Sie war meine Königin

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„Toll!“

Wie auf ein Stichwort kam meine Mutter die Treppe herunter. Sie hatte sich eine braune Hose und ein T-Shirt in derselben, nicht gerade sommerlichen Farbe angezogen. Sicher waren beide Kleidungsstücke aber sehr teuer gewesen. Meine Mutter hatte sich sogar dezent geschminkt, das erste Mal seit Melissas Tod. Das musste etwas zu bedeuten haben.

„Hallo Mama.“ Ich stellte meine Schultasche ab und umarmte sie.

„Hallo Constantin. Wasch dir bitte die Hände. Wir wollen essen.“

Als wir kurz darauf auf Wunsch meines Vaters nicht in der Küche, sondern am Esszimmertisch saßen, machte meine Mutter einen nervösen Eindruck und stocherte in ihrem Salat herum. Ich befürchtete schon, sie habe wieder diesen Bruno Buhr in unserem Garten gesehen, als sie mir erklärte: „Die Polizei kommt gleich zu uns. Sie ... haben den Kerl, der Melissa überfahren hat.“

„Was?“ Mir fiel vor Erstaunen fast das Besteck aus den Händen. So sehr hatte ich mir gewünscht, der Täter möge gefasst werden, und die Hoffnung inzwischen beinahe aufgegeben.

„Ja, es ist wahr“, bestätigte meine Mutter, und ihre Augen glänzten dabei tränenfeucht, während mein Vater einen eher zufriedenen Eindruck machte. „Das wurde auch Zeit“, sagte er nur.

Ein paar Minuten später klingelte es an der Gartenpforte. Mein Vater stand auf, um zu öffnen. Frau Bäumler, die an diesem Tag Dienst hatte, hatte er für den Rest des Tages freigegeben. Meine Eltern wollten unter sich sein, wenn die Polizei ihnen davon berichtete, wie es zu der Festnahme von Melissas Mörder gekommen war. Bei dem Gedanken wurde ich selbst auch ganz aufgeregt.

Mein Vater kehrte mit einem etwa gleichaltrigen Mann in unser Esszimmer zurück. Der Mann hatte kurzgeschorene schwarze Haare, vermutlich, weil er schon eine sichtbare Stirnglatze hatte. Er trug Jeans und ein weißes T-Shirt und hielt einen dünnen blassroten Papphefter in der Hand. Ein verdeckter Ermittler. So etwas kannte ich aus dem Fernsehen.

„Das ist Kommissar Stein“, stellte mein Vater den Mann vor. „Herr Stein: Meine Frau Marianne und mein Sohn Constantin.“ „Hallo, freut mich.“ Der Kommissar gab zunächst meiner Mutter, die sich kurz erhob, und dann mir, während ich ebenfalls aufstand, die Hand. „Aber ich sehe, ich störe Sie beim Essen.“

„Nein, nein“, widersprach meine Mutter. „Das Essen kann warten. Wir haben so lange gehofft, ...“ Tränen traten in ihren Augen, und sie konnte nicht weitersprechen.

„Setzen Sie sich doch bitte“, forderte mein Vater den Kommissar auf, der daraufhin am Kopf der Tafel Platz nahm und den Hefter vor sich auf den Tisch legte. Ich sah, dass auf dem Deckel in schwarzen Druckbuchstaben ein Aktenzeichen vermerkt war.

„Ich sagte es ja schon am Telefon“, begann Kommissar Stein. „Wir konnten tatsächlich den Mann dingfest machen, der Ihre Tochter überfahren und anschließend Fahrerflucht begangen hat. Von großer Hilfe war uns dabei ein Zeuge, der sich jetzt noch gemeldet und den Unfall sowie die ... Beseitigung des Opfers beobachtet hat. Der Zeuge hat sich das Kennzeichen des Wagens mittels einer Eselsbrücke eingeprägt. So konnte der Täter überführt werden. Er hat nach einem längeren Verhör alles gestanden, auch, dass ihn seine Schuldgefühle dazu getrieben haben, sich in der letzten Zeit, ... Zutritt zu Ihrem Grundstück zu verschaffen.“

„Was ...?“ Die Augen meiner Mutter weiteten sich vor Entsetzen.

„So ist es. Wir haben sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Das wollte ich Ihnen gern persönlich mitteilen. Damit Sie wieder ruhig schlafen können. Denn der Mann wird für seine Tat angeklagt werden und seine gerechte Strafe erhalten. Bis zum Prozess bleibt er in Untersuchungshaft.“

Meine Mutter wirkte nachdenklich. „Aber wie kommt es denn, dass sich jetzt noch ein Zeuge gemeldet hat? Das verstehe ich nicht ganz.“

„Der Zeuge stand verständlicherweise zunächst unter Schock und ist erst einmal wie geplant in den Urlaub gefahren. In einen längeren Urlaub. Eigentlich hatte er vorgehabt, das schreckliche Erlebnis zu vergessen. Das schlechte Gewissen hat ihn schließlich dazu gebracht, zu uns aufs Revier zu kommen und alles detailgenau zu schildern. Er wird sich dennoch wegen unterlassener Hilfeleistung verantworten müssen. Darauf können Sie sich verlassen.“

„Ist er da drin?“, fragte meine Mutter und zeigte auf den Papphefter.

