Der Gott des Zwielichts

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Der Gott des Zwielichts
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Joachim Kurtz

Der Gott des Zwielichts

Impressum:

Copyright © 2021 Joachim Kurtz

c/o Block Services

Stuttgarter Str. 106

70736 Fellbach

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Philippe Nix, Renate Nix und Patrick Weber

Covergestaltung und Illustration: Joachim Kurtz

Inhalt

Faowgh

I

I.1

I.2

I.3

I.4

I.5

II

II.1

II.2

II.3

II.4

II.5

II.6

II.7

III

III.1

III.2

III.3

III.4

III.5

IV

IV.1

IV.2

V

V.1

V.2

V.3

EPILOG

Faowgh der Drache lebte tief im Wald.

Er war alt. Älter als alles andere. Älter als das Gras, älter als die Bäume, älter als die bemoosten Felsen und die klirrende Winterluft; er war älter als die Höhle die er bewohnte und viel, viel älter als der Wald. Er war auch älter als die Sonne, älter als die Nacht, und einige sagen, er war älter als die Welt selbst. Er war so alt, wie nicht einmal er es wußte.

Sein traumloser Schlaf trieb Wurzeln jenseits der Zeit, verzweigte sich in alles was war oder je sein würde. Sein lidloses Auge schloß sich nie. Kein Sterblicher hätte es vermocht, seinen Blick zu ertragen; die lange, senkrechte Pupille war ein Tor zu den allumfassenden Abgründen, eine klaffende Spalte ins Chaos, ein Sog aus Finsternis, Kälte und Wahnsinn, dem niemand entkam. Aber sein Atem war Feuer. Niemand hätte sich ihm nähern dürfen, das glitzernde Spiel seiner Schuppen zu bewundern, ein stetiger Fluß vom Kopf bis zur äußersten Schwanzspitze, getragen von der leisesten Regung unter der Haut. Und doch sah es jeder beim Anblick einer bewaldeten Bergflanke im gleißenden Sonnenlicht, wenn die Luft durch die Blätter strich und Silber mit Grün verwirbelte, und seine Donnerstimme erreichte jeden, der das Brüllen der tosenden See oder eines in die Tiefe stürzenden Wasserfalls vernahm.

Trotz allem war Faowgh verwundbar.

I

Der Hang war steil,

die Stämme von hohem und schlanken Wuchs, und um die bastgeschnürten Fellstiefel der leicht gebeugten Gestalt, die mit weit ausholenden Schritten bergan stapfte, raschelte das Laub vom Vorjahr. Das einzige noch vorhandene Grün trugen die Kiefern, die vereinzelt zwischen den Buchen und weniger zahlreichen Eichen aufragten. Die Wintersonnwende lag mehr als zwanzig Tage zurück, und wer dafür sehr empfänglich war, nahm bereits eine leise, ganz leise Veränderung in der Länge des Tages gegenüber der Nacht wahr. Aber Kälte und Frost waren noch lange nicht überstanden, das heißt eigentlich hatten sie erst begonnen, auch wenn es gerade trügerisch milde war und kein Schnee lag. Der Himmel war überzogen von gleichmäßigem Grau. Ein matter, schwefliger Glanz drang durchs Geäst und legte sich fahl auf die Stämme, wenn der Schleier sich ab und an etwas lichtete.

Der einsame Wanderer schien seinen Weg zu kennen, zielsicher schritt er voran und zog kurze Furchen durch das knöchelhohe Laub, das gleich darauf wieder in sich zusammenfiel. Er schien kräftig und hochgewachsen, zäh wie Wurzelholz, und ein breiter, dichter, von stahlgrauen Strähnen durchzogener Bart wucherte in seinen Umhang hinein, der über der Brust von einer silbernen Spange zusammengehalten wurde. Die Kapuze hatte er zurückgeschlagen. Alle zwei bis drei Schritte stieß er die Spitze seines knorrigen Wanderstabs, der lang genug war um leicht seine Schulter zu überragen, fest in die Erde.

Dabei sah er keineswegs aus, als ob er einer Gehhilfe bedürfe. Niemand hätte sagen können, wie lange er wohl unterwegs gewesen sein mochte, aber er schien nicht müde. Andererseits mußte er von weither gekommen sein, denn in einem Umkreis von zwei Tagesmärschen gab es nicht die geringste Spur menschlicher Besiedlung, geschweige denn eine Unterkunft, die ihm hätte zur Rast dienen können. Auch trug er kein Marschgepäck, es sei denn er hatte noch etwas unter seinem grobgewebten Umhang verborgen. In seinem Blick lag Entschlossenheit, wenn auch überschattet von einer gewissen Melancholie. Dunkles Haupthaar teilte sich rechtsseitig an seiner Stirn und floß ihm dick, aber ungleichmäßig verteilt über die Schultern.

