Der Gott des Zwielichts

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Schließlich bückte sich die Frau und entzündete an der noch züngelnden Glut ein Talglicht, leicht genug, daß die Strömung des Flusses es auf einem breiten, flachen Korb aus Schilf trug, den ich eigens geflochten hatte. Vorsichtig bestieg sie damit das Floß, ihr Mann folgte ihr und stieß es vom Ufer ab, wo er es mit einem langen Seil vertäut hatte. Ich blieb wartend zurück. Als sie die Mitte des breiten Stroms erreicht hatten, empfahlen die Eltern die Seele ihres Kindes dem Bhréandyr, daß er sie sicher geleiten möge. Dann ließ die Mutter langsam, ganz langsam das Licht zu Wasser, und nachdem die Strömung es einmal erfaßt hatte, trieb es wie ein verirrtes Glühwürmchen durch die hereinbrechende Nacht. Ich sah, wie es sich flackernd entfernte und hinter der nächsten Flußbiegung von der Dunkelheit geschluckt wurde.“



„Und dafür bist du gekommen? Mich mit Begräbnisgeschichten zu langweilen?“



„Oh, ich bedaure sehr, daß ich nichts kurzweiligeres zu berichten habe; aber eigentlich kam ich ja in der Hoffnung, du würdest mir etwas erzählen.... Oder warum sonst hast du mich gerufen?“



„Das hat Zeit“, grollte es tief aus Faowghs Kehle. „Du bist doch nicht in Eile, Freund Rakhmyr?“



„Dann interessiert es dich vielleicht zu hören, was ich auf meiner weiteren Reise alles in Erfahrung brachte“, sprach Faghnar weiter. „Ich verließ die Fischer wenige Tage später, um flußaufwärts gen Kadhlynaegh zu ziehen. Ich sagte nicht Lebewohl, sondern machte mich in aller Frühe auf den Weg, als beide fest schliefen, noch immer erschöpft von den Tagen und Nächten des Trauerns. Aber ich hinterließ ihnen ein Abschiedsgeschenk, und ich bin sicher daß sie es als solches erkannt haben.



Bis ich die Stadt des Königs erreichte, stand der Mond wiederum im ersten Viertel. Ich reiste in vielerlei Gestalt, wie es meine Gewohnheit ist, und doch immer im gleichen Gewand. Bald war der Wald meine Straße, bald wanderte ich über die immer dichter besiedelten Auen. Zunächst legte ich meinen Weg bei Tag zurück. Nun ist mir während des langen Zeitalters seit Beginn meiner Wanderung an Gutem und Schlechtem alles von den Menschen widerfahren, was du dir auszudenken vermagst, außer dem einen: daß mich jemand nach Anbruch der Dämmerung noch durch seine Tür treten hieße. Denn das einfache Volk, mit dem ich am meisten verkehre, fürchtet die Nacht wie den ärgsten Feind, und mit ihr alle Kreaturen die sie hervorbringt. Aber diesmal kam es anders.



Ein alter Köhler, der die entlegenste Waldhütte in den Bergen südlich von hier bewohnte, fand mich nach Sonnenuntergang auf der Lichtung, wo er seinen Meiler hatte. Er war taub wie eine Nuß und schien etwas sonderbar, wie alle Menschen die so einsam und abgeschieden ihre Tage fristen. Aber seine Augen waren schärfer als die eines Habichts, jedenfalls auf eine gewisse Entfernung, und sogar im Halbdunkel. Er fürchtete sich kein bißchen; sobald er mich sah, rief er mich herbei und nötigte mich ohne Umschweife, bei ihm einzukehren. Die ersten Sterne funkelten wie geschliffene Gemmen am Abendhimmel, er sagte, es würde eine bitterkalte Nacht werden, und er wolle mich nicht draußen erfrieren lassen. Er meinte aber, noch eine weitere Erklärung für seine Gastlichkeit schuldig zu sein. Er fügte nämlich hinzu:



,Haeldwyr hat bereits ausgeschirrt, und Ghléan macht sich spät auf den Weg. Am frühen Morgen wärt Ihr mir weniger willkommen gewesen.’



