Der Tote von Trévarez

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Kapitel 3

Ewen Kerber genoss den Nachmittag in seinem Garten. Carla lag auf ihrer Liege und sonnte sich genussvoll.

In den letzten drei Wochen war das Wetter regnerisch und kalt gewesen. Das Frühjahr zeigte sich nicht unbedingt von seiner schönsten Seite. Im Januar und Februar waren fast täglich gewaltige Stürme über die Bretagne hereingebrochen. Windgeschwindigkeiten zwischen 100 und 180 Km/Std hatten das Meer aufgepeitscht und gewaltige Wellen waren mit zerstörerischer Wucht gegen die Küste gestürzt. Täglich wurde in den Nachrichten von neuen Schäden berichtet und die Bevölkerung war aufgerufen worden die Küste zu meiden. Drei Menschen hatten ihre Neugierde bereits mit dem Leben bezahlt. Sie waren an den Stränden unterwegs gewesen und von den gewaltigen Wellen erwischt und hinaus aufs Meer gezogen worden. Manche Wellen waren weit über zehn Meter hoch und hatten teilweise die Befestigungen entlang der Küste zerstört. Da war es kein Wunder, dass die Menschen sich nach Sonne und Wärme sehnten und die ersten Boten genossen.

Ewen las ein Buch über die Geschichte der bretonischen Sprache, das er vor einiger Zeit zufällig gefunden hatte, Carla genoss einen Kriminalroman. Einen kleinen Sommervorrat hatte sie bereits vor einigen Tagen gekauft. Die friedliche Stille in ihrem Garten, die von dem Gezwitscher der Vögel begleitet wurde, war ein Genuss. Es ist ein Stück vom Glück dachte sie sich, als sie von ihrer Lektüre aufsah und in den strahlend blauen Himmel blickte.

„Wir haben es sehr schön hier, Ewen! Meinst du nicht auch?“

Ewen sah von seinem Buch auf und nickte zustimmend, als er Carla ansah.

„Die Bretagne kann sehr schön sein, nur mag sie sich nicht immer so zeigen.“

„Ach, Ewen, was wäre die Bretagne ohne die Stürme und ohne den Regen? Zu der Wildheit gehört eben auch das rasch wechselnde Wetter. Ich liebe es so.“

Das Klingeln des Telefons brach fast wie ein Gewitterdonner in diese harmonische Situation ein. Ewen nahm sein Mobiltelefon, das neben seinem Stuhl auf dem kleinen runden Gartentisch lag. Er sah auf dem Display, dass das Kommissariat anrief.

Er nahm den Anruf entgegen. Ausgerechnet an diesem Wochenende hatte er Rufbereitschaft.

„Kerber“, meldete er sich und lauschte, was der Anrufer ihm zu sagen hatte.

„Bonjour, Monsieur le Commissaire, wir haben soeben die Information von der Notrufzentrale erhalten, dass ein Passant einen Toten im Park vom Schloss Trévarez gefunden hat. Es ist eindeutig ein Verbrechen. Der Tote hat eine Schusswunde in der Schläfe.“

„Haben Sie schon die Spurensicherung und den Pathologen verständigt?“

„Beide sind bereits unterwegs nach Trévarez, Monsieur le Commissaire.“

„Gut, ich mache mich auch sofort auf den Weg.“

Ewen Kerber legte das Telefon zur Seite und sah zu Carla hinüber.

„Du brauchst nichts zu sagen, Ewen, die Pflicht ruft schon wieder?“

„So ist es, ich habe leider Dienst an diesem Wochenende. Es passiert ja nicht oft etwas rund um Quimper. Aber wenn das Wetter einmal so schön ist, dann treibt es anscheinend auch die Verbrecher raus. Im Park von Trévarez hat man eine Leiche gefunden. Ich versuche, nicht allzu lange wegzubleiben.“

Ewen erhob sich aus seinem Stuhl und ging zu Carla, gab ihr einen flüchtigen Abschiedskuss und machte sich auf den Weg nach Trévarez.

Die Fahrt zum Schloss von Trévarez, das in der Nähe der kleinen Ortschaft Saint-Goazec lag, dauerte fast 40 Minuten. An der Pforte zum Schlosspark zeigte Ewen seinen Ausweis und bat, mit seinem Fahrzeug zur Fundstelle der Leiche fahren zu können.

„Selbstverständlich, Monsieur le Commissaire.“

Der Mann zeigte ihm den Weg zum hinteren Eingang des Parks.

