SCHWARZE KITTEL - Katastrophen-Medizin

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Jasmin konnte nicht mehr weiter und ließ sich einfach auf eine aus dem Schutt ein kleines Stück herausragende Holztür fallen. Sie zog den Ballast ab und ließ ihren Kopf nach vorne auf die angezogenen Knie sinken. Bei ihren anderen Hilfseinsätzen waren sie als internationale Helfer in Gruppen unterwegs gewesen, wurden zu den Einsatzorten gefahren, waren meist von mindestens zwei bewaffneten Blauhelm-Soldaten beschützt worden. Durch ihren kopflosen Aufbruch war sie hier auf sich allein gestellt und nach noch nicht mal 24 h auf Haiti am Rande der Dekompensation. Die Menschen um sie herum waren mit eigenen Problemen beschäftigt, warfen Blicke zu ihr rüber, aber man ließ sie in Ruhe. Sie wäre am liebsten eingedöst. Momentan war ihr alles egal, aber der Deutsche war zurückgekommen, packte sie am Arm und forderte sie auf: „Kommen Sie, noch ein kurzes Stück, dort können wir dann eine Pause machen!“ Er war ihr unangenehm aktiv. Ihm schien die Hitze nichts auszumachen. Nicht größer als Jasmin und kaum athletischer gebaut eilte er mit dem dreifachen Rucksackgewicht durch die zerstörte Stadt als ob es ein Wettrennen war. Ihr Körper brauchte Erholung, sonst kollabierte sie bald. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie weiter mussten. Noch siegte ihr Kopf. Sie richtete sich auf und war dankbar, dass der andere ihr den schwarzen Rucksack hochhob und in die Schulterriemen half. Aus Rücksicht auf sie schlug er ein langsameres Tempo an, führte sie noch eine subjektive Ewigkeit weiter, bis er vor den Ruinen der großen katholischen Kathedrale kurz anhielt, dann durch das zerstörte Portal einige Meter in die oben offene Kirche trat. Er hielt an und stellte den grünen Rucksack an einer z.T. erhaltenen Seitenmauer ab, anschließend half er Jasmin mit dem schwarzen. „Hier ist es kühler und sicher“, behauptete er mit ruhiger Stimme. Sie waren nicht allein. Ca. 30 Leute waren damit beschäftigt, die Kirchenbänke und die Mittelgasse von den eingestürzten Dachmassen zu befreien. Die Stufen zum zerbrochenen Altarbild waren frei geräumt und Gläubige knieten betend davor. Tatsächlich spendeten die dicken Steinmauern noch immer etwas kühlen Schutz. Eine Weile betrachteten beide vor den Rucksäcken sitzend die unwirkliche Szene: Das Blau des Himmels, das sich statt des Dachs über der Kathedrale spannte, bot einen kräftigen Kontrast zu den sandfarben-rötlichen Mauerresten, die in unterschiedlicher Höhe hinaufragten. Wenn man sich in diesem riesigen Bauwerk aus großen Steinen befand, bekam man ein Gefühl dafür, welch immense Energie in dem letzten Erdbeben steckte. Jasmin war sich der Gefahr von kleineren Nachbeben, die laut der Geologen in Internetartikeln noch zu erwarten waren, bewusst. Die Bevölkerung war darum ausdrücklich aufgefordert worden, noch nicht wieder in ihre festen Behausungen zurückzukehren. Langsam sammelten sich Jasmins Kräfte, zumindest mal die geistigen, wieder: „Woher kennen Sie sich hier so gut aus?