So folgte ich ihm zu seiner Hütte, die geschützt hinter einem Bergvorsprung auf der Talsohle stand, nicht weit von der Lichtung entfernt. Dort teilte er seine dünne Nachtsuppe mit mir. Ich erwartete, daß er mich nach meinem Tun und Treiben ausfragen würde, aber er zeigte nicht das geringste Interesse daran, was draußen in der Welt alles vor sich ging. Ein anderes Leben als sein Köhlerdasein vermochte er sich gar nicht vorzustellen. Er hat das Handwerk von seinem Vater gelernt, und der von dem seinen. Er selbst ist kinderlos geblieben und seine Frau vor vielen Jahren davongelaufen, wahrscheinlich mit einem der Händler, von denen er im Tausch gegen seine Kohlen das nötigste zum Leben erwirbt. Menschliche Gesellschaft verabscheut er nicht, sie ist ihm vielmehr egal. Der Wald dagegen ist ihm Vater und Mutter. Er war die Wiege, der er entwachsen ist, und bald wird er das Grab sein, das ihn aufnimmt. Alle Dinge des Waldes, selbst wenn er sie nicht benennen kann, sind ihm seit jeher so bekannt, als gäbe es nichts anderes.



Als wir noch an der rußigen Feuerstelle beisammen saßen und einen Krug von seinem selbstgebrauten Met tranken, fragte ich ihn in Anspielung auf seine Einladung, oder besser darauf, wie er sie begründet hatte:



‚Wie kommt es, daß Ihr den Mond am Taghimmel mehr fürchtet als die Nacht ohne Mond?’



Er wandte den Kopf zur Seite, um mir das andere Ohr hinzuhalten, mit dem er etwas besser hörte, und forderte mich auf meine Frage zu wiederholen. Ich rief laut:



‚Ihr sagtet vorhin ganz richtig, daß der abnehmende Mond erst spät in der Nacht aufgeht. Weshalb hätte es Euch nicht behagt, mich am Morgen anzutreffen, wenn er noch hoch am Himmel steht?’



Er sperrte seinen mit wenigen gelben Zähnen bestückten Mund auf und blinzelte mich an, als hätte ich ihn gefragt warum Forellen nicht auf Bäumen wachsen. Dann schien ihm zu dämmern, daß ich sicher von weit her kam, von den Ufern des Bhréandyr vielleicht, den er nur aus Erzählungen kannte, oder womöglich von noch weiter weg. Und wie alle Fremden stellte ich seltsame Fragen. Er antwortete:



‚Haeldwyr verehre ich vor allen anderen Göttern. Er zeigt sich geradeheraus, wie er ist, sein Licht bringt den Tag und schärft meinen Blick. Ghléan und ihr Zwielicht sind dagegen verräterisch; immerzu wechselt sie ihre Gestalt, und weder bekennt sie sich zum Tag noch zur Nacht. Aber sie fürchte ich nicht. Was ich fürchte, sind die Wesen die mit ihr kommen und gehen....’



‚So, als hätten sie den Mond zum Taggestirn?’ warf ich ein.



‚Ich weiß ja nicht, wie Ihr es haltet’ sprach er weiter. ‚Aber Ihr seht mir nicht aus wie ein Mondwandler. Sucht Ihr nicht Zuflucht bei Nacht und geht Euren Geschäften dann nach, wenn die Sonne Eure Wege erhellt? So steht auch mir der Sinn. Der Mond mag kommen und gehen, wie er will: ich verrichte meine Arbeit bei Tag, und schlafe und wache mit Haeldwyr. Wenn Gnidhr ihm die Tore im Osten öffnet, bin ich meistens schon auf den Beinen, und spätestens wenn Haeldwyr seinen Wagen von Westen her wieder in die Unterwelt lenkt, zieht es auch mich unter mein Dach. Es sei denn, ich muß den brennenden Meiler bewachen. Im Wald aber wohnt manche seltsame Kreatur. Viele schlafen am Tag und kommen nachts aus ihrer Höhle, wie der Dachs. Und wieder andere richten sich nur nach dem Mond. Vor ihnen hüte ich mich am meisten.’