„Wir haben bereits für ihre Kollegen den Zugang geöffnet. Die Fundstelle der Leiche liegt unmittelbar hinter dem rückwärtigen Eingang.“

Ewen wendete seinen Wagen und fuhr um das große Areal des Parks herum zum hinteren Eingang. Er hatte das große eiserne Tor gerade durchfahren, als er auch schon die Fahrzeuge der Spurensicherung und des Pathologen sah. Er sah seinen Freund Dustin Goarant bei der Arbeit mit den Kollegen. Es war Dustin wohl genauso ergangen wie ihm. Auch er durfte bei diesem wunderschönen Wetter Dienst tun. Ewen stieg aus und ging auf die Absperrung zu. Sein Blick fiel auf das majestätisch wirkende Schloss auf dem Hügel.

Jetzt entdeckte er auch Yannick Detru, ihren Pathologen, der sich, aus dem Unterholz kommend, einen Weg an den Rhododendrenbüschen vorbeibahnte.

„Hallo Ewen, ich habe mir den Toten bereits angesehen. Der Mann ist erschossen worden, vermutlich aus nächster Nähe. Ein Schuss ist in den Brustkorb eingedrungen, ein anderer direkt in die Schläfe. Ich meine, dass der Mord hier passiert ist.“

„Wie lange ist er schon tot?“

„Ich schätze, dass er so gegen Mitternacht erschossen worden ist. Genauer kann ich es dir erst sagen, wenn ich ihn auf dem Tisch habe.“

„Vielen Dank, Yannick, ich sehe mir die Leiche auch noch an.“ Yannick Detru machte sich auf den Weg zurück nach Quimper.

Ewen Kerber ging unter der Absperrung hindurch und trat an den großen purpurfarbenen Rhododendronstrauch heran. Dort lag die Leiche, ein Mann mittleren Alters, vielleicht Mitte 40. Seinem Anzug und der Krawatte entnahm Ewen, dass es sich wohl um einen Geschäftsmann handelte. Sein volles und dunkles Haar war erst kürzlich geschnitten worden.

„Hallo Dustin, hast du schon etwas gefunden?“

„Etwas? Das ist gut, hier wimmelt es nur so von weggeworfenen Zigarettenstummeln, Blechdosen und Taschentüchern, schnell entsorgt, anstatt sie die wenigen Meter bis zum nächsten Abfallkorb zu tragen. Ausweispapiere haben wir bei dem Toten keine gefunden. Seine Geldbörse fehlt, wie auch sein Handy und sein Schlüsselbund.“

„Raubmord?“ Ewen sah seinen Kollegen fragend an.

„Könnte sein, aber das herauszufinden wird deine Aufgabe sein.“

„Nun ja, dann fange ich am besten gleich an.“

„Seine Fingerabdrücke nehmen wir in der Pathologie, ich habe mit Yannick bereits gesprochen. Vielleicht helfen sie uns bei der Identifizierung.“

„Danke, Dustin.“

Ewen ging näher an den Toten heran. Er sah die kleine Schleifspur im Gras, von der Dustin gerade Fotos nahm. Der Mann musste direkt am Weg erschossen worden sein, war in den Rhododendronbusch gefallen und dann wohl noch zwei Meter weiter nach hinten gezogen worden, damit der Leichnam nicht sofort entdeckt wurde. Yannick ging von einer Ermordung um Mitternacht aus.

Der Park war um diese Zeit aber bereits lange geschlossen. Ein Zaun um das ganze Areal verhinderte ein einfaches Eindringen. Wie konnte der Täter in den Park gelangt sein? Er müsste sich mit dem Verwalter des Parks unterhalten.

Ewen wandte sich jetzt einem jungen Polizisten zu, der darauf achtete, dass sich kein Besucher der Fundstelle näherte.

„Wissen Sie, wer die Leiche gefunden hat?“

Der Mann nickte und deute auf Christophe Kerdiles, der in einiger Entfernung bei seiner Frau und seinem Kind stand.

Ewen bedankte sich bei dem jungen Mann und ging auf Christophe Kerdiles zu.

„Ewen Kerber, ich bin von der police judiciaire in Quimper, Sie haben den Toten gefunden?“

„Ja, eigentlich war es meine Tochter Pierrette, die ihn gefunden hat.“

„Nein, Papa, ich war es nicht! Es war Tecki, Tecki hat ihn gefunden.“

Ewen sah die Kleine an.

„So so, dein Hund hat den toten Mann gefunden.“

„Ja, Tecki hat ihn gefunden und weil ich mich so erschrocken habe und aufgeschrien habe, ist Papa angerannt gekommen.“

„Gut, das hätten wir jetzt geklärt. Ich werde deinem Papa aber doch noch einige Fragen stellen.“

Ewen sah Christophe wieder an.