“ „Ich habe im Rahmen einer Forschungsarbeit vier Monate auf Haiti gelebt, um die tektonischen Bewegungen der nördlichen Septentrional- und der südlichen Enriquillo-Platain-Garden-Verwerfung zu messen. Der größte Teil Haitis besteht aus Auffaltungsgebirgen. Jahrelang bin ich 1-2x pro Jahr zurückgekommen, um an diversen Messpunkten Daten zu sammeln. Die jährliche Drift beträgt zwar nur ca. 7 mm, aber die Platten sind in Bewegung. Von meinen Aufenthalten habe ich noch einige Freunde auf der Insel – hoffe ich zumindest. Ich werde in den nächsten Tagen rumreisen und schauen, wer das Beben überlebt hat. Als Reporter schreibe ich über das Unglück für die Menschen, aber als ehemaliger Wissenschaftler interessiert mich, was an den Messstellen jetzt für Veränderungen sind, ob man eine Prognose erstellen kann, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für weitere kleine Beben ist und ob man den älteren Vorschlägen mancher Geologen folgen sollte, die Hauptstadt nicht hier an so einem gefährdeten Punkt wieder aufzubauen, sondern eher im Norden. Da die Karibische und die Nordamerikanische Platte seit Jahrhunderten in Bewegung sind, gab es schon einige schwere Erdbeben auf Haiti, zuletzt vor rund 200 Jahren. Bereits 2008 wurde in einer Forschungsarbeit ein baldiges Erdbeben der Stärke 7,2 vorausgesagt, nachdem es ca. 40 Jahre an der Verwerfung auffallend ruhig war. Es ist typisch für eine voll geblockte Verwerfung, dass plötzlich eine enorme Energie freigesetzt wird wie seit dem 12. Januar. Rund 15 Nachbeben in den letzten drei Tagen, die Magnituden über 5,0 aufwiesen!“ Jasmin wunderte sich, wie der sonst so ruhige Mittvierziger durch den Eifer der Erklärungen 20 Jahre jünger wirkte. „Wie kommen Sie denn von hier weg? Eisenbahnlinien, Straßen, alles scheint zerstört!“ „Einer meiner Bekannten hat einen kleinen Hubschrauber, mit dem er zahlungskräftige Touristen bei Rundflügen transportiert hat. Er hat sich bereit erklärt, mich auf Kosten von GEO die 30 km nach Léogâne zu fliegen. Von dort werde ich mich irgendwie weiter durchschlagen. – Geht es wieder?“ „Wie weit ist es denn noch?“ „Ungefähr 2 km, aber ich habe keine Ahnung wie gut wir in die Richtung vorankommen.“ „War das Zufall, dass Sie an dem Platz aufgetaucht sind?“ „Nein! Eine Journalistin, die ich traf, erzählte, dass eine Weiße dort auf der Straße praktiziere. Ich dachte, dass ich Ihnen vielleicht behilflich sein kann. Unterwegs traf ich u.a. das spanische Kamerateam und bat sie mitzukommen, da die Lage wegen der Überfälle und Plünderungen sehr unübersichtlich ist, zumal mit großem Gepäck wie Sie es haben!“ „Das war ausgesprochen nett von Ihnen! Ich bin Ihnen sehr dankbar!“ „Nennen Sie mich Harry!“, bot der Jüngere an. „Jasmin!“, ging die Ältere auf das Duz-Angebot ein.