‚Und solche Wesen sind Euch begegnet?’ wollte ich wissen. Darauf kicherte der Alte wie ein erfahrener Haudegen, der sich in seinen Heldentaten sonnt und sich über die Unbedarftheit seiner Zuhörer lustig macht, vor denen er sie zum Besten gibt.



‚Ob sie mir begegnet sind?’ gluckste er. ‚Sie achten der Zäune und Wege, das ist unser Glück. Wo immer ein Feuer brennt und die Mitte einer Wohnung oder Arbeitsstätte bezeichnet, halten sie sich außerhalb der gesteckten Grenzen, der sichtbaren wie auch der unsichtbaren. Dem Auge entfliehen sie schneller als ein flinkes Wiesel, aber früher konnte ich sie oft hören. Und glaubt mir, ich spüre ihre auf mich gerichteten Blicke wie stechende Lanzen. Aber ihr Treiben ist unverläßlich und folgt keiner Regel oder festen Gewohnheit. Wenn sie auch nur mit dem Mond hervorkommen, so tun sie es längst nicht immer. Sie können mitunter Jahre ausbleiben, und ich bin überzeugt, sie wollen mich leichtsinnig machen und zur Unvorsicht verleiten. Aber so einfach ist der alte Bléaghwyn nicht zu überlisten. Sie haben es auf mich abgesehen, ja, denn sie wissen, daß ich zu gewissen Zeiten meinen Bereich verlassen muß, um gefälltes Holz beizuschaffen. Sie hoffen, daß ich den Mond vergesse und ihnen in die Falle laufe. Aber nicht mit mir, oh nein, nicht mit dem alten Bléaghwyn!’



Er kicherte weiter in sich hinein, und wer es nicht besser wüßte, hätte ihn in diesem Moment für verrückt halten mögen. Aber ich sah das Blitzen in seinen Augen, und es sagte mir, daß er wußte wovon er sprach.



‚Habt ihr je in irgendeiner Weise Schaden an ihnen genommen?’ fragte ich schließlich. Daraufhin kratzte er sich die weißen Bartstoppeln und sinnierte lange vor sich hin. Er schlürfte ein paar Mal an seinem Metkrug, ehe er weitersprach:



‚Ich war das dritte von vier Geschwistern. Meine Schwester, die älteste von uns, wurde in ihrem fünfzehnten Sommer einem Schmied zur Frau gegeben. Mit ihm zog sie weit weg, in die Ebene. Hernach habe ich sie nur noch zwei Mal gesehen. Mein jüngerer Bruder betrieb lange mit mir zusammen die Köhlerei. Noch vor der nächsten Sonnwende jährt es sich zum dreiundzwanzigsten Mal, daß er beim Aufstechen des Meilers eingebrochen und an den Brandwunden gestorben ist. Aber mein älterer Bruder....’



Er trank noch einen tiefen Zug, ehe er den Satz beendete:



‚Zwei oder drei Jahre, ehe sich die Schwester vermählte, ging er eines Morgens Gründlinge fangen und kam nicht wieder nach Hause....’



Es war nicht leicht, ihm die ganze Geschichte zu entlocken. Er erzählte sie stockend und verworren, auch wurde ihm die Zunge immer schwerer vom Met. Herauszuhören war aber, daß irgendwann die Schwester gelaufen kam und vor Entsetzen schrie, weil sie gesehen hatte daß der Bach Blut mit sich führte. Als man den Knaben talaufwärts suchen ging, fand man seinen entstellten Leichnam am Ufer liegend. Auch habe er an jenem Vormittag zum ersten Mal bewußt den Mond am blauen Taghimmel gesehen, sagte der Köhler. Es ist ihm unmöglich, diese Erinnerung nicht mit dem gewaltsamen Tod seines Bruders in Zusammenhang zu bringen.“

 



Faowgh sagte in die auf Faghnars letzten Satz folgende Stille hinein:



„Der Köhler spricht nicht schmeichelhaft von deiner Schwester.“



„Es wäre auch nicht recht, dies von ihm zu erwarten. Ghléan wandert über ihn hin, ein ums andere Mal, und achtet nicht seinergleichen und ihrer Geschicke. Vielleicht daß sie ihm etwas Licht spendet, in den langen Nächten wenn er auf der Hut sein muß, daß sein Meiler weder erlischt noch zu heiß wird. Und auch das nur, wenn ihr der Sinn danach steht. Kein Wunder, daß sie ihm launisch erscheint, und eins weiß ich sicher: sie selbst würde es ihm am wenigsten verdenken.“



„Und der Tod seines älteren Bruders.... gibt er nicht ihr insgeheim die Schuld?“



„Das habe ich so nicht verstanden. Er weiß von Wesen im Wald, darunter einige, von denen er sich bedroht fühlt. Er weiß, daß ihr Schlafen und Wachen vom Kommen und Gehen des Mondes bestimmt wird, und was ihn darauf brachte, ist eine schreckliche Erinnerung aus seiner Kindheit. Nun gibt es aber auch andere schädliche Kreaturen, die er meidet, und keineswegs alle lieben den Mond oder die Nacht. Etwa die Hornissen. Am gefährlichsten sind sie am hellen Tag und in der größten Sommerhitze. Im Schwarm können sie so todbringend sein wie ein Rudel Wölfe. Beschuldigt der Köhler nun Haeldwyr, daß sein strahlendes Licht die Hornissen hervorbringt und ihm auf den Hals hetzt? Nein. Stattdessen trifft er Vorkehrungen, ihren Weg nicht zu kreuzen. Die Sonne aber verehrt er als Lebensspender.“



„Und den Mond und dich selbst als vagabundierende Gaukler, in stets wechselnder Verkleidung?“



„Ob er Faghnar für einen Gaukler achtet, habe ich ihn nicht gefragt. Ich weiß nur, daß er einem müden Wanderer Herberge bot, als dieser kaum damit rechnen durfte.“



„Ob er ahnte, welch hoher Besuch ihn beehrte?“



„Wenn ja, so spricht dies für seinen Scharfsinn, und wenn nicht, ist seine Gastfreundschaft umso aufrichtiger zu werten.“



„Wenn er dich insgeheim erkannte, dann wußte er wohl auch, daß er einen Dieb unter sein Dach lud?“



„Denselben, dem er sein Köhlerfeuer verdankt.“



„Stolze, ruhmreiche Völker der Vandrimar! Sie schmelzen ihr Erz und sie schmieden ihre Waffen in dem Feuer, das sie der Arglist eines Unsterblichen zu verdanken haben. Was Wunder, daß sie ewige Habgier und Zwist auf sich luden!“



„Das gleiche Feuer, womit sie das Eisen hervorschmelzen, dient ihnen zum Brennen von Glas und Ziegel. Ihre Städte zeugen davon. Aus dem Eisen schmieden sie nicht nur Stahl für Schwerter und Lanzen, sondern auch Kessel, Faßreifen und Pflüge. Und aus dem Gold, das sie so oft gegeneinander aufbringt, fertigen sie dennoch Kunstwerke von großer Schönheit. Ebenso aus dem Silber. Was hatten die Laeghtrimar dem entgegenzusetzen?“



„Da hast du recht. Am wenigsten den Schwertern und Lanzen.“



„Ihre Feldfeuer taugten allenfalls für Kupfer oder Zinn, und der Wolf war ihr Rivale bei der Jagd. Die Vandrimar aber lernten den Boden zu pflügen und zähmten den Ur. Die Laeghtrimar konnten nicht gegen sie bestehen.“



„Ihr Stolz gab ihnen Bestand.“



„Sofern sie nicht Diener der Vandrimar wurden oder sich mit ihnen vermischten.“



„Warum nennst du nicht die Dinge beim Wort, Freund Rakhmyr: die Vandrimar versklavten sie und raubten ihre Frauen und Mädchen.“



„Die Laeghtrimar standen an einem Scheideweg. Das Zeitalter des Drachen ging zu Ende und ein neues kündigte sich an: das der Menschen. Sollten sie die Fackel entgegennehmen oder weiterhin einer Echse huldigen?“