„Haben Sie etwas verändert, als Sie den Leichnam gefunden haben?“

„Nein, ich habe sofort erkannt, dass der Mann tot ist. Das Loch in seiner Schläfe ist nicht zu übersehen gewesen. Daraufhin habe ich die Notrufnummer gewählt.“

„Ist Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen, als Sie hier eingetroffen sind?“

„Nein, gar nichts, der Weg hier unten ist nicht so überlaufen wie die anderen Wege. Die meisten Besucher nehmen den oberen Weg, um zurück zum Ausgang zu gehen. Wir sind mit unserem Hund etwas abseits gelaufen. Daher habe ich auch nicht so genau auf alles geachtet. Ich bin gerade dabeigewesen, an dem kleinen Bachlauf dort oben“, Christophe zeigte auf die Stelle, „einige Fotos zu machen, als unsere Tochter aufgeschrien hat.“

„Dann danke ich Ihnen fürs Erste. Geben Sie doch bitte Ihren Namen, Adresse und Telefonnummer meinem Kollegen, damit wir Sie erreichen können, falls wir noch Fragen haben.“

Ewen ging zurück zu Dustin, der die letzten Fundstücke in kleine Plastikbeutelchen steckte.

„Dustin, ich gehe zur Verwaltung, um einige Fragen zu klären. Ich bin gleich wieder zurück.“

Dustin nickte und Ewen machte sich auf den Weg zu dem kleinen Kassenhäuschen am Eingang. Der Weg führte ihn an den wunderschön blühenden Sträuchern vorbei. Das würde Carla bestimmt sehr gefallen, dachte er, als er die Blüten im Vorbeigehen betrachtete. An dem Kassenhaus stand der Mann, der ihm zuvor den Weg zum hinteren Eingang gezeigt hatte.

„Ich habe noch einige Fragen an Sie, Monsieur.“

„Nur zu, mein Name ist Yann Gloaguen, ich bin der Leiter des Parks, wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich nehme an, dass der Park nachts verschlossen wird?“

„Das sehen Sie richtig. Der Park ist mit einem Zaun gesichert und wir achten darauf, dass die Besucher den Park spätestens um 20 Uhr verlassen haben. Danach machen wir noch einen schnellen Rundgang und sehen nach, ob auch alle Besucher draußen sind. Wenn der Parkplatz auch leer ist, gehen wir davon aus, dass wir abschließen können.“

 

„Das heißt, der Tote und sein Mörder müssen nach 21 Uhr auf das Gelände gekommen sein?“

„Ja, das könnte hinkommen. Aber wie sie hier hereingekommen sind, das kann ich Ihnen nicht sagen. Die Tore sind alle verschlossen. Ich kann mir nur vorstellen, dass die Leute über den Zaun geklettert sind.“

„Oder durch ein Loch im Zaun?“

Ewen sah seinen Gesprächspartner an.

„Wir haben den Zaun erst vor vier Wochen kontrolliert, da ist kein Loch gefunden worden.“

„Wer hat einen Schlüssel zu den Toren?“

„Nun, unsere beiden Kassierer, meine Sekretärin, der Leiter der Gärtnerei und ich.“

„Könnte ich mit den Leuten sprechen?“

„Natürlich können Sie mit den Angestellten sprechen. Aber der zweite Kassierer und meine Sekretärin, sowie der Leiter der Gärtnerei, sind heute nicht anwesend. Morgen dürften alle wieder hier sein.“

„Sie haben Ihren Schlüssel?“

Der Verwalter griff in seine Hosentasche und holte ein Schlüsselbund hervor.

„Hier ist er, ich habe damit am Morgen aufgeschlossen und in meinem Büro noch einiges erledigt, bevor die ersten Besucher gekommen sind. Danach habe ich mich hier bei unserem Kassierer aufgehalten.“

„Ich muss Sie noch fragen, was Sie gestern in der Zeit von 22 Uhr bis Mitternacht gemacht haben.“

„Das ist einfach, ich bin mit meiner Frau bei Bekannten in Lorient eingeladen gewesen. Wir sind kurz vor Mitternacht dort weggefahren. Unsere Bekannten können das sicherlich bestätigen.“

„Wohnen Sie in der näheren Umgebung des Parks?“

„Nein, ich wohne in Gourin.“

„Ich danke Ihnen für die Informationen und für ihr Verständnis.“

Ewen machte sich wieder auf den Weg zurück zum Tatort.