Trinité-Behelfs-Lazarett in Port-au-Prince

Die Erholungspause hatte Jasmin gut getan. Sie folgte Harry mit frischer Energie. Das Krankenhaus, das „Ärzte ohne Grenzen“ 2006 aufgebaut hatte, lag in großen Teilen zerstört vor ihnen. Im Innenhof einer gegenüber liegenden Apotheke wurde in den ersten Stunden notfallmäßig behandelt, dann war ganz in der Nähe ein Zeltlazarett entstanden mit langen Warteschlangen bis weit auf die Straße. Jasmin bedankte sich herzlich bei Harry und übernahm ihren großen Rucksack wieder selbst. „Was werden Sie denn nun machen?“ „Ich weiß noch nicht, ob ich hier bleibe oder in einer der anderen Städte arbeiten werde. Ich muss mir erst einmal einen Überblick verschaffen.“ „Wenn Sie wollen, können Sie morgen mit mir nach Léogâne reisen, es sind noch zwei Plätze im Hubschrauber frei! Überlegen Sie es sich! Ich komme morgen um 10 Uhr nochmals hier vorbei. Die ärztliche Versorgung ist außerhalb der Hauptstadt sicher um Vieles schlechter!“ Harry nickte ihr zu und wandte sich um. Nun wieder schwer beladen wandte Jasmin sich an den nächststehenden Soldaten, der eine Maschinenpistole quer vor der Brust in den Händen haltend den Zugang zur Zeltstadt bewachte. „Je suis Docteur Wagner de l' Allemagne et je cherche le responsable“, stellte Jasmin sich vor und ließ sich den Weg zum Hauptverantwortlichen erläutern. Wenig später fand sie das Zelt, das als Hauptbüro ausgewiesen war, leer vor. Also fragte Jasmin sich weiter durch, bis sie in einem Behandlungszelt dem ärztlichen Leiter gegenüberstand, sich auf Französisch vorstellte und ihre Hilfe anbot. Der Haitianer mit weißen Haaren empfing sie freundlich. Er bot ihr einen Becher Wasser an, den sie gierig leerte. Höflich erklärte er der jüngeren Kollegin, dass er keine Zeit habe und rief eine junge Mulattin herbei, die ihr das Notkrankenhaus zeigen sollte. Zuerst führte die junge Schwester, die sich mit „Hélène“ vorstellte, Jasmin zum Apotheken-Zelt, das von vier Soldaten bewacht wurde, da dort außer Medikamenten und medizinischen Geräten auch sonst alles Wertvolle und die persönlichen Dinge der Mitarbeiter aufbewahrt wurden. Erschöpft stellte die Ärztin ihre beiden Rucksäcke ab und behielt nur ihren Bauchgurt mit Geld und Papieren bei sich. Von 40 kg Last befreit konnte Jasmin wieder freier ausschreiten und mühelos der jungen Führerin folgen, die ihr bereitwillig auf Französisch alle Fragen beantwortete. Hélène stellte sie vielen Mitarbeitern als Ärztin aus Deutschland vor und nannte ihr Namen, Herkunftsland und Aufgabengebiet der zum Teil aus europäischen Ländern stammenden Kollegen.

