Tod in der Ville Close

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Tod in der Ville Close
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Jean-Pierre Kermanchec

Tod in der Ville Close

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog

Andere Kriminalromane des Autors:

Impressum neobooks

Kapitel 1

Es war ein herrlicher Augusttag, und die Sonne brannte beinahe schon erbarmungslos vom Himmel. Die Besucherschlange, die in die Ville Close von Concarneau strömte, überraschte den jungen Mann.

Pierre Cornec saß auf der Bank, schräg gegenüber der ehemaligen Zugbrücke. Die von hohen Mauern umgebene Altstadt von Concarneau hatte hier ihren einzigen Zugang. Normalerweise hielten sich die Menschen an Tagen wie diesen eher am Sables Blancs auf, dem Strand der Stadt, mit dem feinen weißen Sand. Doch heute schien alles anders zu sein.

Zuerst war ihm nicht klar gewesen, warum sich bei diesem schönen Wetter die Besucher am frühen Nachmittag auf die kleine Insel im Hafen drängten, auf der die Altstadt lag. Doch dann bemerkte er, dass die Menschenmassen nicht von dem gegenüberliegenden großen Parkplatz kamen, sondern von der Anlegestelle an der Hafeneinfahrt, an der die Barkassen anlegten, die die Besucher von den auf Reede liegenden Ozeanriesen an Land brachten.

Pierre Cornec stand auf und schlenderte am Quai entlang in Richtung der Hafeneinfahrt. Er wollte das Schiff, das dort vor Anker liegen musste, sehen und fotografieren. Vielleicht würde es ein schönes Foto hergeben. Seinen Fotoapparat trug er immer bei sich.

Seine Kamera war sein ganzer Stolz. Erst vor wenigen Wochen hatte er sie gekauft. Er nahm damit Fotos auf, die er später an die Touristen verkaufen wollte.

Es waren nicht die Sorte Bilder, die die Touristen üblicherweise selber fotografierten. Es waren völlig andere Aufnahmen. Das Studieren der Betriebsanleitung hatte ihn auf die Idee gebracht, die Möglichkeit der Mehrfachbelichtung zu nutzen. Nach zahlreichen Fehlversuchen hatte er schließlich hinbekommen, dass aus den aufgenommenen Bildern kleine Kunstwerke entstanden waren, bei denen der Betrachter sich schwertat, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden. Die Nachbearbeitung mit Hilfe eines Fotoprogramms vervollständigte dann noch die Werke, sodass schließlich brauchbare und, was für ihn am Wichtigsten war, verkaufbare Bilder entstanden waren. Die Handelsermächtigung, die er von der Stadt erhalten hatte, erlaubte ihm, seine Bilder vor dem Eingang zur Ville Close zu verkaufen. Er stellte nur kleine Bilder her, die er für wenig Geld an die Touristen veräußerte. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass Touristen sich bei den Ausgaben ein Limit setzten. Die Grenze lag irgendwo zwischen acht und zehn Euro. Darüber hinaus war es deutlich schwerer, Bilder an den Mann oder die Frau zu bringen. Reich konnte er mit seinen Verkäufen nicht werden, aber für das tägliche Leben genügte es ihm. An manchen Tagen verkaufte er bis zu zwanzig Bilder. Das waren die Tage, an denen er sich dann erlaubte, sich eine Flasche Wein für drei Euro zu leisten. Damit verfeinerte er sich sein Abendessen, in seinem kleinen Studio in der Rue Fresnel, nur wenige Schritte vom Hafen entfernt. Den größeren Teil legte er zur Seite, um für die Wintermonate eine Reserve zu haben. Touristen gab es hauptsächlich zwischen Mai und September, danach ebbte der Zustrom ab.

Pierre Cornec war am Yachthafen, dem Port de Plaisance, angekommen. Von dort aus hatte er einen freien Blick auf die Bucht von Concarneau. Er sah das Schiff vor dem Hafen liegen, gute zwei Kilometer weit draußen. Es war eines dieser riesigen Kreuzfahrtschiffe.