„Denen, die mir die Treue hielten, fehlt es an nichts. Sie haben ihren Lohn. Die deinen dagegen fristen ein Dasein, das geprägt ist von Arbeit, Kampf und unsäglichen Mühen.“



„Den Preis ihres Sieges zahlen sie ohne zu murren, denn sie wissen: sie sind die Statthalter der Welt!“



„Der hiesigen Welt, Rakhmyr, allenfalls der hiesigen.“



„Von der so manche deiner Anbeter sich nicht lösen mögen, wie es den Anschein hat.“



„Das glaubst du?“



„Widerlege es, wenn du kannst!“ forderte Faghnar den Drachen heraus. Und da er nicht gleich eine Antwort erhielt, fügte er an: „Aber vielleicht ist das ja gar nicht dein Wunsch. So höre, was mir der Köhler noch verriet, ehe ich meine Reise fortsetzte. Es war am folgenden Morgen, daß er mir zum Abschied folgende Empfehlung mit auf den Weg gab:



‚Vergeßt nicht die Gefahren, die Euch abseits der Straße auflauern, und weicht um nichts in der Welt von ihr ab. Sucht lieber Herberge an einem bewohnten Ort, wenn Ihr nicht sicher seid, den nächsten vor Einbruch der Nacht zu erreichen. Und noch etwas: nehmt Euch zurück und stellt keinem Mädchen in den Wald nach – nicht, so lange Ghléan ihre Bahn nicht durchmessen hat! Haben die Waldfrauen Euch einmal betört, seid Ihr verloren. Glaubt mir, ich weiß wovon ich spreche, denn einmal war ich nahe daran. Nun nehmt den Weg, der Euch vom dortigen Rand der Lichtung aus zum Bach führt und folgt dessen Lauf. Nach wenigen Meilen kommt Ihr an eine Furt, und wenn Ihr Euch nicht allzu ungeschickt anstellt, könnt Ihr auf den herausragenden Steinen fast trockenen Fußes ans andere Ufer gelangen. Paßt aber auf, daß Ihr nicht ausrutscht. Auf der anderen Seite angelangt, führt Euch der Weg weiter bis zu einer Kreuzung. Dort geht in südöstlicher Richtung, um die Straße nach Kadhlynaegh zu nehmen. Und nun lebt wohl!’



Damit schritt er seinem Meiler zu, ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen, und ich machte mich auf den Weg. Es war ein kalter, sonniger Wintertag, aber noch immer war kein Schnee gefallen. Ich ging wie er mir gesagt hatte, den Bach entlang und über die Furt. Gegen Mittag war ich bereits auf der alten Straße nach Kadhlynaegh und noch immer keiner Menschenseele begegnet. Was nun die Warnung des Alten anging, wußte ich daß sie berechtigt war. Solange Ghléan mich begleitete, ließ ich mit ihrer Hilfe meinen Blick schweifen. Auch mein anderes, das einwärts gerichtete Auge, spähte so scharf es nur konnte. Aber nichts war zu entdecken, was meine Aufmerksamkeit erregt hätte. Von der Ebene bis weit hinter die Köhlerhütte ins Gebirge hinein, und im gleichen Umkreis nach Norden und Süden hin, fand ich nicht die geringsten Anzeichen von dem was der Alte mir beschrieben hatte.



Neun Tage später traf ich an Mraeghdars Hofsitz ein. Wie ich schon sagte, führt er Krieg; und er ist nicht wie sein Vorgänger, der es vorzog die Herzöge um das Feuer der Burghalle zu versammeln und seine Strategien im Schutz fester Mauern zu ersinnen, statt in den windgepeitschten Zelten des Feldlagers. Mraeghdar liebt seine Krieger, er ist einer der ihren und kämpft stets in vorderster Reihe. Sie verehren ihn mehr als die Schutzgöttinnen, denen sie vor der Schlacht zu opfern pflegen. Ich wußte, daß ich ihn in Kadhlynaegh selbst nicht antreffen würde, aber das war auch gar nicht der Grund meiner Reise. Ich machte sie vielmehr um ihrer selbst willen....“