Jasmin war beeindruckt, wie gut organisiert das Lazarett wirkte. Die Patienten lagen zwar größtenteils auf Decken am Boden, aber sie hatten saubere Verbände. Verschiedene Infusionen hingen von den Zeltquerstangen. Das medizinische Personal schien zu wissen, was es wo zu tun hatte. Es herrschte trotz der räumlichen Enge eine erstaunliche Ruhe – zumindest im hinteren Bereich, wo die stationären Patienten versorgt wurden. Ein größeres Zelt wurde als Intensiv-Einheit benutzt. Sechs Feldbetten, fünf davon belegt mit offensichtlich Schwerverletzten. Zwei Patienten hingen an Beatmungsgeräten, die das Zelt füllten mit dem Lärm der Pumpen, die die warme Luft in die Körper drückte. In den meisten Zelten waren der vordere und hintere Zeltbahnenanteil zur Seite geschlagen, um den Brutkasteneffekt zu mindern und die geringen Luftbewegungen durch die „Zimmer“ streichen zu lassen. Welch ein Kontrast zu den möglichst sterilen Beatmungszellen einer deutschen Intensivstation! Zwei EKG-Geräte stellten die Herzströme von Patienten dar. Jasmin fiel auf, dass die Elektrodenklemmen gewechselt wurden. Man erklärte ihr, dass alle paar Minuten umgesteckt wurde, um so je zwei oder drei Patienten mit den beiden einzigen vorhandenen Monitoren überwachen zu können. Ansonsten kreuzten verschiedenste Kabel und Infusionsschläuche über die Körper der Intensivpatienten wie es in einem normalen Krankenhaus auch nicht anders gewesen wäre. Zuletzt führte Hélène den Gast zu den beiden Ambulanzzelten, vor denen ebenfalls Soldaten postiert waren und für Ordnung bei dem riesigen Andrang an Hilfesuchenden sorgten. Was für ein anderes Arbeiten als ihre morgendliche Spontansprechstunde! Hélène verschwand. Jasmin sah längere Zeit mal in dem einen, mal in dem anderen Untersuchungszelt zu. Je drei Patienten befanden sich in jeder der Ambulanzen gleichzeitig. Die Arzthelferinnen oder Schwestern machten eine Kurzanamnese, füllten Formulare aus, entkleideten wenn nötig die Patienten, reinigten Wunden mit Braunol, einem bräunlichen Wunddesinfektionsmittel. Sie versorgten kleinere Blessuren mit Salben und Verbänden, wenn der diensthabende Ambulanzarzt mit seiner Untersuchung fertig war und entsprechende Anweisungen mit für Jasmin unverständlichen Lauten gab. Alles lief bewundernswert reibungslos. Wer weitere medizinische Hilfe benötigte, z.B. eine Infusion, chirurgische Intervention oder fachärztliche Untersuchungen wurde von Helfern in dahinter liegende weitere Zelte gebracht. Auf diese Art hatten die Ambulanzzelte einen immensen Durchlauf, um den manche deutsche Praxis sie beneidet hätte.