Durch sein Teleobjektiv versuchte er den Namen des Schiffes zu erkennen, was ihm aber nicht gelang. Pierre Cornec machte einige Aufnahmen von dem Schiff und wandte sich dann wieder ab. In diesem Augenblick kam eine weitere Barkasse am Pier an und brachte einen neuen Schwung Besucher in die Stadt. Pierre machte einige Fotos von den Ankömmlingen. Vielleicht war das eine oder andere Bild ja später zu verwenden. Dann beeilte er sich, aus seinem Studio den kleinen faltbaren Tisch und eine Anzahl fertiger Bilder zu holen. Mit Glück würde er das eine oder andere Bild an die Teilnehmer des Landgangs verkaufen können.

Nach zwanzig Minuten war er wieder zurückgekommen. Er stellte seinen Tisch auf und legte die Bilder aus. Er hörte, dass die Menschen, die an ihm vorbeigingen, englisch, beziehungsweise amerikanisch sprachen. Amerikaner waren gute Kunden. Sie kauften gerne Souvenirs, wollten aber immer den Preis verhandeln, sodass er sich entschloss, die Preise etwas höher als üblich anzusetzen. Ein junges Ehepaar kam auf ihn zu und sprach ihn an. Für Pierre Cornec war es kein Problem, sich mit den Touristen zu unterhalten. Er sprach mehrere Sprachen, keine davon fließend aber doch so, dass er sich verständlich machen konnte.

„Könnten Sie vielleicht ein Foto von uns beiden machen? Wir sind auf unserer Hochzeitsreise und waren noch nie in Frankreich.“

Der junge Mann hielt ihm seinen kleinen Fotoapparat hin. Pierre wollte nicht unhöflich sein und erfüllte ihnen den Wunsch. Das junge Paar stellte sich mit dem Rücken zur Ville Close in Position und Pierre versuchte, die große Uhr, die den Turm an der linken Ecke des Eingangsbereichs schmückte, mit aufs Bild zu bekommen. Auch wenn es sich nur um einen kleinen Gefallen handelte, so war es doch sein Ehrgeiz, ein ordentliches Foto abzuliefern. Das junge Paar sah sich die Aufnahme an, und schien sehr zufrieden zu sein, denn die junge Frau interessierte sich jetzt für seine Bilder. Sie kauften sein teuerstes, ganz ohne zu verhandeln. Pierre hatte nur ein einziges in dieser Preisklasse mitgebracht und war jetzt um 9.90 Euro reicher. Er verpackte das Bild und überreichte es der jungen Frau. Sie schenkte ihm noch ein bezauberndes Lächeln, bevor sie sich auf den Weg in die Ville Close machten.

Der restliche Tag verlief nicht mehr ganz so erfolgreich. Als Pierre Cornec seinen Tisch zusammenfaltete und seine Bilder wieder einsammelte, waren seine Einnahmen gerade einmal auf 37 Euro angewachsen. Er würde sich eine Pizza für den Abend kaufen können.

 

Paul und Nancy Malcom betraten, mit ihrem gerade erstandenen Kunstwerk, die Ville Close von Concarneau. Gleich nachdem sie das erste Tor durchschritten hatten standen sie vor der alten Kanone. Paul fotografierte Nancy neben der Kanone. Der Innenhof gab den Blick auf die Festungsmauern und auf den Turm des Gouverneurs frei. Paul und Nancy entdeckten die Treppe, die auf die Mauerkrone führte. Sie stiegen hinauf. Von hier oben bot sich ihnen ein herrlicher Blick auf den Arrière-Port, den hinteren Teil des Hafens, an dem die Fischerboote festmachten. Sie schauten auf ein sehr großes Gebäude, dass der Reiseführer als la criée bezeichnete. Es war die Halle, in der morgens die Fische verkauft wurden, gleich nach der Anlieferung.

Concarneau war früher einer der größten Fischereihäfen Frankreichs gewesen. Thunfische und Sardinen wurden auch heute noch hier verarbeitet, auch das stand in ihrem Guide. Sie blickten auf die zahlreichen Zelte, die auf dem Platz links neben der Halle aufgebaut waren. Concarneau stand das große, alljährlich stattfindende Fest der Filets Bleus bevor.