Er beschritt den Hang in einer Zickzacklinie, ging aber nach links immer ein gutes Stück weiter als nach rechts, und mit deutlich weniger Steigung, so daß er nur langsam an Höhe gewann. Stetig arbeitete er sich in westlich-nordwestlicher Richtung zwischen den Bäumen voran. Abgesehen von einigen Haselsträuchern war nur wenig Unterholz vorhanden, das weiter unten im Tal wesentlich dichter wuchs.

Dort angekommen, wo die Bergflanke sich sanft zur anderen Seite hin wölbte und einen kaum merklichen, abfallenden Grat bildete, machte er halt. Er schien auf etwas zu lauschen, aber nicht auf den schnarrenden Ruf der Krähe, der aus geringer Entfernung zu vernehmen war. Sein Blick war einwärts gerichtet. Weil er aber dastand wie ein Fels, schien er nicht in sich selbst, sondern vielmehr tief ins Innere des mit ihm wie verwachsenen Erdreichs zu blicken. Dorthin waren jetzt in der Tat alle seine Sinne gerichtet. Er verharrte unbeweglich wie ein Standbild und hielt seinen Stab frei über den Boden. Lange stand er so. Bis er den Stab mit einer plötzlichen Bewegung abwärtsrammte. Und dann noch einmal. Und, mit aller Kraft, ein drittes Mal.

Der dritte Stoß blieb nicht unbeantwortet. Von weit her war ein dumpfes Grollen zu vernehmen, tief aus den Eingeweiden der Erde, und fast zeitgleich erschauerte der Berg. Der Boden bebte nur leicht, und doch setzte sich das Zittern an den Baumstämmen fort, lief wie eine Welle bis hinauf in die Kronen und in die äußersten Zweige. Vereinzelt segelten dürre Blattreste zu Boden, fielen abgestorbene Kiefernnadeln herab. Der Wald wurde aus seiner Winterruhe aufgeschreckt. Der Eichelhäher pfiff, und ein Eichhörnchen huschte verschreckt über nackte Äste.

Der Wanderer wandte wie suchend den Kopf. Dann, nach einem kurzen Moment des Zögerns, hielt er auf eine Felsspalte zu, die sich im Schoß des vor ihm hingebreiteten Hanges geöffnet hatte, jetzt nicht ohne Anzeichen leichter Erschöpfung.

Er tastete sich voran an trockenen, frisch geborstenen Wänden. Entlang unzähliger Windungen ging es tief ins Innere des Bergs. Bereits wenige Schritte nachdem er den Eingang hinter sich gelassen hatte, herrschte pechschwarze Finsternis. Kein Laut der Außenwelt drang mehr herein. Weiter und weiter ging es hinab, Biegung um Biegung wand sich der klammenge Weg in den Fels, sinnverwirrend, weil ohne jeden Anhalt zur Orientierung.

Wer jedoch die Fähigkeit besitzt, mittels Stockschläge den Schoß der Erde zu sprengen, oder eine andere Macht dazu zu bewegen ihn in seinem Namen zu öffnen, der ist sicher auch sonst auf keine gewöhnlichen Mittel angewiesen. Irgendwann, nach einer schier endlosen Wegstrecke, begann sich die rechte Felswand immer mehr herabzuneigen, bis die Enge erdrückend wurde. Der Spalt hatte jetzt eine leichte Schräglage und wurde so schmal, daß man sich nicht einmal mehr hätte umdrehen können. Dann schien auf einmal gar kein Durchgang mehr vorhanden zu sein, als die Wände so weit zusammenrückten, daß kaum mehr eine Hand dazwischen paßte. Genau an dieser Stelle war aber auch ein Luftzug zu spüren.

Eine Donnerstimme hallte mit solcher Macht durch den Fels, als ob sie allein den Durchgang sprengen sollte:

 

„Faowgh!!!“

Dumpf setzte sich das Echo auf der anderen Seite des Spalts fort und verlor sich in der Weite einer Felshalle gewaltigen Ausmaßes. Sonst war keine Antwort zu vernehmen, aber dafür begann sich der Felsriß nach und nach glutrot in der Dunkelheit abzuzeichnen, wie eine Ader schmelzenden Erzes.