 

Nach einer Weile als Zuschauerin hätte Jasmin gerne selbst etwas Sinnvolles gemacht statt wie eine junge Hospitantin nur daneben zu stehen, aber da beide Ambulanzärzte ihr Angebot, ihnen Arbeit abzunehmen, dankend ablehnten, machte sie sich allein auf einen Erkundungsgang. Man könnte meinen, man befände sich in einem Kriegslazarett, so viel Militärpräsenz zeigte sich in dem Behelfshospital. Die deutsche Ärztin fragte nach einer Kantine, da sie seit dem mageren Abendessen im Flugzeug seit 21 h nichts mehr gegessen hatte. Ohne Badge oder Ausweis wurde ihr der Zugang zum Essenszelt verwehrt, so blieb ihr nichts anderes übrig, als wieder den Ärztlichen Leiter zu suchen. Die Zelte standen eng nebeneinander in einer Anzahl, dass sie sich mehrfach verirrte, bis sie zumindest das „Apotheken-Zelt“ entdeckte, aber auch hier wurde sie ohne Legitimation nicht rein gelassen. Niemand der Mitarbeiter kümmerte sich um sie. Alle waren beschäftigt. Jasmin kam sich überflüssig, ja sogar störend, vor. Sie fragte sich durch zum OP-Zelt und durfte nach einigen Erklärungen, warum sie da war, von einer Zeltwand aus zusehen. Einem älteren verschütteten Mann wurde die rechte Niere entfernt, kein kleiner Eingriff. Sie konnte den Anästhesisten, verdeckt durch Tücher und Beatmungsgerät, kaum hinter dem Kopfende sehen. Das Zelt hatte eine Art Linoleum-Boden, einen OP-Tisch, Monitore und Geräte, sogar mehrere OP-Lampen, die das OP-Gebiet in gleißendes Licht tauchten. Neben dem Zelt arbeitete unüberhörbar ein Generator, der den nötigen Strom erzeugte. Jasmin bewunderte, was hier in wenigen Tagen behelfsmäßig aufgebaut worden war, um den Krankenhausbetrieb fortzusetzen. Nach der Nephrektomie nutzte Jasmin die Zeit bis zur nächsten OP, um mit dem einheimischen Narkosearzt zu reden. Sie erfuhr, dass zum Glück das Lager und die Apotheke des Krankenhauses weitgehend verschont geblieben waren, so dass sie am Morgen nach dem Erdbeben direkt ärztlich tätig werden konnten, hingegen waren die Trakte mit den Patientenzimmern, Operations- und Untersuchungsräumen, Archiv und Verwaltung unzugänglich. Die Hauptstadt besaß vor der Zerstörung mehrere Hospitäler und mobile Kliniken, also gab es trotz einiger Toter auch unter den Kollegen noch viele Ärzte, Krankenschwestern, medizinisches Hilfspersonal, die den Tausenden von Verletzten Rat und Tat zukommen ließen. Laut Frederic, dem haitianischen Anästhesisten, gab es mehrere Lazarette über die Stadt verteilt und täglich wurden neue Zelte der amerikanischen Armee errichtet, um den Obdachlosen in Provisorien Unterschlupf zu bieten. Tagelang hätten Hunderttausende Erdbebenopfer auf den Straßen gelebt, da weitere Beben erwartet wurden, die erfreulicherweise genauso wenig bisher stattgefunden hatten wie der primär angekündigte Tsunami, der wahrscheinlich allein auf den Halbinseln die Zahl der Toten noch um ein Vielfaches erhöht hätte. Während der Unterhaltung wurde die nächste Operation vorbereitet, eine Amputation des rechten Arms bei einem zehnjährigen Mädchen, das mehrere Stunden mit eingeklemmtem Arm unter Trümmern gelegen hatte. Die Ärzte hatten sie vor zwei Tagen aufgenommen und nach einer Versorgung der oberflächlichen Wunden gehofft, dass der Arm zu retten wäre, doch zu viele Gefäße waren zu lange abgedrückt oder zerrissen. Wenn man ihn nicht vom Körper abtrennte, würden die Giftstoffe der absterbenden Extremität in weiteren 2-3 Tagen das Kind umbringen. Wieder bot Jasmin ihre medizinische Hilfe an, aber auch dieser Kollege lehnte freundlich ab, sondern bot ihr seinen Badge an, damit sie etwas Essen gehen konnte.

Als Jasmin vor einem Teller Reis mit einer scharfen Sauce saß, ließ sie den Tag Revue passieren. Die letzten 24 h waren voller unterschiedlichster Eindrücke. Wie sollte es die nächsten zwei Wochen weiter gehen? Während sie noch Vor- und Nachteile abwog, in Port-au-Prince zu bleiben oder Harrys Angebot ins Ungewisse anzunehmen, erschien der haitianische Chefchirurg, der die allgemeine Leitung inne hatte, neben ihrem Tisch und bot ihr an, sie könnte heute bei ihm und seiner Familie übernachten. Dankbar folgte sie dem Ärztlichen Leiter zum „Apotheken-Zelt“, holte nur ihren kleinen Rucksack mit ihren persönlichen Sachen und ihre Jacke, bevor