Sie folgten dem Wehrgang weiter, vorbei an den Schießscharten und kamen am Tour du Moulin á Poudre, dem Pulverturm an. Kurz danach endete der Rundgang, und sie mussten die Treppen wieder hinabsteigen. Sie spazierten zur Hauptstraße der Ville Close. Es war kein geringerer als Vauban, der die Befestigungen rund um die Altstadt angelegt hatte, sodass diese Straße seinen Namen trug. Sie war gespickt mit Souvenirläden. Es gab Geschäfte, in denen man die berühmten Ohrenbols, mit dem eigenen Vornamen beschrieben, kaufen konnte, Boutiquen mit Strickwaren der Region und zahlreiche Geschäfte, die die Spezialitäten der Bretonen verkauften, die Galettes, den Kouign Amann, die Sablés und die zahlreichen anderen biscuits. Dazwischen gab es immer wieder kleine Restaurants und Crêperien. Nancy und Paul hatten auf ihrem kleinen Spaziergang Appetit bekommen. Sie fanden eine kleine Crêperie in der Rue St-Guénolé, der Fortsetzung von dem Place St-Guénolé. Beide bestellten sich ein Crêpes-Menu, etwas, das sie noch nie gegessen hatten.

Am Nebentisch saßen zwei Männer, die sich aufgeregt unterhielten. Sie schienen nicht unbedingt die besten Freunde zu sein. Paul und Nancy achteten nicht weiter darauf. Nach einigen Minuten, sie hatten bereits ihr Essen und eine Flasche Cidre bestellt, stand Paul auf. Er wollte ein paar Erinnerungsfotos machen. Er fotografierte Nancy am Tisch. Da das Restaurant klein war, kamen auch die zwei Männer am Nebentisch mit aufs Bild. Paul setzte sich, als das Essen kam und sie ließen sich die Mahlzeit munden. Die zwei Männer hatten kurz darauf das Restaurant verlassen. Auf dem Platz vor der Crêperie schrien sie sich noch lauter an. Paul und Nancy konnten sehen, dass sie danach getrennte Wege einschlugen. Auch Paul und Nancy verweilten nicht mehr lange. Sie bezahlten ihre Crêpes und machten sich auf den Weg, den Rest der Altstadt zu durchstreifen. Am Ende der Straße kamen sie zu einem Platz mit einer Freilichtbühne. Die Sitzplätze waren, wie in einem Amphitheater, im Halbkreis um die Bühne herum errichtet. Ihr Weg führte sie danach an der Anlegestelle einer Fähre vorbei. Es war die kleinste Fähre, die sie je gesehen hatten. Sie bot vielleicht zehn oder zwölf Personen Platz und hatte gerade einmal 200 Meter Distanz zu überwinden. Sie schipperte quer über die Hafeneinfahrt, hinüber zu einem Ortsteil von Concarneau, der Passage Lanriec, wie sie ihrer kleinen Karte entnehmen konnten. Beide fanden die Fähre witzig und überlegten noch, ob sie nicht mitfahren sollten, als das kleine Boot auch schon ablegte.

„Schau, das ist doch einer der Männer, die vorhin am Nachbartisch gesessen haben.“ Paul zeigte auf den mürrisch dreinblickenden Herrn, der zu der Fähre geeilt gekommen war und jetzt mit hinüberfuhr. Auch Nancy sah dem Boot nach.

„Ja, das ist der, der vorhin am lautesten gesprochen hat. Er ist doch zum Ausgang der Altstadt gegangen. Er hat es sich wohl anders überlegt und ist umgedreht.“

Paul und Nancy dachten nicht weiter darüber nach und schlenderten weiter. Sie wollten sich später auch noch die Innenstadt von Concarneau ansehen.

Sie spazierten zurück und kamen auf der Rückseite des Restaurants zu dem kleinen Park, am hinteren Ende der Ville Close. Der Weg stieg leicht an und führte zu einer mit Bäumen gesäumten Wiese. Plötzlich blieb Nancy wie versteinert stehen. Sie streckte ihren Arm aus und zeigte in Richtung der großen Eiche, die links vor ihnen stand. Sie schien unfähig zu sein, auch nur einen Ton hervorzubringen. Jetzt sah auch Paul, was Nancy so erschreckt hatte. Vor ihnen lag ein Toter.