Sie würden wohl den ganzen Zaun untersuchen müssen, um eine eventuelle Öffnung zu finden. Es ist doch eher unwahrscheinlich, dass der Mann und sein Mörder im Anzug über den Zaun geklettert sind, um sich hier zu treffen. Natürlich könnte es so gewesen sein, ausschließen dürfte er es nicht. Aber entweder hat es eine Öffnung gegeben oder sie haben einen Schlüssel benutzt. Wenn alle Schlüsselinhaber noch im Besitz ihres Exemplars sind und zudem ein Alibi für die Tatzeit besäßen, dann könnte es noch sein, dass ein Schlüssel nachgemacht worden ist. Die Alibis von allen Beschäftigten müssten überprüft werden. Erst dann könnten sie sicher sein, dass keiner von ihnen etwas mit dem Mord zu tun hat.

„Ewen nahm sein Telefon und wählte die Nummer des Kommissariats. Er ließ sich mit dem diensthabenden Beamten verbinden.

„Kerber hier, ich benötige einige Beamte, die das ganze Gelände um den Park von Schloss Trévarez herum überprüfen. Können Sie das veranlassen?“

„Am Sonntag?“

„Ja, natürlich heute! Es ist wichtig. Wir haben hier einen Mord aufzuklären.“

„Ich will versuchen einige Männer zusammenzubekommen. Ich kann noch nichts versprechen.“

Ewen Kerber legte auf und sah sich weiter am Tatort um. Er glaubte nicht, dass er noch etwas finden würde. Dustin hatte alles gut untersucht. Er wollte sich eher einen Eindruck von der Fundstelle verschaffen.

Das hintere Eingangstor war etwa 300 Meter vom Tatort entfernt. Unmittelbar hinter dem Tatort ragte der Giebel eines Hauses über die Bäume. Ewen folgte dem Weg in die Richtung des Tores und betrachtete das Haus etwas genauer. Sein Blick fiel in den großzügigen Garten des Anwesens und auf die Rückseite des Hauses. Das Haus war ganz aus Granit gebaut, wohl älteren Datums aber in einem ganz hervorragenden Zustand. Er würde sich das Haus näher ansehen und mit den Bewohnern sprechen. Vielleicht war ja dem Besitzer in der vergangenen Nacht etwas aufgefallen.

Die Spurensicherung war inzwischen fertig. Die Leiche lag bereits in einem Metallsarg und war auf dem Weg in die Pathologie nach Quimper. Dustin winkte Ewen zum Abschied zu und stieg in sein Auto.

Er sah, dass sich zwei Polizeifahrzeuge dem Parkeingang näherten. Sie hielten vor ihm an. Aus jedem Wagen stiegen drei junge Polizisten und kamen auf Ewen zu.

„Commissaire Kerber?“, fragte der erste junge Mann.

Ewen Kerber nickte und reichte dem Mann die Hand.

„Sie haben Unterstützung angefordert?“

„Stimmt, meine Herren“, sagte Ewen und begrüßte auch die anderen Polizisten, die sich inzwischen um ihn herumgestellt hatten.

„Wir haben genau hier einen Toten gefunden.“

Ewen zeigte auf den dunkelvioletten Rhododendronbusch hinter sich.

„Der Mann muss gegen Mitternacht in den Park gelangt sein. Das gesamte Anwesen ist mit einem Zaun gesichert und die Kleidung des Mannes hat nicht so ausgesehen, als wäre er vorbereitet gewesen über Zäune zu klettern. Ich möchte ausschließen können, dass es an einer Stelle einen Zugang gibt. Ihre Aufgabe ist es jetzt, um den ganzen Park zu gehen und akribisch nach einer Öffnung im Zaun zu suchen. Achten Sie bitte auch auf eventuelle Spuren, die sich an einer solchen Öffnung finden können. Sollte es Spuren geben, dann muss die Spurensicherung sich die Umgebung auch ansehen. Wenn Sie nichts finden sollten, dann können wir eher davon ausgehen, dass der Mann mit einem Schlüssel in den Park gelangt ist. Es reicht mir, wenn ich morgen früh einen kurzen Bericht bekomme. Vielen Dank meine Herren.“

Damit ließ Ewen die jungen Polizisten alleine. Er ging zu seinem Dienstwagen und stieg ein. Er wendete seinen Wagen und fuhr die wenigen hundert Meter zum Tor hinunter. Ein kleiner Feldweg führte zu dem Haus, dass er bereits vom Park aus gesehen hatte. Er folgte dem Weg und kam an die Frontseite des Hauses.

Ewen Kerber stieg aus und ging auf das Haus zu. Am Briefkasten stand der Name David Roudaut. Ewen drückte auf den Klingelknopf und hoffte, dass jemand zuhause war.