sie dem Arzt, der sich inzwischen umgezogen hatte, zu seinem Wagen hinterher eilte. Überrascht stellte Jasmin fest, dass manche Straßen recht gut zu befahren waren. Der Einheimische wies sie auf Französisch auf den zerstörten Präsidentenpalast hin, dessen erhaltene Kuppeln auf den eingestürzten Mauern wie Hüte aufsaßen. Er zeigte auf ein ebenfalls zerstörtes Hospital. Andere Gebäude sahen nahezu unversehrt aus. In der Dunkelheit sah Jasmin im Scheinwerferlicht auftauchende provisorische Hütten. Viele Haitianer hausten mit ihren geretteten Sachen am Straßenrand, oft bis auf die Fahrbahn reichend. Trotz der späten Stunde waren überall noch Menschen unterwegs. Kinder hockten und spielten auf der Straße. Polizei und Militär patrouillierten ständig mit schussbereiter Waffe. Jasmin erfuhr, dass es schon zu einigen Toten durch Auseinandersetzungen bei Plünderungen gekommen war. Im Krankenhaus waren aus den Trümmern Medikamente gestohlen worden. Als ein Pfleger mutig die Täter aufhalten wollte, wurde er niedergestochen und verblutete ehe man ihn zum OP-Zelt tragen konnte. Ohne die Tausende Soldaten, die aus den USA entsandt waren, um Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten, hätte das Recht des Stärkeren oder Skrupelloseren längst die Oberhand gewonnen. Ihr Gastgeber berichtete von den angelaufenen Hilfen, die vor allem von der Dominikanischen Republik aus erfolgte, die weitgehend vom Erdbeben verschont geblieben war. Sie nahmen zahlreiche Verletzte in ihren Gesundheitseinrichtungen entlang der Grenze auf, entsandten schon am 13.1. Hilfslieferungen mit Nahrung, Wasser, Matratzen und Decken sowie mobile Kliniken und Küchen. Das schwere Gerät wie Baumaschinen, Bagger, Planierraupen brauchte einen Tag länger für die Anfahrt. Wegen der Insellage gestaltete die externe Versorgung sich schwieriger als bei anderen Ländern. Auf Haiti waren Flughäfen und Transportwege momentan kaum benutzbar. Die Transportwelle an Hilfsgütern musste nun auf diversen Wegen über kleinere Flughäfen, mittels Fallschirmen, mühsam über Land, über die Berge oder wegen des ebenfalls zerstörten Hafens mit kleineren Booten über Wasser aufgeteilt nach Haiti gebracht werden. Die Hauptstadt und kleinere Städte an der Küste wurden von extern täglich besser versorgt, aber die Lage in den entfernteren Orten sei noch ziemlich unklar. Man wisse nur wenig darüber, wie es im Hinterland aussehe, wie die medizinische Versorgung und die Ernährungslage sei …... Der Chefarzt war auch politisch aktiv, gehörte zur Opposition und machte der – wenn auch durch Opfer dezimierten – Regierung bittere Vorwürfe, dass es an Entschlossenheit und Autorität fehlte. Quer durch alle Berufe und Schichten gab es Tote oder Vermisste. Führende Persönlichkeiten der Kirchen, Banken, Schulen, Ämter fielen aus. Oft war unklar, wer kommissarisch die Leitung übernehmen sollte. Die finanzielle Lage der meisten war unklar. Was machte ein Bankangestellter, dessen Arbeitsort in Schutt lag? Welchen Sinn machte die Arbeit eines Finanzbeamten unter solchen Umständen, bei denen viele Akten verschüttet wurden?

Inzwischen fuhren sie durch ein Viertel, wo der Erdbebenschaden anscheinend weitaus geringer ausgefallen war. Ihr Fahrer hielt vor einer Villa mit Säulen, die Jasmin gerade noch im Licht der Scheinwerfer bemerkte, bevor der Motor ausgeschaltet wurde. „Wir hatten Glück! Das Haus ist anscheinend mit einigen kleineren Rissen davon gekommen.“ Die Gastgeberin begrüßte Jasmin sehr nett und zeigte ihr das Gästezimmer, entschuldigte sich, dass sie leider nicht duschen könnte, aber sie stellte ihr eine Schüssel mit Wasser hin, damit Jasmin sich waschen konnte. Es war inzwischen weit nach 23 Uhr. Die Fahrt hatte sich durch Unebenheiten, Hindernisse und Umwege fast 1 h hingezogen. Jasmin bat erschöpft, sich direkt zurückziehen zu dürfen. Schon wieder quälte sie der Durst, zumal die Sauce so scharf gewesen war, aber Jasmin bezweifelte, dass das Wasser in der Schüssel auch zum Trinken geeignet war. Sie genoss es, zumindest einen Teil der Schweiß-Schmutz-Schicht abwaschen zu können. Wenig später schlüpfte Jasmin froh über ein richtiges Bett im langen T-Shirt unter das Laken und fiel in wenigen Minuten in tiefen, traumlosen Schlaf.