Kapitel 2

Ewen Kerber machte sich auf den Weg, mit Carla nach Concarneau zu fahren. Er hatte ihr versprochen, das große Fest, die Filets Bleus, zu besuchen. Die Filets Bleus wurden schon seit 1905 gefeiert. Ursprünglich war es eine Solidaritätsveranstaltung gewesen, zu Gunsten der Fischer von Concarneau, die in Not geraten waren, als aus unerklärlichen Gründen die riesigen Sardinenschwärme ausgeblieben waren. Die Bürger der Stadt verhalfen mit dem Erlös des Festes ihren Fischern zum Überleben. Den Namen hatte das Fest von den blauen Netzen erhalten, wie sie von den Fischern benutzt wurden.

Die Solidarität stand schon lange nicht mehr im Vordergrund. Heute war daraus ein Festival geworden, das das Kulturerbe der Bretagne bewahren sollte. Trachtengruppen, Musik und folkloristische Tanzgruppen prägten das Fest.

Ewen war kein großer Freund von folkloristischen Festen. Aber diesmal war Marie, Carlas Tochter, mit ihrer Tanzgruppe beteiligt. Carla hatte ihrer Tochter versprochen, dass Ewen und sie beim Schautanzen und dem großen Umzug dabei sein würden. So blieb Ewen Kerber nichts anderes übrig, als zu den Filets Bleus zu fahren.

Im Kommissariat von Quimper war es nach dem Mord an der jungen Frau Germaine Kerivel wieder ruhiger geworden. Der Fall hatte die ganze Truppe über viele Wochen in Atem gehalten.

„Bist du soweit, Liebling?“, fragte Ewen, als er schon an der Haustür stand und den Wagenschlüssel von dem kleinen Bord neben dem Spiegel genommen hatte.

„Ich komme sofort“, hörte er Carla rufen.

Die Fahrt nach Concarneau würde nicht lange dauern. Die knappen 20 Kilometer wären schnell zurückgelegt. Das größere Problem würde die Parkplatzsuche bieten. Ewen Kerber war kein Freund von öffentlichen Verkehrsmitteln. Er fuhr am liebsten mit seinem eigenen Wagen. Deshalb hatte er schon vor einigen Tagen seine Kollegen in Concarneau angerufen und gefragt, ob sie einen Stellplatz vor dem Commissariat de police erübrigen könnten. Selbstverständlich hatten sie ihm einen Platz angeboten. Das Commissariat de police in Concarneau benötigte für seine wenigen Einsatzfahrzeuge nicht alle Plätze. So war es möglich gewesen, ihm einen Parkplatz zur Verfügung zu stellen. Das Gebäude der Kollegen lag zudem gegenüber dem Festplatz. Einen besseren Parkplatz hätte er sich nicht wünschen können.

Carla kam die Treppen herunter und sie verließen ihr Haus. Sie stiegen in ihren bretonischen Wagen ein. Auch wenn Ewen nicht unbedingt der eingefleischteste Bretone war, sollte sein Auto doch aus der Bretagne kommen.

Sie erreichten das Commissariat de police am Anfang der Avenue de la Gare. Ewen stellte seinen Wagen direkt vor dem Gebäude ab. Er war noch nicht ausgestiegen, als auch schon ein Polizeibeamter auf ihn zukam.

„Sie können hier nicht parken, Monsieur, der Wagen wird sonst gleich abgeschleppt.“

Ewen Kerber nickte und stieg dennoch aus, zog seinen Dienstausweis aus der Tasche und zeigte ihn dem jungen Polizisten.

„Ich habe mit Ihrem Chef bereits gesprochen. Er hat mir erlaubt, meinen Wagen für einige Stunden hier abzustellen.“

„Entschuldigen Sie, Monsieur le Commissaire, aber ich habe Sie noch nie bei uns gesehen.“

„Kein Problem, Sie machen Ihre Arbeit. Sagen Sie ihrem Chef in meinem Namen nochmals vielen Dank.“ Ewen reichte dem jungen Mann sein Visitenkärtchen und verschloss den Wagen, nachdem auch Carla ausgestiegen war.