„Faowgh!“ brüllte der Besucher erneut. „Laß mich ein, du stinkende Schlange! Du bist der einzige Gebieter an diesem Ort. Nur dir gehorcht das Skelett der Erde, das weißt du genau.“

Das Schauspiel vollzog sich als das, was es im Grunde war: ein Erwachen. Die rubinrot gewordene Lichtader veränderte weiter ihre Farbe, langsam, aber stetig. Fast blendend drang es jetzt durch den engen Spalt, ein orangegelber Widerschein, der die ruppigen Ausformungen der Felswand betastete, sie aus der schwarzen Einförmigkeit herausmodellierte. Und eine weitere Stimme ertönte. Nicht laut, nicht ohrenbetäubend, aber dunkel und alles durchdringend, alptraumhaft nah, ein langgezogenes Grollen aus den Tiefen einer Kehle, deren entsetzliche Vorstellung allein genügt hätte, einen Mann um den Verstand zu bringen. Lange rollte die ungeheure Stimme dahin, bis sie schließlich am Ende einen deutlich verständlich Namen artikulierte:

„Rrrrrrrrrrrrakhmyr......“

„Ja, ich bin es“, donnerte es zurück. „Rakhmyr. So nennt mich dein Volk, Faghnar das meine. Und nun öffne den Spalt und laß mich hinein. Hast du mich etwa nicht gerufen? So zwinge mich auch nicht, in Gestalt einer Maus vor dich zu treten....“

Noch immer tat sich nichts, wurde dem Verlangen des Besuchers nicht stattgegeben. Der Herr dieses Ortes schien seine Macht auszukosten. Wieder ertönte das Grollen, das der, dem es galt, als hämisches Lachen zu deuten wußte.

„Faowgh“, klang es jetzt fast wie eine Bitte, „im Namen des Feuers, das du hütest, und im Namen von Ghléan, geachtet von dir und den deinen: öffne den Fels und laß mich ein!“

„Ha! in Gestalt einer Maus“, tönte es höhnisch zurück. „Das sähe dir ähnlich, erbärmlicher Vagabund. Passen würde es jedenfalls zur Farbe deines Gewands. Aber bitte – “ Auf die letzten Worte folgte ein sengender, weißglühender Blitz, und mit einem letzten, betäubenden Krachen barst die Öffnung auseinander. „Niemand soll sagen dürfen, Faowgh wüßte Gäste nicht zu empfangen.“ Faghnar wartete, bis auch die letzten Gesteinsbrocken herabgepoltert waren und betrat so befreit die Halle.

Und stand endlich vor ihm: Faowgh, dem Gewaltigen, dem Einzigen seiner Art. Und er sein Rivale.

Es waren die Augen, die leuchteten. Seitlich am Kopf sitzend, verströmten sie Glutlicht wie das einer Esse. Faghnar war auf einem erhöhten Felsvorsprung in die Halle getreten, und Faowghs linkes Auge war das erste was er zu sehen bekam, da es sich auf gleicher Höhe mit ihm befand. Er schlug seinen Mantel enger um sich und schritt darauf zu. Was leuchtete, waren die vorstehenden Augenbälle, und obwohl ihr Licht die Felshalle fast bis in die letzten Winkel erhellte, war es nicht grell. Aber mitten in dem Leuchten stand die Pupille, mannshoch, oben und unten spitz zulaufend, ein pechschwarzer Spalt von Dunkelheit in einem Meer von Licht, eine Bresche zu den Abgründen unsagbarer Finsternis. Unterhalb der Augen rundeten sich mit weitem Schwung die Backenknochen, und darunter wiederum waren Schädel und Unterkiefer ineinander gefügt. Zwei Reihen spitzer, ungleichmäßiger, elfenbeinfarbener Zähne verliefen weithin bis zur Kopfspitze, wo sich die Nüstern blähten. Wie ein schmaler, roter Bach schlängelte sich die Zunge über die Zahnpalisade und gabelte sich am Ende.

Der Drache verharrte bewegungslos, und Faghnar ließ sich furchtlos nieder. Genau dem Auge gegenüber setzte er sich, so nahe, daß er es mit der Spitze seines Stabes hätte berühren können.