„Hättest du auf deinen Wanderungen ein Ziel, wärst du ja auch kein Vagabund.“



„....denn um die Geschicke der Vandrimar lenken zu können, muß ich unter ihnen weilen und mich mit ihren Nöten vertraut machen. So streifte ich mehr durch die abseits gelegenen Dörfer und Gehöfte, als daß ich mich an die breite Heerstraße hielt. Was ich von dem Köhler in Erfahrung gebracht hatte, knüpfte direkt an das Erlebnis bei den Fischern an. Was nun diese mit jenem gemeinsam haben ist, daß sie ein sehr entlegenes Gebiet bewohnen, die Fischer weit flußabwärts, der Köhler tief in den Bergwäldern. Hier wie da verliert sich das Siedlungsgebiet der Vandrimar in der einst den Laeghtrimar abgetrotzten Wildnis. Weder der Mord, dessen unfreiwilliger Zeuge ich geworden war noch der, den mir der Köhler schilderte, wurden von Menschenhand verübt. Warum aber waren sich beide Greueltaten so ähnlich, zumal sie doch fast die Zeitspanne eines Menschenlebens auseinander lagen? Um herauszufinden, ob derlei sich etwa häufiger zutrug, war ich vor allem auf die Erzählungen der Waldbewohner angewiesen.



Es bedurfte großer Aufmerksamkeit, aus ihren üblichen Schauergeschichten das herauszuhören, was wirklich aufschlußreich war. Aber es lohnte sich. Ehe ich Kadhlynaegh erreichte, wußte ich von wenigstens fünf weiteren Vorfällen, von denen keiner länger als zwanzig Jahre zurücklag, darunter ein Doppelmord; man zeigte mir die Stelle im Wald, wo einmal zwei junge Liebende niedergemetzelt wurden, die sich dort heimlich im Schutz einer Klippe trafen. Die natürliche Farbe des Felsbodens war gelb, wie die der Klippe selbst. Bis auf da, wo ihn das eingesickerte Blut der beiden rostrot gefärbt hatte.



Von den anderen vier Morden waren wiederum zwei an Kindern verübt worden, nämlich einem Jungen, der seinen achten Sommer nicht mehr erlebte, und seiner etwas jüngeren Halbschwester (und wenn ich hier nicht auch von einem Doppelmord spreche, dann deshalb, weil das Mädchen mehr als zwei Jahre nach dem Jungen getötet wurde, und auch nicht am gleichen Ort). Jedenfalls hatte der Vater, ein Fellgerber, danach nur noch zehn Mäuler zu stopfen. Er war bereits zum dritten Mal vermählt, und seine jetzige Frau hatte ihm bisher zwei Töchter geboren, von denen eine das ermordete Mädchen war.



Die letzten beiden Morde betrafen einen Jungbauern und einen Hirten. Sie stammten aus zwei weit voneinander gelegenen Dörfern und kannten einander nicht. Außer ihrer Abkunft als Leibeigene hatten sie nichts miteinander gemeinsam.



Nun waren aber alle diese Morde nachts geschehen, oder doch wenigstens in der Dämmerung. Daß heißt, alle bis auf einen, nämlich den an der Tochter des Gerbers; denn wie das Fischermädchen, oder der ältere Bruder des Köhlers, lief auch sie auf der Suche nach Nahrung ihrem Mörder in die Hände. Den Menschen nahebringen zu wollen, weniger die Nacht zu fürchten als vielmehr Auf- und Untergang des Mondes im Sinn zu behalten, hatte meist Gleichgültigkeit zur Folge, wenn nicht blankes Unverständnis. Ich ließ es dennoch nicht unversucht. Und vielleicht“, fügte Faghnar spitz hinzu, „vielleicht wird sich nach einem der kommenden Morde doch der eine oder andere an die Worte jenes seltsamen Vagabunden damals erinnern, und was er von einem allein im Wald lebenden alten Köhler zu berichten wußte....“



„So hast du ihn tatsächlich ernst genommen?“



„Und schwerlich wirst gerade du mich überzeugen, ich hätte nicht gut dran getan.“