Die Tanzaufführung, an der Marie beteiligt sein würde, fand in dem großen Zelt statt, das auf dem Gelände des Parkplatzes am Quai Carnot aufgebaut war. Sie überquerten nur die Straße und standen schon vor dem Zelt. Der Auftritt von Marie müsste gleich beginnen. Sie waren gerade noch rechtzeitig eingetroffen. Ewen war ganz froh, nicht lange warten zu müssen. Die Lautstärke in dem Zelt war nichts für seine Ohren. Die Tanzdarbietung war nett, und Marie kam nach dem Auftritt zu ihnen und begrüßte sie. Obwohl das Zelt voller Menschen war, hatte sie ihre Mutter und Ewen sofort entdeckt.

„Hat es euch ein wenig gefallen?“, fragte sie, als sie bei den zweien angekommen war.

„Aber natürlich, ich habe es genossen“, sagte Carla, und Ewen stimmte ihr etwas verhalten, höflich zu. Er hätte sicherlich einen anderen Ausdruck an Stelle von genossen gewählt.

„Wir müssen uns gleich für die nächste Vorführung fertig machen, wir haben noch drei weitere Auftritte. Ich kann nicht lange bei euch bleiben. Ihr bleibt doch noch hier, bis alle Darbietungen vorüber sind?“

„Aber natürlich, Marie, wir wissen doch, dass du an den Auftritten beteiligt bist und sind auch deswegen hier“, meinte Carla und strich ihrer Tochter liebevoll über das Haar, ohne ihre Trachtenhaube zu berühren. Marie verabschiedete sich von ihrer Mutter und Ewen und ging wieder zu den anderen Mitgliedern der Truppe.

Ewen Kerber hatte versehentlich sein Dienst-Handy in seiner Jackentasche gelassen. Wenn er dienstfrei war, trug er es für gewöhnlich nicht bei sich. Heute war Paul Chevrier der diensthabende Kommissar. Es war nicht davon auszugehen, dass sich etwas für die Mordkommission ereignete. Doch, wie das Sprichwort schon sagt, unverhofft kommt oft.

Das Handy klingelte und Ewen Kerber griff instinktiv, ohne groß darüber nachzudenken, in seine Jackentasche und nahm es heraus. Er konnte Carlas missmutigen Blick wahrnehmen, die genau wusste, dass ein Klingeln seines Diensthandys nichts Gutes erahnen ließ.

„Kerber“, meldete er sich.

„Ewen, hier ist Paul, es tut mir leid, dass ich dich heute an deinem freien Tag stören muss, aber ich weiß, dass du in Concarneau bist. Ich bin in der Ville Close. Wir haben einen Toten! Ich glaube, du solltest ihn dir ansehen.“

Paul Chevrier schwieg und wartete auf eine Erwiderung von Ewen Kerber. Ewens Gedanken kreisten weniger um das, was Carla gleich sagen würde, sondern mehr um die Frage des warum. Warum sollte er sich den Toten ansehen? Das konnte nur bedeuten, dass es eine Beziehung zu dem Mann geben musste. Es dauerte nur wenige Sekunden bis Ewen antwortete, doch kam es Paul wie eine Ewigkeit vor.

„Ich komme in einigen Minuten“, sagte er zu Paul und fügte noch hinzu, „wo finde ich dich?“

„Hinten in dem Park, unweit der Anlegestelle der kleinen Fähre, des bac.“ Ewen legte auf und drehte sich zu Carla um.

Carla sah ihn an, sie wusste, dass er sich gleich von ihr verabschieden würde.

„Carla, ich bin in einer halben Stunde wieder zurück. Wir haben einen Toten, nebenan in der Ville Close. Paul hat mich gebeten, ihn mir anzusehen. Bitte verzeih, dass ich dich hier alleine zurücklasse. Ich treffe dich nachher vor dem Restaurant Amiral?“ Ewen zeigte mit der Hand in Richtung der Avenue Pierre Guéguin.