Eine ganze Weile geschah nichts. Keiner von beiden hatte auch nur die geringste Eile. Faghnar wandte den Kopf nach rechts und ließ den Blick über Faowghs langen, massigen, gewunden daliegenden Körper gleiten, der das Innere des Berges wie dessen äußeres Abbild durchzog. Er genoß einen Anblick, wie er nur den wenigsten je vergönnt war: Myriaden und Abermyriaden von Schuppen glitzerten smaragdgrün vom Rumpf und von den Gliedmaßen, brachen das aus den Augen strömende Licht und ließen den Widerschein ringsum über die Felswände tanzen. Eine lange Reihe knochiger Zacken krönte den Körper, schlängelte sich wie ein zerklüfteter Bergkamm vom Kopf her über den Rücken, aus dem Nacken heraus mählich ansteigend, bis sie etwa über den Lenden den höchsten Punkt erreicht hatte und von da aus sanft wieder abfiel, um als Aneinanderreihung zahlloser kleiner Zinnen dem Schwanz bis an die eingeringelte Spitze zu folgen. Zwischen den muskulösen Beinen lag gefaltet ein ledriger Flügel, der ausgebreitet an den einer gigantischen Fledermaus erinnert hätte. Jede seiner vier knöchernen Streben, wie auch die Spitze an der sie miteinander verwachsen waren, liefen zu einer scharfen Kralle aus. Der gegenüberliegende Flügel war nicht zu sehen, der dazwischenliegende Rumpf verdeckte ihn.

Schließlich war es Faowgh, der das Schweigen brach:

„Es ist lange her, seit wir uns zuletzt begegnet sind, Rakhmyr…. sehr lange!“

„Oh ja, alter Freund, eine lange, lange Zeit. Selbst für unsereinen.“

„Aber keiner von uns würde je vergessen, nicht wahr?“

„Das will ich meinen!“

„Weder du noch ich.“

„Und du sicher am wenigsten.“

„Nicht ohne Grund, wie du weißt.“

Faghnar sinnierte vor sich hin. Seinem geschuppten Gastgeber war keine Regung anzumerken, aber wenn es irgendwen gab, der ihn kannte, dann er, Faghnar. Stille umfing sie, tief wie ein See. Die Erinnerung trieb darin wie ein Schatten. Sie war ihnen beiden gemeinsam und verband sie wie eine Brücke, war beredter und lebendiger als jedes Gespräch. Auge war auf Auge gerichtet, aber dazwischen standen die Bilder. Faghnar hielt mit geballten Fäusten den Stab, den er vor sich auf den Knien liegen hatte, wie zur Abwehr einer Gefahr.

„Nun“, nahm er den Faden wieder auf, „weshalb hast du mich gerufen? Dein gräßliches Knurren drang bis in die entferntesten Täler und die Ebene, ich hörte es durch die Winterstille, als es den Reif von Halmen und Ästen vertrieb. Unter jedem Stein, den ich umdrehte, konnte ich es hören. Der Bhréandyr beschleunigte seinen Lauf. Und eine Natter sah ich ihr Nest verlassen, das war das untrüglichste Zeichen, eine Schlange, mitten im Winter! Die Richtung in die sie floh wies mir den Weg, ich brauchte nur entgegengesetzt zu gehen….“

„Und du hast nicht gesäumt, wie ich sehe.“

„Dazu hatte ich auch keinerlei Anlaß.“

„Nein?“

„Ich hatte auf deinen Ruf gewartet.“

„Du wolltest mich sehen?“ fragte Faowgh listig.

„Tu nicht, als wüßtest du es nicht!“

Faghnars Stimme verriet Ärger. Erst nach einer Weile fuhr er fort:

„Etwas Seltsames geht vor sich. Im Herbst fand ich Aufnahme bei einem Flußfischer und Fährmann. Er und sein Weib bewohnen eine ärmliche Hütte am diesseitigen Ufer des Bhréandyr. Ich brauche dir nicht zu sagen, was für ein hartes Leben sie führen. Es gab wenig Lachse dieses Jahr, fast sah es so aus, als würden sie ganz ausbleiben. Die Steuern dagegen drücken wie immer. Und mehr noch als sonst, denn der Großkönig führt Krieg gegen die Stämme im Osten….“

„Ja!“ fiel ihm Faowgh grimmig lachend ins Wort. „Seltsames geht vor sich, da hast du recht. Ammen und alte Weiber verlernen die Kunst des Erzählens. Die Vandrimar vergessen, daß auch sie einst von Osten kamen. Hat Mraeghdar an den langen Winterabenden nichts von den Taten der Alten vernommen? Mangelt es ihm an Barden, die davon singen? Oder ist es Neid auf ihren Ruhm, der ihn plagt, so daß er eigene Siege erkämpfen muß?“