Nach wenigen Augenblicken hörte er Schritte im Haus.

Als die Tür geöffnet wurde stand ein Mann vor ihm, ungefähr 50 Jahre alt. Seine Haare waren grau meliert und relativ kurz geschnitten. Er trug ein weißes Hemd und eine gestreifte Krawatte zu den Jeans. An den Füßen trug der Mann schwarze Lackschuhe. Ewen erschienen es ungewöhnliche Hausschuhe.

„Sie wünschen?“, fragte der Mann und sah Ewen an.

„Bonjour, Monsieur Roudaut, das ist doch ihr Name?“

„Stimmt, ich bin David Roudaut, mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Verzeihen Sie die Störung, Kommissar Ewen Kerber, von der police judiciaire aus Quimper.“

Ewen zückte seinen Ausweis und zeigte ihn Monsieur Roudaut.

„Bonjour, Monsieur le Commissaire, was kann ich für Sie tun?“

„Ich untersuche einen Mord, der gestern Abend im Park hinter ihrem Haus verübt worden ist. Da interessiert mich, ob Sie irgendetwas Ungewöhnliches, sagen wir zwischen 22 Uhr und Mitternacht, gehört oder gesehen haben?“

„Gestern Abend? Lassen Sie mich nachdenken, gestern Abend war ich bis gegen 22 Uhr in Coray. Als ich nach Hause kam, war alles ruhig.“

„Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen, als Sie hier eintrafen? Zum Beispiel, ob das Tor zum Park offen stand. An dem kommen Sie ja vorbei.“

„Das Tor zum Park? Ich kann mich nicht erinnern, dass es offen gewesen wäre. Das Tor ist immer geschlossen.“

„Ich danke Ihnen, Monsieur Roudaut, sollte Ihnen noch etwas einfallen, dann können Sie mich jederzeit erreichen. Hier ist meine Karte.“

Ewen verabschiedete sich von dem Mann und ging zurück zu seinem Wagen. Nachdem er eingestiegen war, sah er nochmals in Richtung der Haustür. Monsieur Roudaut stand immer noch in der Tür und sah ihm nach. Ewen wendete und fuhr den kleinen Feldweg zurück.

Im Kommissariat ging er in sein Büro und notierte seine ersten Notizen an seiner Pinnwand. Das erleichterte den Austausch der Informationen mit dem Kollegen Paul Chevrier und diente ihm als Gedächtnisstütze.

Wie immer platzierte er den Toten in der Mitte, um alle weiteren Angaben darum herum eintragen zu können. Monsieur Roudaut trug er genauso ein wie den Verwalter des Parks, Yann Gloaguen. Der Tote war noch namenlos und so stand nur Toter in dem aufgemalten Kreis. Sobald er die ersten Fotos erhielt, würde er das Bild des Toten einfügen.

Ewen hatte erst einmal genug und machte sich auf den Heimweg.

Kapitel 4

Am nächsten Morgen traf Ewen kurz vor neun Uhr im Kommissariat ein. Paul Chevrier, sein Kollege und Freund, war bereits seit acht Uhr im Büro und las die Berichte des Pathologen und die Berichte der Spurensicherung.

„Bonjour, Ewen, du hattest gestern etwas zu tun!“

Paul hob den Bericht des Pathologen hoch. Ewen blieb an der geöffneten Bürotür stehen.

„Bonjour, Paul.. Ja, in Trévarez hat ein Toter im Park gelegen. Hast du schon den Bericht des Pathologen?“

„Hier steht, dass der Mann gegen Mitternacht ermordet worden ist, mit zwei Schüssen. Der erste Schuss hat ihn in die Brust getroffen, der zweite in die Schläfe. Den zweiten Schuss hat der Mörder abgegeben, als der Mann bereits auf dem Rücken gelegen hat. Sieht wie eine Exekution aus.“

„Haben wir von Dustin schon etwas über die Identität des Opfers erhalten? Er hat die Fingerabdrücke mit unserer Datenbank abgleichen wollen.“

„Nein, Ewen, in seinem Bericht steht davon nichts. Vielleicht hat er keine Vergleichsabdrücke finden können. Er schreibt, dass er weder Telefon noch Portemonnaie oder Ausweispapiere gefunden hat.“

„Wir werden alleine schon mit der Klärung der Identität eine Menge Arbeit haben. Du kannst ja nachfragen, ob am Wochenende jemand als vermisst gemeldet worden ist. Vielleicht wird unser Opfer ja bereits gesucht.“