Viel zu früh nach Jasmins Geschmack weckte sie die Dame des Hauses um kurz vor ½ 6. Das Wasser erschien Jasmin jetzt zu dreckig, um sich nochmals damit zu waschen. Sie bürstete ihre Zähne rasch trocken und begab sich nach unten in ein geräumiges Wohnzimmer. Jasmin folgte dem Beispiel ihres Kollegen, trank Kaffee aus einem Schüsselchen und stippte Brot hinein. Erstaunlich erholt hatte Jasmin beim Packen ihres Rucksacks beschlossen Port-au-Prince heute mit Harry zu verlassen. Als sie kurz nach 6 Uhr mit dem Wagen unterwegs waren, erzählte sie von ihrer Absicht. Der Haitianer dankte ihr sogar, dass ausländische Helfer dort hingingen, wo es kaum einheimische Hilfe gab, weil man in seinem eigenen Umfeld Aufgaben genug zu bewältigen hatte. Auf der Fahrt durch die noch halbdunklen Straßen brannten sich ihr die Bilder des Elends ins Gehirn. Der Leichengestank war heute Morgen weniger penetrant als noch gestern – oder begann sich ihre Nase bereits daran zu gewöhnen? Um diese riesige Anzahl an Obdachlosen zu versorgen, brauchte es im wahrsten Sinne des Wortes eine Armee. Streunende Hunde und Katzen an allen Ecken und Enden. Unmengen an Kindern lungerten herum, kaum bekleidet, manche mit eingefallenen Gesichtern. Ihr fiel die Statistik ein, die sie im Internet gelesen hatte: Im Schnitt vier Kinder pro Frau. Hier schien es von Kindern nur so zu wimmeln, während relativ wenige Erwachsene zu dieser frühen Stunde zu sehen waren. Wer kümmerte sich um die vielen Kinder, von denen viele Halbwaisen oder Waisen geworden waren?

Jasmins Entschluss lieber in einem dörflichen Umfeld zu arbeiten, wo man wenigstens das Gefühl haben konnte, gegen das Leid anzukämpfen, wurde immer fester. Die immensen Ausmaße der Zerstörung, die hoffnungslose Situation der Menschen in einem Land, wo es schon vor dem Erdbeben für viele kaum das Nötigste gegeben hatte, die traurigen Augen der Kinder, die überall zu sein schienen – das alles lähmte Jasmins Eifer. Was konnte sie schon erreichen? Die Überlebenden brauchten jetzt erst einmal Nahrung, Wasser, Behelfsunterkünfte und andere materielle Hilfe, die sie ihnen nicht geben konnte. So furchtbar es für die Angehörigen sein musste, dass die Toten ohne jeweilige religiöse Beerdigung in Massengräbern entsorgt wurden, so wichtig war die rasche Beseitigung der faulenden Kadaver. Sie hatte großen Respekt vor denen, die die Toten zu bergen halfen, DNA sicherten, um evtl. nachzuweisen, wer unter den Gestorbenen war. Das Rote Kreuz versuchte mit großem Aufwand mit Fotos und Listen, Tote zu registrieren, Vermisste zu suchen und Familien zusammenzubringen.

Viertel vor 7 parkte der Ärztliche Leiter und verabschiedete sich freundlich von Jasmin, falls er sie später nicht mehr treffen sollte. Jasmin zog ihren Rucksack an und sah sich um. Wieder Menschenmassen, die sich vor dem Eingang drängelten, um von den Wächtern in geordnete Reihen gezwungen zu werden. Manche Patienten wurden auf Tragen aus kaputten Möbeln oder selbstgebauten Karren gebracht. Jasmin überlegte, was sie mit den drei verbleibenden Stunden anfangen sollte. Sie hatten nicht einmal einen Treffpunkt vereinbart. Was wenn Harry sie nicht fand? Am besten würde sie ab ½ 10 vor dem Hauptzugang zum Lazarett warten. Ihr fiel ein, dass sie vergessen hatte, den Chefarzt um Verbandsmaterialien für ihre weitere Tätigkeit zu bitten. Ob auch einer der Ambulanzärzte befugt war, ihr etwas mitzugeben? Sie steuerte auf den Eingang zu, wurde aber von einem Soldaten, der ihr den Zugang verwehrte, aufgehalten. Sie redete auf ihn ein, erst auf Französisch, dann auf Englisch, aber er schüttelte ablehnend den Kopf. Sie musste nochmals ins Zelthospital, um ihren großen Rucksack zu holen. Gestern hatte man sie doch auch ins Lager gelassen, aber dieser Soldat stellte sich stur. Jasmin zerbrach sich den Kopf, wie die Ärzte hießen, bei denen sie gestern zugesehen hatte, aber ihr fiel kein einziger der vielen Namen mehr ein. Da kam ihr das Namensschild, das ihr der haitianische Anästhesist gestern geliehen hatte, in den Sinn. Sie kramte in ihrer Jackentasche, steckte sich das Plastikschildchen ans T-Shirt und ging selbstbewusst auf einen anderen Wachsoldaten zu, der nur einen kurzen Blick auf das Hospital-Logo über dem Namen warf, dann konnte sie passieren. Nun hatte sie noch 2 h Zeit, machte sich auf die Suche nach dem OP-Zelt in der Hoffnung, dass sie Dr. Meunier seinen Badge zurückgeben könnte und er ihr eine Art Rezept für die Apotheke ausstellen könnte. Jetzt herrschte viel größeres Gedränge zwischen den Zelten als am Vorabend. Jasmin kam nur langsam voran.