„Mraeghdar ist jähzornig und grausam“, versetzte Faghnar. „Ich liebe ihn nicht. Einmal sah ich, wie er ein Pferd erschlug weil es lahmte. Was sage ich, ein Pferd – das edelste Roß aus seinem Gestüt! Als der Marschall, der es herangezogen hatte, weinend vor ihm auf die Knie fiel und ihn bat, das Tier zu verschonen, geriet der Herrscher vollends außer sich. ‚Du bettelst um Milde für eine Mähre?’ brüllte er ihn an. ‚Nimm den Gäulen die Arbeit ab, wenn du so um sie besorgt bist!’ Darauf ließ er ihn nackt vor einen Pflug spannen, den er ihn über ein distelbewachsenes Brachfeld ziehen hieß, und peitschte ihn dabei halb zu Tode.“

Faghnar hielt einen Moment inne.

„Zu solchen Schandtaten ist Mraeghdar fähig, und zu schlimmeren. Aber die Feindschaft mit den Stämmen im Osten hat er nicht gesucht. Es waren die Feinde, die ihn gesucht haben, ihn und sein Volk, zu dessen Schutz er verpflichtet ist.“

„Die Vandrimar sind Krieger und stolz darauf“, entgegnete Faowgh. „Wollen sie ihr Handwerk nicht verlernen, brauchen sie Feinde; die Bedrängten von einst sind zunichte, und ihr Platz ist es, den sie eingenommen haben.“

„Sie sollten ihren Bedrängern dankbar sein, meinst du?“

Das Schweigen des Drachen faßte Faghnar als Bestätigung auf.

„Und auf ihre Art sind sie es“, stimmte er selbst zu. „Aber du bringst mich von meiner Erzählung ab. Wie ich sagte: ein Flußfischer, in einer Biegung des Rymnaegh Bhréandyr. Zwischen Weiden am Ufer steht seine Hütte, auf Pfählen, hoch genug, um nicht überschwemmt zu werden, wenn im Frühjahr der Fluß die Ebene flutet. Zieht sich das Wasser dann wieder zurück, sammeln Eltern und Kind die Krebse von den Uferwiesen und aus dem Gesträuch….“ Bei den letzten Worten verdüsterte sich Faghnars Miene. „So pflegten sie jedenfalls zu tun. Der Fischer und seine Frau hatten eine Tochter. Hätte das Mädchen diesen Winter überstanden, wäre es ihr neunter gewesen. Es war ihr einziges Kind.“ Faghnar verlagerte seinen Oberkörper ein wenig nach vorne und stemmte seinen Stab wie eine Lanze zwischen den Knien auf, ehe er hinzufügte: „Und ihr einziger Reichtum. Was war sie für ein Geschöpf! Wie sie ihre dunklen Augen über den breiten, geröteten Wangen weitete, als sie mich zum ersten Mal sah. Die Locken fielen ihr wie bronzene Ringe über die Schultern, und leichter als ein Wiesel sprang sie zwischen den Bäumen herum. Sie war es auch, die mich fand.“

„Einen gewaltigen Schreck wirst du dem armen Ding eingejagt haben mit deiner borstigen Fratze….“

Faghnar schüttete sich aus vor Lachen.

„Ja, das mag wohl sein. Wie ein Blitz lief sie zu ihrem Vater, der mir kurz darauf mit der zitternden Kleinen an der Hand entgegenkam, argwöhnisch zunächst. Er fragte mich, wo ich herkäme, wo ich hinwolle, was meine Absichten seien. Ich gab mich als wandernder Korbflechter zu erkennen. Er prüfte mich weiter mit Fragen und abschätzigen Blicken, und es brauchte seine Zeit, bis sein Mißtrauen verflogen war. Und doch saß ich am gleichen Abend bei den Fischersleuten am Herdfeuer und teilte ihr ärmliches Mahl. Am schnellsten gewöhnte sich nach dem ersten Schrecken das Mädchen an mich, wie es Kindern eigen ist: eben bist du ihnen noch fremder als ein Reiter aus der Steppe, und im nächsten Augenblick hängen sie an dir wie eine Klette. Sie bettelte ihre Eltern an, mich bei ihnen bleiben zu lassen, und so geschah es.

In den folgenden Tagen half ich dem Mann beim Ausbessern seiner Fischwehr und zeigte ihm dabei viele Handgriffe. Er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, was er alles von mir lernte. Ich nahm dafür nichts als den Schlafplatz am Herd, und an Speise gerade so viel, wie die guten Leute für mich entbehren konnten. Sicher wäre ich den ganzen Winter bei ihnen geblieben, wenn nicht….“

„Wenn nicht?“

Faghnar strich sich den Bart und erwiderte Faowghs grimmen Blick.