„Mache ich sofort, Ewen, wir sollten sein Bild auch an die Presse geben.“

„Damit möchte ich noch etwas warten.“

Paul machte sich auf den Weg zur Abteilung, bei der die Vermisstenmeldungen aus der ganzen Region eintrafen. Ewen sah sich die gefundenen Beweisstücke vom Tatort an. Dustin Goarant hatte wie er es immer machte alle am Tatort gefundenen Gegenstände fein säuberlich in Plastiktüten gesteckt, auf DNA-Spuren untersucht und, soweit es bereits möglich war, eine erste Zuordnung vorgenommen. Auf einem Beutel mit einem Zigarettenstummel standen der Markenname und der Hinweis, selten. Ewen betrachtete den Stummel genauer. Er griff zum Telefon und wählte die Nummer von Dustin.

„Goarant“, meldete sich der Chef der Spurensicherung.

„Dustin, Ewen hier, ich habe eine Frage zu dem Zigarettenstummel, den du mit der Beschriftung selten versehen hast. Was hat es damit auf sich?“

„Nun, wie du schon gelesen hast, die Marke ist eher selten vertreten in unseren Breiten. Es handelt sich um eine ägyptische Zigarette der Marke Cleopatra.

Falls die Zigarette von unserem Täter stammte, was wir nicht mit Sicherheit annehmen können, dann könnte der Fund durchaus hilfreich sein. Der Mann oder die Frau sind in Ägypten gewesen und haben sich die Zigaretten mitgebracht. Bei uns gibt es sie jedenfalls nicht zu kaufen.“

„Interessant, sehr interessant“, murmelte Ewen vor sich hin. Hab vielen Dank Dustin, vielleicht hilft uns das weiter.“

Ewen legte auf und betrachtete den kleinen Zigarettenstummel. Dann rief er seinen Freund Dustin ein zweites Mal an.

„Dustin, ich habe noch eine Frage. Habt ihr bei dem Toten Zigaretten, Streichhölzer oder ein Feuerzeug gefunden?“

„Du überlegst, ob die Zigarette von unserem Toten stammen könnte? Daran habe ich auch schon gedacht. Nein, wir haben weder Streichhölzer noch ein Feuerzeug bei ihm gefunden. Auch hat er keine Zigaretten bei sich gehabt. Ich habe vorsorglich aber den Pathologen gebeten zu überprüfen, ob der Tote vor seiner Ermordung geraucht hat. Yannick hat gesagt, dass der Mann Nichtraucher gewesen ist. Er hat keinerlei Spuren von Nikotin gefunden.“

„Danke, Dustin, genau das wollte ich wissen.“

Erneut legte Ewen auf und sah sich die weiteren Fundstücke an.

Als es an der Tür klopfte, blickte Ewen auf und sah einen jungen Polizisten im Türrahmen stehen.

„Monsieur le Commissaire, ich habe den Bericht von unserer Suche für Sie.“

Der junge Mann trat an Ewens Schreibtisch.

„Haben Sie etwas gefunden?“, fragte Ewen und nahm den Bericht entgegen.

„Nein, Monsieur le Commissaire, der Zaun um das gesamte Anwesen ist in einem ausgezeichneten Zustand gewesen. An den weiter abseits gelegenen Stellen ist der Zaun sogar noch höher gewesen. Es hat keinerlei Spuren gegeben, die auf ein gewaltsames Eindringen hindeuten können. Meine Kollegen und ich haben gut achtgegeben und auf niedergedrücktes Gras oder frisch abgebrochene Äste geachtet. Aber wir haben wirklich nichts gefunden.“

 

„Vielen Dank Kollege“, sagte Ewen und legte den Bericht auf den Schreibtisch.

Wenig später betrat Paul das Büro und hielt ein Blatt Papier in der Hand.

Ich habe hier die Liste der als vermisst gemeldeten Personen der letzten Tage. Darunter sind zwei Männer und eine Frau. Der eine Mann ist von seiner Frau als vermisst gemeldet worden, der andere Mann von seinem Freund.

„Dann sollten wir die beiden sofort aufsuchen. Vielleicht ist ja einer der beiden Vermissten unser Toter.“

„Dann lass uns sogleich hinfahren. Die Adressen der Personen die die Anzeigen aufgegeben haben habe ich vorliegen.“

Ewen und Paul machten sich auf den Weg zu ihrem Dienstwagen.

„Wohin fahren wir zuerst?“, fragte Ewen Paul und startete den Motor.