„Ich werde dich schon wiederfinden“, meinte Carla, die sich an dieses unstete Leben bereits gewöhnt zu haben schien. Ewen gab ihr einen Kuss und verließ das Zelt. Die Menschenmenge die sich über den Bürgersteig in die Altstadt wälzte schien dasselbe Ziel zu haben. Ewen drängte sich durch die Menge. Dieses „du solltest ihn dir ansehen“ beschleunigte seine Schritte. Nach 200 Metern erreichte er die Brücke, die das Festland mit der kleinen Insel im Hafenbecken von Concarneau verband. Rasch überquerte er sie, ohne auf die Darbietungen der diversen Straßenkünstler zu achten.

Aus dem Innenhof hinter dem Eingangstor drang bereits bretonische Musik an sein Ohr.

Ganz eindeutig konnte er die Töne von Bombarde und Biniou kozh vernehmen.

Diese beiden Instrumente sind für die Bretagne besonders charakteristisch. Die Bombarde, oder wie die Bretonen sagen, ar vombard, ist ein Blasinstrument, das von der Schalmei abstammt. Es hat einen durchdringenden, grellen Ton. Den Dudelsack, oder Biniou kozh, kennt man aus Schottland. Beide Instrumente gehören nicht zu Ewens Favoriten. Obwohl er ein echter Bretone ist, seine Vorfahren stammen alle, soweit er wusste aus der Bretagne, hat er sich bisher nicht mit den beiden Klangkörpern anfreunden können.

 

Im Vorbeigehen sah er auch noch den Stand der PS, der sozialistischen Partei, die hier bereits Werbung für die anstehenden Wahlen betrieb. Er achtete nicht auf die Menschen, die sich am Stand aufhielten. Er versuchte möglichst rasch durch den Innenhof zu gelangen und betrat durch das zweite Tor die total überfüllte Rue Vauban der Altstadt. Er kam sich vor wie in einer Sardinenbüchse. Der Vergleich schien ihm für Concarneau genau passend zu sein.

Zu Carla hatte er vorhin gesagt, dass er in einer halben Stunde wieder zurück wäre. Wenn es so weiterging, dann bräuchte er schon mehr als die Hälfte der Zeit für den einfachen Weg. Er überquerte jetzt den Place Saint-Guénolé, das Gedränge nahm im hinteren Teil der Altstadt deutlich ab. Nach weiteren drei Minuten traf er bei seinem Kollegen Paul Chevrier ein.

„Hallo Ewen“, begrüßte Paul seinen Kollegen, „ich wollte dich an deinem freien Wochenende zwar nicht stören, aber als ich sah, wer hier liegt, musste ich dich dann doch belästigen.“

Ewen Kerber winkte nur ab und signalisierte Paul damit, dass es schon in Ordnung war.

„Lass mich den Toten sehen.“

Paul ging einen Schritt zur Seite. Ewen sah in das Gesicht von Alain de Rochefort.

„Das ist allerdings ein Hammer, den Mann habe ich schon fast vergessen. Der ist Staatssekretär im Verteidigungsministerium gewesen, ist dann zufällig in unseren Fall verwickelt worden, als wir den Tod von Germaine Kerivel aufzuklären gehabt haben. Was hat der Mann hier in Concarneau gemacht?“

„Gute Frage, Ewen, noch interessanter ist die Frage, warum er jetzt tot ist? Ein Schuss aus nächster Nähe, direkt ins Herz.“

„Hmm, gibt es irgendwelche Zeugen?“

„Nein, das junge Paar dort drüben hat den Mann gefunden und die Polizei alarmiert. Es sind zwei Amerikaner, die mit dem Kreuzfahrtschiff Atlantic Star heute Morgen hier eingetroffen sind, und die spätestens in drei Stunden wieder auf dem Schiff sein müssen.“

„Ich will sofort mit den beiden sprechen. Vielleicht können sie uns ja etwas Wichtiges sagen.“

Ewen ging zu den beiden und sprach sie auf Englisch an.