„Es geschah, was nie hätte geschehen dürfen. Ein Unheil, das selbst ich nicht von der Familie abwenden konnte. Eines Morgens nach dem ersten Frost zog das Mädchen alleine los, Schlehen zu sammeln. Ich witterte nicht die geringste Gefahr weit und breit, so blieb ich zurück und schnitt Schilf, um das Dach auszuflicken. Der Fischer war den ganzen Tag damit beschäftigt, mit zwei Zimmerleuten Eichenstämme den Bhréandyr hinauf zu flößen. Es wurde Mittag, ich war mit Schilfschneiden fertig und die Kleine war immer noch nicht zurück. Die Mutter schien unbesorgt. Sie wußte, daß ihre Tochter ein Kind der Wälder war, tiefer mit ihren Geheimnissen und Gefahren vertraut als eine Wildkatze. Also machte ich mich daran, die schadhaften Stellen am Dach der Hütte zu beheben. Die Stunden verstrichen, das Mädchen kam immer noch nicht zurück, aber ich war weiterhin unfähig, das Unheil zu orten. Mein einwärts gewandtes Auge versagte. Allmählich wurde es Abend, das Ende eines kühlen, sonnigen Tages, der den Winter ankündigte, und als der westliche Rand des Himmels zu glühen begann wie ein Eisen in der Schmiede, sah ich Ghléan, meine Schwester. So wie ich sie am liebsten sehe: jung, eine Jägerin, mit ihrem silbernen Bogen das Firmament herabsteigend. Und da, genau in diesem Augenblick, durchbohrte es mich wie ein Pfeilschuß aus dem Hinterhalt.“

 

Faghnar krallte seine breiten, knochigen Hände um den Schaft und blickte zu Boden.

„Auch wußte ich sofort, daß jede Rettung zu spät kam. Ghléan war von jetzt an mein Auge, in dem sie sich spiegelte. Ihr Blick geht überall hin, wie du weißt. Ich erstarrte, als ich das Geschehene sah. Je mehr ich mir bewußt wurde, wie nahe das Kind schon gewesen war, desto hilfloser wurde ich in meiner Wut. So nahe, wie der Rabe mit dreihundert Flügelschlägen fliegt, und ich stand hier auf dem Dach und verrichtete die Arbeit eines Tagelöhners! Meine nächste Umgebung zerfloß in einem Nebel; ich sah nur das Kind, wo es lag. Es war die Stimme der Mutter, die mich wieder zu mir brachte. Sie war nun doch in Sorge und rief vom Rand der Lichtung aus laut nach ihrer Tochter. Als sie vom Wald her keine Antwort erhielt, rief sie mich. Und, Faowgh, dies eine behalte für dich, wie groß unser Zwist auch sein möge: daß Faghnar sich schämte, den Blick eines einfachen Weibes als ein Lügner erwidern zu müssen. Ich verstellte mich wie die Spielleute, wenn sie Krieger oder niederes Volk unterhalten….“

„Das ist nichts Neues an dir“ unterbrach Faowgh.

„….und verschwieg somit, was ich bereits mit Sicherheit wußte. Die Frau blickte mich vertrauensvoll an. Sie las in meinen Zügen wie jemand der nicht weiß, ob seine Sorgen begründet oder unbegründet sind, aber doch eine Bestätigung für das letztere sucht. Gerade als sie mich alleine auf die Suche nach dem Kind schicken wollte, hörten wir die Stimme des Fischers, der froh war sein Floß am Ufer zu vertäuen, müde von seinem Tagwerk und sehnsüchtig nach dem wärmenden Herdfeuer. Als er vernahm, daß seine Tochter seit dem Morgen nicht aus dem Wald zurückgekehrt war, wurde er so fahl wie die Asche, die sein Weib jeden Morgen in den Fluß streut. Er verlor keinen Augenblick mit weiteren Fragen. Ich begab mich eilends mit ihm auf die Suche, nahm eine andere Richtung als er, wußte aber seine Schritte so zu lenken, daß er die Leiche des Kindes selbst finden mußte. Und dann….“

Faghnar seufzte.

„Dann hörte ich seinen Schrei.“

Gedankenverloren kratzte Faghnar mit der Spitze seines langen Stabes auf dem Boden herum, als wolle er damit Worte aus dem Fels stochern, um seine Erzählung fortzuführen.