„Nach Pluguffan sollten wir zuerst fahren. Die zweite Anzeige kommt aus Douarnenez.“

„O.k. Wo genau in Pluguffan?“

„Wir müssen in die Rue du Lavoir. Die dürfte ziemlich nahe am Flughafen liegen.“

Ewen gab die Adresse in sein Navi ein und fuhr los. Über die Voie Express waren sie rasch in Pluguffan.

Das weiße Haus hatte leuchtend blaue Fensterläden. Die Tür und die Fenster waren mit Granitsteinen umrahmt, es machte einen typisch bretonischen Eindruck. Die beiden Kommissare durchschritten den gepflegten kleinen Vorgarten und klingelten an der Haustür. Ewen vernahm, wie eine Person eilig zur Tür gelaufen kam. Die Haustür wurde regelrecht aufgerissen und Ewen und Paul sahen in das enttäuschte Gesicht einer Frau, die jetzt vor ihnen stand. Sie hatte bestimmt gehofft, dass ihr Mann vor der Tür stand.

„Bonjour, Madame Bihan, mein Name ist Ewen Kerber. Das ist mein Kollege, Paul Chevrier. Wir sind von der police judiciaire aus Quimper.“

Ewen zeigte seinen Ausweis.

„Madame, dürfen wir eintreten?“

Die Frau blieb stumm und trat zur Seite, um den Kommissaren den Zugang zu ermöglichen. Sie schloss die Haustüre hinter sich und zeigte auf eine offen stehende Tür.

„Bitte treten Sie ein“, sagte sie mit zittriger Stimme.

„Madame Bihan, bitte erschrecken Sie jetzt nicht Wir müssen Ihnen ein Foto zeigen und Sie bitten, uns zu sagen, ob es sich um Ihren Mann handelt.“

Madame Bihan wurde jetzt noch bleicher, wenn das überhaupt noch möglich war. Die Stimme schien es ihr auch wieder verschlagen zu haben. Sie nickte, als Ewen das Bild aus seiner Jackettasche herausholte und es ihr zeigte.

„Das ist nicht mein Mann!“

Erleichterung machte sich in ihrem Gesicht breit und ihre Sprache kam zurück.

„Den Mann habe ich noch nie gesehen.“ Sie blickte Ewen und Paul an.

„Dann bedanken wir uns bei Ihnen, Madame Bihan, und verzeihen Sie die Unannehmlichkeit, die wir Ihnen eventuell bereitet haben.“

„Wissen Sie noch nichts von meinem Mann, Guy?“

„Madame Bihan, wir sind nicht vor der Vermisstenstelle. Ich denke, dass die Sie umgehend informieren wird, wenn sich etwas Neues ergibt.“

Ewen und Paul verließen das Haus und gingen zu ihrem Wagen.

„Der Frau haben wir einen gehörigen Schrecken eingejagt.“ Paul sah seinen Kollegen Ewen an.

„Sie hat sicher ihren Mann vor der Tür erwartet. Als wir ihr dann noch gesagt haben, dass wir ihr ein Bild zeigen müssen, da hat sie wohl befürchtet, dass ihr Mann tot ist. Nun ja, manchmal müssen wir Menschen verunsichern. Wohin geht es jetzt?“

„Nach Douarnenez, in die Rue du Pont.“

„Dann los, hoffen wir, dass wir nicht umsonst dorthin fahren.“

Die Strecke von Pluguffan nach Douarnenez führte über die D 765. Für die knapp 18 Kilometer brauchten sie nur eine gute viertel Stunde.

Die westlich von Quimper gelegene Kleinstadt, mit ihren 15.000 Einwohnern und dem Fischereihafen, ist in der gesamten Cornouaille, wie die Bretonen den südlichen Teil des Finistères nennen, durch seine Sardinenfischerei bekannt.

Ein guter Freund von Ewen lebt als Fischer in dem Ort. Er ist mit seiner Frau Carla schon des Öfteren bei Claude Cornic und seiner Frau Michelle zum Essen eingeladen gewesen. Claude kocht leidenschaftlich gerne und zudem sehr gut. Seine Spezialität ist die Lotte mit seiner sauce à l‘amoriquaine. Eine Soße, in die er eine ganze Flasche guten Weißwein gibt. Ewen liebt die Lotte à la façon Claude.

Heute würde er nicht bei Claude vorbeifahren können. Abgesehen davon, dass sein Freund bestimmt noch auf dem Meer weilte.

Claude fuhr im Sommer gewöhnlich gegen 22 Uhr mit seinen Kollegen raus aufs Meer. Wenn der Fang gut war, und sie ihre sieben Tonnen Sardinen gefangen hatten, dann kamen sie manchmal schon nach sechs oder acht Stunden wieder zurück. Das war jedoch nur an wenigen Tagen der Fall. Meistens blieben sie für zwei bis drei Tage auf dem Meer.