Faghnar hielt seinen Stab wieder aufrecht zwischen den Knien und verharrte ebenso schweigsam und regungslos wie sein Gegenüber. Direkt vor ihm klaffte die Pupille, als wollte sie ihn verschlingen. Nirgends auf der Welt lagen gleißende Helle und schwärzeste Finsternis, sengende Glut und lähmende Kälte so nahe beisammen, waren dichter miteinander verwoben als in dieser Berghalle. Faowghs magnetischer Blick verschmolz alle nur denkbaren Gegensätze, zog sie an sich und verströmte sie von neuem, war schwarzes Licht und brennendes Eis. Aber Faghnar war gegen diese alles verschlingende Macht gefeit. Daß Faowgh es wußte, schürte seinen Drachenzorn um so mehr; dies wiederum wußte Faghnar, und so las einer aus des anderen Blick.



Endlich, nach geraumer Zeit, fragte Faowgh:



„Was unternahmst du von Kadhlynaegh aus, nachdem du den König nicht antrafst?“



„Da ich, wie gesagt, seine Anwesenheit ohnehin nicht erwartet hatte, mischte ich mich auch dort zunächst unter das einfache Volk. Ich verkehrte mit Sklaven, Mägden, Knechten, Hausdienern aller Art. Sie, die die niedrigsten und alltäglichsten Arbeiten verrichten, sind fast überall zugegen; weil man sie aber so gering achtet, vergißt man oft ihre Anwesenheit oder sieht leichtfertig über sie hinweg, und daher entgeht ihnen auch nichts. Nun war in aller Munde der Krieg in den östlichen Marken, aber kein Wort war zu hören von Bluttaten von unbekannter Hand, verübt im Verborgenen an Schwachen und Schutzlosen, und scheinbar ohne jeden Beweggrund. Natürlich geschieht, was immer geschieht: Raubmorde und tödlich endende Zankereien, auch Rachetaten, oder Morde zur Rettung der Ehre oder aus Eifersucht. Aber von den Gefahren, denen die Bewohner der entlegenen Dörfer und Waldgebiete ausgesetzt sind, ist bisher nichts in die Königsstadt vorgedrungen, denn wer schert sich schon um die furchtsamen Bauern und Viehhirten draußen auf der Heide. Und somit fand ich einmal mehr die Worte des Köhlers bestätigt: was immer sich hinter der Bedrohung verbirgt, es ist wenn auch kein Tier, so doch in der Wildnis zuhause. Herdfeuer, Wohnstätten, jedes von Menschen auf irgendeine Weise in Besitz genommene oder dauerhaft genutzte Stück Erde meidet es, oder schreckt davor zurück. Das erklärt, warum vor allem die Bewohner der Stadt bisher unbehelligt geblieben sind.



Schließlich verdingte ich mich als Helfer des berühmtesten Waffenschmieds in Kadhlynaegh, den ich rasch von meinen Fertigkeiten an der Esse überzeugte. Sein Stand, der seit jeher dem des Kriegers am nächsten kam, ist so angesehen wie nie zuvor, und bis spät in die Nacht hallt sein Amboß von Schlägen wider. Die tüchtigsten Herzöge kommen zu ihm, ihre Schwerter nach eigenen Vorgaben bei ihm fertigen zu lassen. Sie zahlen gut, und Irmwyn profitiert zudem von ihren Erfahrungen im Kampf, da sie ihm helfen seine Kunst stetig zu verfeinern.

 



Oft war ich zugegen, wenn von Mraeghdar die Rede war. Sie sprechen seinen Namen mit großer Ehrfurcht aus, und wer sie reden hört zweifelt nicht, daß sie ihm blind in jede Schlacht folgen würden. Ich hörte aber auch anderes aus ihren Erzählungen heraus; mißliebiges, das unausgesprochen blieb, sich nur in Form vager Andeutungen durch ihre Rede wand. Sie scheinen Dinge gesehen zu haben, an die sie sich am liebsten gar nicht erinnern möchten.“



„Schlimmer als die Morde an Kindern und anderen Unschuldigen, die dein Gemüt so beschweren?“