 

9 Uhr 27 hatte sie alles erledigt: Badge-Rückgabe, nochmals im OP zugesehen, dank eines Zettels des Kollegen zwei Rollen Verbandsmull in ihren kleinen Rucksack gestopft, nicht viel, aber mehr hätte sie eh nicht noch transportieren können. Nun wartete sie ein ganzes Stück vor dem umdrängten Zugang an der Straße und hoffte, Harry nicht im Gewühl zu übersehen. Sie stand mit beiden Rucksäcken am Körper aus Angst, man könnte ihr einen entreißen, und wartete sehnlichst auf Harry. Bereits 10 vor 10 entdeckte sie ihn am offenen Fenster eines Autos, das in ihrer Nähe hielt. Harry stieg vom Beifahrersitz, kam zu ihr rüber und nahm ihr ganz Gentleman wieder den schwereren der beiden Rucksäcke ab, verstaute beide im Kofferraum und ließ sie auf die Rückbank steigen. „Mon ami, Paul („Pol“)“ stellte Harry den Freund vor. Jasmin stellte sich deshalb auch mit Vornamen vor und dankte ihm gleich, dass er sie mitnahm. Die Männer unterhielten sich vorne lebhaft, aber Jasmin bekam hinten kaum etwas mit. Sie sah auf einem Platz Militärlaster, von denen aus Soldaten Wasserflaschen an die Bevölkerung ausgaben, Pick-ups, auf die Tote geladen wurden, Kinder, die mit einem Stein Fußball spielten, Frauen mit Kindern auf dem Arm…. Bald fuhren sie stadtauswärts. Man sah auch mal Grün, weniger Menschen saßen und lagen an der Straße. Der kleine Hubschrauber stand auf einer steinigen Fläche nahe einem Wäldchen, das sich den Hügel rauf zog. Der Fahrer hielt, ließ die beiden Deutschen samt Gepäck aussteigen und fuhr auf den Wald zu. Der Besitzer versteckte sein Auto nur wenige Meter hinter der Waldgrenze zwischen den Bäumen und kehrte zu Fuß zu seinen Fluggästen zurück. Er öffnete seine Maschine, half Jasmin beim Einsteigen und verstaute mit Harry die drei Rucksäcke. Der Pilot flog vom Norden von Port-au-Prince an der Küste entlang nach Südwesten, so bekamen die Europäer die Zerstörungen des Hafens und der Küstengebiete aus der Luft zu sehen. Zutiefst erschüttert war Jasmin vom Anblick des Elendsviertels mit dem schönen Namen Cité Soleil (= „Sonnenstadt“). Von oben sah es aus, als bewegten sich die vielen Menschen, die man gerade noch erkennen konnte, auf einer Mülldeponie. Die durch jahrzehntelange Abholzung der Erosion ausgesetzten Hänge waren größtenteils durch die Beben abgerutscht. Man erkannte keine Straßen, Häuser oder Ähnliches. Welch ein Kontrast dazu das blaugrüne Meer und südlich der Hauptstadt die hellen Sandstrände, die Lust zum Baden machten!