„Ich kenne die Schreie der Menschen, Faowgh. Ich habe sie oft gehört. Ich hörte sie auf den Schlachtfeldern, wo das Morden tausendfach war, und ich hörte die Klage der Mütter um ihre gefallenen Söhne und geschändeten Töchter, oder wenn sie selbst den siegreichen Feinden anheimfielen. Aber nie, nicht einmal aus den Mündern der lebendig ins Feuer geworfenen, hörte ich einen Schrei wie den des Fischers, als er sein einziges Kind fand.“

„Warum tatest du nichts, ihm den Anblick zu ersparen?“ fragte der Drache. „Liebst du die Vandrimar nicht mehr?“

„Ich liebe sie mehr denn je. Aber was wäre durch Unwissen für den Mann gewonnen gewesen? Die nie sich erfüllende Hoffnung, seine Tochter eines Tages lebendig wiederzusehen? Die Barmherzigkeit einer Täuschung? Nein. Laß die Menschen der Wahrheit ins Auge sehen, selbst wenn sie daran zerbrechen! Nur wer die bittere Wahrheit erträgt, ist stark genug das Leben zu meistern.“

Nach einer Weile fuhr Faghnar fort:

„Sie war entsetzlich zugerichtet. Die Kehle klaffte weit und rot auseinander, zerrissen von einer gewaltigen Kralle. Es war nicht der glatte Schnitt einer Klinge, der sie durchtrennt hatte.“ Bei den letzten Worten verhärteten sich Faghnars Züge, und ein gefährliches Funkeln lag in seinem auf Faowgh gerichteten Blick. „Ich fand ihren Vater über sie gebeugt, ihren Kopf in seiner Armbeuge, er wiegte sie sanft hin und her. Sein Blick war gebrochen, aber noch trat keine Träne in seine Augen. Er hielt sie wie jemand, der sein Kind zum allerletzten Mal in den Schlaf wiegt. Er bemerkte zuerst gar nicht, daß ich neben ihn getreten war. Ganz langsam wandte er mir schließlich den Kopf zu, den Mund wie zum Weinen verzerrt, aber kein Laut drang aus seiner Kehle. Es dämmerte, fast wurde es schon Nacht, und wir hörten die Frau vom Waldrand her rufen. Schließlich überwand er sich und hob sachte das Kind vom Boden auf. Ich ging ihm voraus, der Mutter entgegen, um sie auf den Anblick vorzubereiten. Dafür bedurfte es keiner Worte. Als sie mich langsam und schweigend auf sie zutreten sah, fiel sie zunächst in eine ähnliche Starre wie zuvor schon ihr Mann, mit vor das Gesicht geschlagenen Händen. Dann sah sie den Vater mit dem toten Kind auf dem Arm hinter mir herschreiten und….“

Faghnar hielt in seiner Erzählung inne. Sein Blick ging ins Leere. Zweifellos hatte er manches aus seinem Bericht ausgelassen, als er nach einer Weile fortfuhr:

„Es war eine heitere, sorgenfreie Zeit, die ich den Fischern beschert hatte. Bis jener Mord geschah und ihr ein häßliches Ende setzte. Nie hat Faghnar jemandes Gastfreundschaft schlechter vergolten als durch seine Unachtsamkeit an jenem Tag. Wie konnte dies unter meiner Obhut geschehen?“ haderte er mit sich selbst. „Wie konnte ich mich so schändlich täuschen lassen? Ich, Faghnar, von dem die Menschen lernten, sich das Feuer dienstbar zu machen!?“

Er hielt inne und durchbohrte seinen Zuhörer mit einem herausfordernden Blick. Der Drache erwiderte ihn unbeeindruckt und schien nicht im geringsten bereit, auf eine Provokation einzugehen.

„Noch immer weiß ich nicht, welcher Art von Blendung ich erlag. Aber was geschehen ist, ist geschehen. Und es wird ewig an mir haften. Keine Vergeltung wird den Eltern je ihre Gram nehmen können. Wölfe geben ihr Leben hin, um das ihrer Welpen zu sichern. Was könnte es da für die Menschen schlimmeres geben, als den Tod ihrer eigenen Nachkommen beweinen zu müssen?