„Guten Tag, mein Name ist Ewen Kerber, ich bin von der police judiciaire aus Quimper. Erzählen Sie mir doch einfach, was Sie gesehen haben.“

Paul und Nancy Malcom sahen Ewen an. Beide zuckten leicht mit der Schulter. Dann begann Paul zu sprechen.

„Viel gesehen haben wir nicht. Wir sind durch den kleinen Ort spaziert und haben in einem Restaurant gegessen. Als wir nach dem Essen weitergegangen sind, haben wir die Leiche hier gefunden. Daraufhin haben wir sofort die Polizei gerufen. Wir haben Glück gehabt, dass uns der Mann am Telefon verstanden hat. Das ist schon alles gewesen.“

„Nicht ganz, wir haben den Mann kurz zuvor in unserem Restaurant gesehen. Er hat in Begleitung eines anderen Herrn am Tisch neben uns gegessen. Wir haben sogar ein Foto von den zwei Männern. Paul hat mich fotografiert. Da es dort recht eng gewesen ist, sind die beiden Männer auch aufs Bild gekommen. Sie haben sich gestritten. Wenigstens hat es den Anschein gemacht, als sie das Restaurant verlassen haben. Der Mann der jetzt hier liegt ist nach rechts und der andere Mann ist die Hauptstraße hinuntergegangen. Ich habe den Eindruck gehabt, dass er zum Ausgang gehen wollte. Später haben wir ihn dann aber auf dem Weg zu der kleinen Fähre gesehen. Da ist er allerdings in Begleitung einer Frau gewesen.“ Nancy hatte die Aussage von Paul ergänzt und sah Ewen an.

„Dürfen wir jetzt weitergehen? Wir müssen bald wieder aufs Schiff.“

Ewen Kerber hatten den beiden genau zugehört, ohne sie zu unterbrechen.

„Sie haben gesagt, dass Sie ein Foto von den zwei Männern haben, können Sie mir das Bild zeigen?“

Nancy nahm ihren Fotoapparat aus der Tasche und reichte ihn Ewen.

„Es müsste das vorletzte Bild sein“, fügte sie hinzu.

Ewen drehte sich um und versuchte Dustin Goarant von der Spurensicherung auszumachen. Er fand ihn und sah, dass er dabei war, unter einer Hecke, hinter der Leiche nach Spuren zu suchen.

„Dustin!“

„Ewen, ich bin hier oben.“

„Dustin, du hast doch bestimmt dein Notebook dabei. Kannst du mir ein Bild von der Kamera herunterladen?“

„Natürlich habe ich mein Notebook, das brauche ich doch für meine Notizen.“

Dustin kam auf Ewen zu und holte sein kleines Notebook aus dem Alukoffer, der gleich hinter dem Absperrband stand. Ewen gab ihm die kleine Speicherkarte aus der Kamera der beiden Amerikaner. Dustin schob sie in sein Notebook. Schnell hatten sie das richtige Bild gefunden und kopiert.

Dustin wollte die Karte bereits wieder herausnehmen, als Ewen ihn bat, noch ein anderes Bild zu vergrößern. Es war das Bild, das Pierre Cornec von den beiden Amerikanern vor der Ville Close aufgenommen hatte.

„Hübsches Paar“, meinte Dustin.

„Mich interessieren weniger die zwei jungen Amerikaner, vielmehr die beiden Männer, die in die Ville Close gehen.“ Ewen zeigte auf zwei Männer, die auf dem Bild neben einigen anderen Touristen zu sehen waren. Der eine war eindeutig de Rochefort, und bei dem anderen handelte es sich um seinen Begleiter.

„Wie konntest du die beiden denn erkennen?“ Dustin glaubte schon an überirdische Fähigkeiten von Ewen.

„Ich habe niemanden erkannt, aber da die Aufnahme vorher gemacht worden ist, wollte ich sie mir ansehen. Manchmal braucht man auch Glück. Kopiere mir das Bild bitte ebenfalls.“

Dann wandte Ewen sich erneut den jungen Amerikanern zu.