Die Rue du Pont war erreicht und Ewen konnte vor dem Haus parken. An der Gartenmauer war ein kleines Messingschild angebracht, auf dem der Name Thierry Guillem, Architekt stand. Neben dem Briefkasten waren die Klingel und eine Sprechanlage.

Paul klingelte und sie warteten, dass sich Monsieur Guillem meldete.

„Sie wünschen?“

Eine kräftige Männerstimme tönte aus der Sprechanlage.

„Monsieur Guillem? Paul Chevrier und Ewen Kerber von der police judiciaire in Quimper, wir hätten Sie gerne gesprochen.“

„Kommen Sie herein.“

Die Kommissare vernahmen jetzt einen Summton und sie konnten das Tor öffnen und durch den Vorgarten zum Haus gehen.

Monsieur Guillem war bereits an der Tür, als Ewen und Paul das Haus erreicht hatten.

„Was kann ich für Sie tun?“

Herr Guillem sah die beiden Kommissare erwartungsvoll an. Ewen ergriff das Wort.

„Monsieur Guillem, dürfen wir eintreten? Es geht um ihre Vermisstenanzeige.

„Haben Sie meinen Freund gefunden? Verzeihen Sie, bitte treten Sie doch ein.“

Monsieur Guillem führte Ewen und Paul in seine kleine Bibliothek, die gleichzeitig auch als Büro diente.

„Bitte meine Herren, nehmen Sie doch Platz.“

Er zeigte auf zwei Stühle vor seinem eleganten Palisanderholzschreibtisch.

„Ewen und Paul setzten sich. Monsieur Guillem trat hinter seinen Schreibtisch und setzte sich auf einen schönen Ledersessel.

Ewen holte das Bild aus dem Jackett und wandte sich an den Architekten.

„Monsieur Guillem, ist das Ihr Freund, den Sie gestern als vermisst gemeldet haben?“

Monsieur Guillem nahm das Foto in die Hand und sah es an. Ewen bemerkte, wie der Mann blasser wurde.

„Ja, meine Herren, das ist mein Freund, das ist Robert. Das ist ja entsetzlich. Was ist passiert?“

Ewen nahm das Bild, das Monsieur Guillem ihm wieder zurückreichte.

„Monsieur Guillem, wir haben Ihren Freund gestern im Park von Trévarez tot aufgefunden. Ihr Freund ist eindeutig ermordet worden. Können Sie uns bitte seinen vollständigen Namen nennen und auch seine Anschrift, damit wir seine Angehörigen informieren können?“

„Selbstverständlich, sein voller Name lautet Robert Courtain. Er wohnt in Quimper, in der Rue Charles Chasse. Robert hat keine weiteren Angehörigen, er ist alleinstehend gewesen. Wenn ich mich richtig erinnere, dann hat er keinerlei Geschwister. Auch seine Eltern sind bereits verstorben.“

„Was hat Monsieur Courtain beruflich gemacht?“

„Robert hat eine eigene Immobilienfirma geführt. Wir haben schon seit Jahren sehr gut zusammengearbeitet. Sein Büro liegt in Quimper, in der Rue du Parc. Er ist bestens bekannt in der Stadt und hat den Ruf eines sehr seriösen Immobilienhändlers. Die Firma nennt sich Odet-Immo.“

„Ja, von der habe ich schon gehört.“

Ewen konnte sich erinnern, dass Carla vor einigen Jahren eine Wohnung für ihre Tochter Marie über die Firma gesucht hatte.

„Wissen Sie, was Monsieur Courtain in Trévarez wollte?“

„Ich habe noch nicht einmal gewusst, dass er dorthin gefahren ist. Nein, mir gegenüber hat er nicht von Trévarez gesprochen. Er ist allerdings ein Liebhaber von Blumen gewesen. Vor einigen Monaten ist er auf die Île de Bréhat gefahren, um dort einige Tage Urlaub zu verbringen. Er hat die Insel wegen ihrer Ruhe aufgesucht. Ihre Blütenpracht ist ein weiterer Beweggrund für seine Reise gewesen, wie er damals gesagt hat. Wir haben uns für den Sonntagmorgen verabredet gehabt, um gemeinsam zum Fischen zu gehen. Als Robert dann nicht erschienen ist, habe ich es seltsam gefunden. Er hat nie ein Rendezvous mit mir vergessen. Ich habe daraufhin umgehend eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Der Beamte hat zwar gemeint, dass es noch etwas früh dafür sei. Ich habe aber darauf bestanden.“