Die Fischer bahrten das Kind in der Hütte auf“, setzte Faghnar seine Erzählung fort, nachdem er eine Weile dumpf vor sich hin gebrütet hatte. „Der Frost dauerte an. Das Herdfeuer ließen sie während der folgenden Tage beinahe erlöschen, aber die Frau streute getrockneten wilden Thymian auf die spärlich flackernde Glut. Das Mädchen lag zugedeckt bis zur Brust, und der Hals war mit Birkenrinde umwickelt, so daß die gräßliche Wunde nicht zu sehen war. Der Mund war ganz leicht geöffnet, und die Augen hatte ihr der Vater geschlossen als er sie fand. Näher hätte ihr Anblick dem eines schlafenden Kindes nicht kommen können. Die Fischer sind zähe Leute und das Weinen nicht gewöhnt, weswegen ihre Tränen bald versiegt waren. Aber die Stille, steinern und kalt wie der Schmerz den sie in der Brust trugen, erfüllte die Hütte wie die lauteste Klage. Tag wurde zu Nacht, auf Nacht folgte Morgen, und immer wachte jemand neben dem Leichnam. Oft saßen der Fischer und ich Seite an Seite. Einmal brach er sein bitteres Schweigen mit den Worten:

‚Du bist ein Wanderer und kommst viel herum. Sag mir: hast du je eine Wunde gesehen wie die, welche die Kehle meiner Tochter durchtrennt?’

Ich verneinte, der Wahrheit gemäß.

‚Und hast du je von einem wilden Tier gehört, daß seine Jagdbeute liegen läßt ohne seinen Hunger daran zu stillen?’

Ich verneinte abermals. Wir waren im ersten Licht des folgenden Tages zum Ort des Überfalls zurückgekehrt, zu sehen, ob wir irgendwelche Spuren fänden. Die des Kindes verfolgten wir zurück, soweit sie uns in den Wald hineinführten, entdeckten aber nicht den geringsten Hinweis auf das fremde Wesen, das es getötet hatte. Einzig der gewaltsame Tod des Mädchens zeugte von seiner Existenz.

‚In harten Wintern sind wir hier oft vor den Wölfen auf der Hut’ sagte der Fischer, ‚aber dafür wäre es noch zu früh. Flußaufwärts gibt es eine Stelle, wo der Bär sich jeden Herbst Lachse fängt, was meiner Ausbeute in guten Jahren kaum schadet. Dieses Jahr mußte er wohl darben. Aber der Abdruck seiner Tatzen wäre nicht zu übersehen gewesen, wenn....’

Er ließ unausgesprochen, was er andeuten wollte, und ich stimmte ihm stillschweigend zu.

‚Was immer es war’ führte er seinen Gedanken schließlich zu Ende: ‚Es tötete meine Tochter um des Tötens willen. Aber warum? Gegen welchen Gott oder Dämon des Waldes haben wir uns nur verfehlt?’

Er erwartete nicht, daß ich es wüßte, schließlich war ich für ihn nur ein einfacher Korbflechter, so wenig mit tieferen Dingen vertraut wie er selbst. Allein, ich hatte seine Zuneigung gewonnen. Aber noch war es nicht Zeit, mich ihm zu offenbaren, zumal meine eigene Ratlosigkeit der seinen tatsächlich gleichkam.

Am folgenden Morgen erhob sich die Frau von ihrem Lager, kniete neben der Bahre nieder, streichelte ihrer Tochter noch einige Male zärtlich durchs Haar und ging dann zur Feuerstelle, wo sie lange sitzenblieb. Ich brachte ihr trockene Zweige und Äste und legte sie ihr vor die Füße, aber sie hatte schon von selbst verstanden, daß es Zeit war Abschied zu nehmen. So wischte sie sich zwei letzte große Tränen ab, die über ihr Gesicht rollten, und blies das Feuer an. Später an diesem Tag schichtete der Mann nicht weit vom Flußufer Reisig und Äste aufeinander, während sie an dem Kind die letzten Vorbereitungen zur Bestattung traf. Eine Puppe, die sie ihr einmal genäht, und ein Holzpferdchen, daß der Vater ihr geschnitzt hatte, waren die einzigen Grabbeigaben. Gegen Abend trugen wir den Leichnam hinaus und betteten ihn unter dem bleigrauen Himmel auf den Scheiterhaufen. Die Mutter schritt neben uns her und brachte Feuer in einem irdenen Gefäß. Sie stellte es am Fuß des Scheiterhaufens ab; wir sahen schweigend zu, wie der eisige Wind das Reisig entfachte, und im Nu loderten die Flammen mannshoch. Niemand wollte sehen, wie sie den vorzeitig seines Lebens beraubten Körper verzehrten, und so verbargen wir das Gesicht vor ihnen oder blickten starr zu Boden. Und während sie nach und nach herunterbrannten, wurden wir von der blauen Dämmerung eingehüllt.