„Wer hat das Bild von Ihnen aufgenommen?“

„Das war der junge Fotograf, der vor der Ville Close einen Verkaufsstand von Fotografien betreibt. Von dem Mann haben wir auch noch ein kleines Bildchen gekauft.“

Die Betrachtung der anderen Bilder brachte keine weiteren Erkenntnisse. Ewen gab den jungen Leuten die Kamera zurück.

„Haben Sie etwas von dem Inhalt, über den die beiden Männer im Restaurant gesprochen haben, mitbekommen?“

„Da können wir Ihnen nicht weiterhelfen. Die beiden sprachen französisch miteinander. Wir sprechen die Sprache leider nicht.“

„Dumm von mir, ich habe nicht weiter darüber nachgedacht“, sagte Ewen zu den beiden. Dann fügte er aber noch hinzu:

„Bitte geben Sie uns noch ihre genaue Anschrift und ihre Telefonnummer, falls wir noch Fragen haben. Wir können Sie ja bestimmt auf dem Schiff erreichen?“

„Sicher, wir haben beide Handys“, antwortete Paul Malcom und gab Ewen die Nummern. Dann entließ Ewen die zwei.

Als er zu seinem Kollegen zurückkam, war der schon dabei, die anderen Passanten zu befragen. Aber keiner konnte sich an den Mann erinnern.

„Paul, versuch doch möglichst schnell nach seinem Wagen zu fahnden. Kläre aber zuerst mit der Zulassungsstelle ab, ob er immer noch denselben Wagen fährt, den Jean-Paul Claude, unser Kollege aus Paris, damals durchsucht hat,.“

Jean-Paul Claude, Kommissar aus Paris, ist ihnen behilflich gewesen, als sie bei ihrem letzten Fall in Quimper ermittelt haben. Es ist damals um die Ermordung einer Frau gegangen. Der Staatssekretär, Alain de Rochefort, ist dabei in die Ermittlungen geraten.

Paul sah auf die Uhr und erinnerte Ewen daran, dass er sich langsam wieder um Carla kümmern müsse.

„Ach du großer Gott, ich habe Carla glatt vergessen. Ich habe ihr vorhin gesagt, dass es nur eine halbe Stunde dauern würde. Jetzt sind schon fast 50 Minuten verstrichen. Wir sehen uns am Montag im Kommissariat!“ Damit machte Ewen sich auf den Weg zum Restaurant l´Amiral. Er hoffte, dass Carla nicht allzu sauer auf ihn war.

Das Grand défilé de cercles et bagadou würde ja erst am morgigen Sonntag stattfinden. Er würde mit Carla noch einmal herkommen, da er es versprochen hatte. Der Umzug war Ewen ein Gräuel. Zweieinhalb Stunden dauerte er, und das Gedränge war fürchterlich.

Carla wartete am verabredeten Ort. Als Ewen eintraf sprach sie mit einer Freundin, die ebenfalls nach Concarneau gekommen war. Das Gespräch hatte wohl schon etwas länger gedauert, und so war es Carla gar nicht aufgefallen, wie lange Ewen fort gewesen war. Sie stellte ihn ihrer guten Bekannten vor. Nachdem sich die Freundin verabschiedet hatte, fragte Carla Ewen nach dem Grund des Telefonanrufes.

„Du kannst dich bestimmt erinnern, ich habe dir von unserem letzten Fall erzählt. Damals ist ein Staatssekretär involviert gewesen. Genau dieser Mann liegt jetzt tot in der Ville Close. Irgendwie ist es schon recht seltsam. Der Mann hat damals von seinem Posten zurücktreten und sich einem Verfahren wegen Korruption unterziehen müssen. Die Strafe ist nicht so gravierend ausgefallen. Warum er jetzt hier ermordet worden ist, ist überraschend.“

„Musst du jetzt sofort wieder zurück zu Paul?“

„Nein, wir treffen uns am Montag im Kommissariat. Vielleicht telefoniere ich am Sonntag kurz mit ihm. Aber selbstverständlich begleite ich dich zum Grand défilé de cercles et bagadou.“

Ewen vernahm erneut die bekannten Klänge der Dudelsackspieler und ging mit Carla wieder in das große Zelt zu den nächsten Darbietungen.