehre von den drei Seelenteilen unterscheidet Aristoteles eine vegetative Seele, die jene Wirklichkeit meint, die mit dem Wachstum, der Nahrungsaufnahme und der Fortpflanzung gegeben ist und sich rein und vollständig schon in der Pflanze findet; eine Sinnenseele, die die Fähigkeiten der Pflanzenseele einschließt, aber außerdem noch jene Wirklichkeit darstellt, in der es Sinnesempfindungen, niederes Strebevermögen und Ortsbewegung gibt und die erstmals im Tierreich auftritt. Diese niedere Seele des Wachstums und der Sinnlichkeit ist es, worin Aristoteles, ähnlich wie Platin (Tim. 77b), die Entelechie des Lebewesens als solchen erblickt, auch beim Menschen. Nur besitzt der Mensch außerdem noch die Geistseele, und sie erst macht ihn zum Menschen, zum animal rationale. Wenn Aristoteles von der Seele des Menschen spricht, unterscheidet er oft nicht weiter und kann beides meinen, die niedere Seele als Lebensprinzip oder die höhere Geistseele. Im Allgemeinen aber ist für ihn Seele des Menschen etwas, was beide Schichten umfasst, wobei das Geistige durchlägt und den ton angibt. Was Aristoteles darüber vorgetragen hat, ist auf Jahrtausende hinaus zum Gemeingut des abendländischen Denkens über Mensch und Seele geworden.“ (Johannes Hirschberger: Geschichte der Philosophie – Band 1“, S.209-212)

Aristoteles lehnt sich mit seiner Seelenlehre unmittelbar an Platon an. Der einzige Unterschied ist, dass er bei der mittleren Eigenschaft der Seele nicht von „Wollen/Fühlen“ spricht, sondern von „sinnlicher Wahrnehmung“. So weit gilt für Aristoteles, was schon für Platin galt.

Aber Aristoteles geht dann noch einen Schritt über Platin hinaus, indem er die dreifache Seele mit den (vier) Naturreichen in Verbindung bringt:

Mensch........................intelligible Seele

Tier..............................animale Seele

Pflanze.........................vegetabile Seele

Mineral

Daraus ergibt sich ein ganz neuer Zusammenhang, bei dem der dreigliedrige Mensch bereits beginnt, in einen viergliedrigen Menschen überzugehen. Es sei aber besonders betont, dass dieser Zusammenhang bei Aristoteles nur „exoterisch“ gegeben ist. Der eigentliche „esoterische“ Zusammenhang weicht dann allerdings davon ab.

Körper.........................Seelentätigkeit..............Seele................................Naturreich

Kopf............................Denken.........................intelligible Seele...............Mensch

Brust............................Fühlen..........................animale Seele...................Tier

Bauch..........................Wollen..........................vegetabile Seele...............Pflanze

Der Okkultismus, die Anthroposophie und die christliche Esoterik stellen den rein „exoterischen“ Zusammenhang der viergliedrigen Menschen nun wie folgt dar (Der Zusammenhang kann hier nur angedeutet werden. Man betrachte ihn als reine Analogie…):

Ich................................intelligible Seele..........Mensch

Astralleib.....................animale Seele...............Tier

Ätherleib......................vegetabile Seele...........Pflanze

Physischer Leib................................................Mineral

Daraus ergibt sich die gleich folgende Übersicht über den Menschen und seine Leibesorganisation, wie sie „exoterisch“ gegeben ist. In der Regel besteht darüber Konsens. Es sei aber nicht einmal betont, dass der eigentliche „esoterische“ Zusammenhang noch ein etwas anderer ist.

Körper.........................Seelentätigkeit..............Seele............................Geist

Kopf............................Denken..........................intelligible Seele.........Imagination

Herz.............................Fühlen..........................animale Seele...............Inspiration

Bauch..........................Wollen..........................vegetabile Seele...........Intuition

Literaturhinweise:

- Hans Joachim Störig: Kleine Weltgeschichte der Philosophie

- Johannes Hirschberger: Geschichte der Philosophie

- Jüttemann, Sonntag, Wulf: Die Seele – Ihre Geschichte im Abendland

Die Seele bei Plotin

Ich lasse nun einen kurzen Abschnitt aus dem Werk „Kleine Weltgeschichte der Philosophie“ von Hans Joachim Störig folgen (S.228-229):

„Obwohl die Historiker drei Perioden in Plotins Entwicklung unterscheiden, kann man das Kernstück seiner Lehre wie folgt beschreiben:

„Was war es doch, was die Seelen veranlasste, Gottes, ihres Vaters, zu vergessen und ihn, an dem sie Anteil haben und dem sie ganz angehören, und mit ihm sich selbst nicht mehr zu kennen? – Der Anfang des Unheils für sie war die Überlegung und der Werdedrang und der erste Zwiespalt und der Wille, sich selbst anzugehören. Und indem sie ihre Lust hatten an dieser Eigenmächtigkeit und sich immer mehr dem selbstischen Triebe hingaben, liefern sie den entgegengesetzten Weg, machten den Abfall immer größer und vergaßen, dass sie selbst von dorther stammen, Kindern vergleichbar, welche, früh ihrer Väter beraubt und lange entfernt von ihnen auferzogen, sich selbst erniedrigten, ein Fremdes verehrten, alles andere mehr als sich selbst hochhielten und dem Fremden mit staunender Bewunderung anhingen, brachen sie sich so arg wie möglich los und verachteten das, wovon sie sich abgewandt hatten. – Darum muss eine zweifache Rede ergehen an die, welche in dieser Lage sich befinden, ob es wohl gelingen möchte, sie zu bekehren zu dem Entgegengesetzten und Ursprünglichen und sie emporzuführen zu dem Höchsten und Einen und Ersten…“ (Enneaden V, 1.1.)

Diese Einleitungssätze aus der fünften Enneade lassen deutlich den oben schon angedeuteten Grundgedanken erkenne, der übrigens der Lehre des Philon von Alexandria verwandt und auch von diesem beeinflusst ist. Das Eine, das Erste, das Ewige, das Höchste, das Gute, das Übergute, oder wie immer Plotin das göttliche Wesen benennt, steht ihm, noch schroffer, als bei Philon, jenseits aller Gegensätze und aller Fasslichkeit. Nicht nur – wie bei jenem – würde es seiner Würde widersprechen, wenn es mit der Materie in unmittelbare Berührung träte – es ist überhaupt unvorstellbar, dass es jeweils etwas begehren oder tun könnte, denn es ist in sich vollendet und ruhend. Das heißt, die Welt kann nicht durch einen Willensakt sein. Wie aber dann? Das höchste Wesen „strömte gleichsam über und seine Überfülle schaffte das andere“. Wie die Sonne (so glaubt man) wärme ausstrahlt, ohne dadurch von ihrer Substanz etwas zu verlieren, so strahlt das höchste Wesen, als einen Abglanz oder Schatten seiner selbst gleichsam, alles Bestehende aus.

Diese Ausstrahlung (Emanation) geschieht stufenweise. Es gibt eine Rangordnung der verschiedenen Seinssphären je nach ihrer Nähe zu Gott. Die erste Ausstrahlung – aber nicht in zeitlicher Folge, sondern nur dem Range nach, alles ist ein zeitloser Prozess – ist der Geist. Der göttliche Geist ist also – wie bei Philo – nicht Gott selbst. Dieser steht noch jenseits von ihm. Der Geist ist der Inbegriff aller im Sinne Platons verstandenen Ideen. Die nächste Ausstrahlung ist die Weltseele, die Welt des Psychischen. Zwischen dieser und der Welt der Materie, die als die unvollkommenste, von Gott am weitesten entfernte Erscheinungsform des Göttlichen, ja als das schlechthin Finstere und Böse hingestellt wird, stehen als weiter Zwischenglieder die Einzelseelen.

Das Verhältnis der individuellen Seele zur Weltseele beschreibt Plotin in einer Weise, die sehr an die indische Brahman-Atman-Lehre erinnert. Er sagt nämlich, dass die ganze Weltseele in jeder Einzelseele gegenwärtig sei. Jede trägt gleichsam das ganze All in sich. „Darum möge vor allem eine jede Seele bedenken, dass sie es war, welche alle lebenden Wesen erschaffen und ihnen das Leben eingehaucht hat, allem, was die Erde ernährt und das Meer und die Luft, dazu auch den göttlichen Gestirnen am Himmel, dass sie es war, welche die Sonne und diesen großen Himmel erschaffen hat, sie, welche ihn ordnete und in seiner Kreisbewegung herumführt, sie, welche eine noch höhere Natur ist als alles, was sie ordnet und bewegt und beseelt.“ (Hans Joachim Störig: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, S.228-229)

Literaturhinweise:

- Hans Joachim Störig: Kleine Weltgeschichte der Philosophie

- Johannes Hirschberger: Geschichte der Philosophie

- Jüttemann, Sonntag, Wulf: Die Seele – Ihre Geschichte im Abendland (S.43-58)

- Plotin: Enneaden

- Susanne Möbuß: Plotin zur Einführung

- Jens Halfwassen: Plotin und der Neuplatonismus

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