Faghnar strich sich über den Bart, indem er Faowgh unverwandt anblickte. Das Feuer in Faowghs Auge schien auf seinen eigenen Blick überzuspringen, wenn auch in anderer Gestalt: war es wirkliche, lodernde, sichtbar brennende Glut, die Faowghs enge Pupille einbettete, fand sie ihren Widerpart in Faghnars Blick als ein Blitzen wie aus dunklen Wolken, die ein herannahendes Gewitter verkünden. Der Drache beobachtete ihn vollkommen starr und regungslos, die Fänge weit genug geöffnet, um beide Reihen langer, spitz zulaufender Zähne zu entblößen. So drohten sie einander ohne ein einziges Wort, Faghnar indem er seine anschwellende Wut wetterleuchten ließ, Faowgh indem er seine unüberwindliche, erdrückende Macht mit der Kaltblütigkeit des Reptils zur Schau stellte. In jedem Fall war, was sie einander mitteilten, unmißverständlich. Würde jener den beständigen Provokationen erliegen und seinem Zorn Taten folgen lassen, dann würde dieser als Antwort seine ganze zerstörerische Kraft entfalten. Mit zweifellos verheerenden, weit über das Zusammentreffen der beiden Kontrahenten hinausgehenden Folgen.



„Du läßt keine Gelegenheit verstreichen“ knurrte Faghnar, „das Volk der Vandrimar deiner Mißgunst auszusetzen. Welchen Verdacht du zugleich in mir nährst, weißt du selbst am allerbesten. Aber ich werde keine Anschuldigung aussprechen, die ich nicht angemessen begründen und mit Belegen untermauern kann. Dazu wirst du mich mit all deinen Listen nicht bringen.



Du wolltest wissen, was ich von Kadhlynaegh aus zu unternehmen gedachte. Und ich kam so weit dir zu berichten, welche Erkundigungen ich in der Stadt selbst einholte, und wie ich dabei vorging. Nachdem ich also Gewißheit erlangt hatte, daß die aus den hiesigen Wäldern drohende Gefahr bisher auf einzelne Vorkommnisse beschränkt blieb und nur entlegene Gebiete betraf, hielt ich mich jetzt, als Gehilfe Irmwyns des Schmieds, über den Hergang des Kriegs im Osten auf dem Laufenden. Und was ich dabei zu hören bekam, war fremdartig und beunruhigend. Der Krieg ist ein grausames Handwerk, ist es immer schon gewesen und wird es immer sein; aber was Irmwyns Auftraggeber durchblicken ließen, deutete eine ganz und gar ungeahnte Wendung an.



Zur Sonnwende beschloß ich, Mraeghdar in seinem Winterquartier aufzusuchen; so verließ ich Kadhlynaegh vier Tage später, um weiter flußaufwärts zu ziehen. War nun den ganzen Winter immer noch kein Schnee gefallen, außer vielleicht in den höchsten Berglagen, hatte doch die ganze Zeit über bitterer Frost geherrscht. Und dann, am dritten Tag meiner Wanderung, geschah was ich am wenigsten erwartet hätte: der Winter hätte gerade erst recht beginnen sollen, aber die Kälte floh aus dem Boden und selbst aus der Luft. Die Zweige der Bäume und Sträucher und die braungefrorenen Gräser auf den Weiden warfen den Raureif von sich ab wie eine Schlange ihr Schuppenkleid. Es geschah so offensichtlich zur Unzeit und bei falschem Wind, daß ich auf der Stelle wieder kehrt machte. Je weiter ich in die Ebene zurückkam, desto untrüglicher wurden die Anzeichen. Ich folgte der Biegung des Bhréandyr nach Norden, er führte ungewöhnlich viel Wasser für diese Zeit des Jahres. Gerne hätte ich einige Tagesreisen auf einem Floß zurückgelegt, aber ich fürchtete, der Strom würde mich zu weit am Gebirge vorbeitragen und mich so zu einem Umweg nötigen. Ich war auf die Zeichen der Erde angewiesen, um deinen Aufenthaltsort zu finden, nicht die des Wassers. Das einzige was ich mit Sicherheit wußte war, daß du deine W