„Der Zeuge?“, erkundigte sich Kommissar Stein. „Ja, natürlich. Seine persönlichen Daten und seine Aussage sind hier in der Akte. Aber das alles ist streng vertraulich. Ich bitte um Verständnis.“

„Nein, ich meine den Mann, der Melissa auf dem Gewissen hat“, stellte meine Mutter mit seltsam ruhiger Stimme klar. „Ist er da drin?“ Sie zeigte erneut auf den Hefter.

„Ja, auch sämtliche Angaben zum Täter sowie das Vernehmungsprotokoll finden sich in dieser Akte. Der Täter ist vorbestraft. So viel darf ich Ihnen wohl verraten. Wegen wiederholter Trunkenheit am Steuer.“

„O Gott ...“ Meine Mutter fasste sich an den Mund. „Hat er schon mehrere ...?“

„Nein“, antwortete Kommissar Stein. „Es sind glücklicherweise keine weiteren Menschen durch ihn zu Schaden gekommen. Bis auf Ihre Tochter. Leider.“

Einen Moment lang herrschte betroffenes Schweigen. Dann sagte meine Mutter: „Ich möchte sein Gesicht sehen.“

Der Kommissar zögerte. „Tut mir leid, aber ...“

„Kann ich bitte das Gesicht des Mannes sehen, der meine Tochter getötet hat?“, drängte meine Mutter.

„Wie gesagt, das geht leider ...“

„Hören Sie, Herr Kommissar“, schaltete sich nun mein Vater ein. „Wir wissen, Sie haben Ihre Vorschriften. Und die wollen meine Frau und ich auch gar nicht infrage stellen. Aber es würde insbesondere meiner Frau ungemein helfen, wenn sie den Mann sehen könnte, der für den Tod unserer Tochter verantwortlich ist. Es würde helfen zu verstehen, warum das alles passiert ist. Ich weiß nicht, ob das für Sie nachvollziehbar ist.“

„Natürlich kann ich das verstehen“, beeilte sich der Kommissar zu versichern. „Aber der Datenschutz ...“

Mein Vater sah ihn eindringlich an.

„Also ich denke, wenn ich den Namen unter dem Bild mit der Hand abdecke ...“, bot Kommissar Stein schließlich als Kompromiss an, nahm den Hefter hoch vor sein Gesicht und blätterte in dieser Position darin, so dass niemand von uns den Inhalt der Mappe sehen konnte. „Also gut ...“ Er legte die aufgeschlagene Akte auf den Tisch und seine Hand unter das Foto, das einen etwa fünfzigjährigen Mann zeigte, der mit seinem unrasierten Gesicht, dem dünnen, ungeschnittenen Haar und dem dafür umso dickeren Schnurrbart aussah wie ein gewöhnlicher, wenn auch etwas ungepflegter Durchschnittsbürger.

„Das also ist er“, flüsterte meine Mutter. „Wurde das Foto nach der Tat aufgenommen?“

„Nein“, erklärte Kommissar Stein. „Das Bild ist etwa drei Jahre alt. Der Mann ist wie gesagt vorbestraft und daher in unserer Datei.“ Er schloss die Akte, ohne einen Blick auf den Namen unter dem Foto zu gewähren.

„Aha ...“ Meine Mutter sah den Polizeibeamten an. „Wie lange wird es bis zum Prozess dauern?“

„Oh, schwer zu sagen“, lautete seine vage Antwort. „Einige Monate, schätze ich.“

„Und können wir in dem Prozess nicht als Nebenkläger auftreten?“, wollte meine Mutter wissen. „So etwas gibt es doch, oder? Ich habe so etwas schon im Fernsehen gesehen. Du kennst dich doch damit aus, Konrad. Können wir in dem Prozess als Nebenkläger auftreten?“

„Also, das halte ich für keine gute Idee“, wehrte mein Vater ab. „Allein der ganze Medienrummel. Das wird viel zu viel für dich. Und auch für Constantin. Wir wollen endlich wieder zur Ruhe kommen, statt dem Täter in der Gerichtsverhandlung zu begegnen. Und wir werden zur Ruhe kommen. Jetzt, wo dieser Mistkerl gefasst ist. Alles Weitere überlassen wir der Staatsanwaltschaft und dem Richter.“ Er sah zu Kommissar Stein. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn der ganze Prozess so diskret wie möglich und ohne Einbeziehung der Presse ablaufen könnte. Meine Frau hat schon genug durchgemacht. Unsere ganze Familie hat schon genug durchgemacht.“

„Ich fürchte, das liegt nicht in meiner Verantwortung ...“ Kommissar Stein machte eine hilflose Geste.

„Ich weiß. Ich kümmere mich darum. Noch heute werde ich mit dem zuständigen Staatsanwalt sprechen.“

„Ich denke, ich werde mich nun wieder auf den Weg machen.“ Der Kommissar nahm die Akte und erhob sich.

„Natürlich.“ Mein Vater stand ebenfalls auf. „Ich begleite Sie noch zur Tür.“ Dabei sah er den Kommissar auf, wie ich fand, verschwörerische Art an.

„Frau Hart.“ Kommissar Stein gab meiner Mutter und anschließend mir die Hand, bevor er mit meinem Vater das Esszimmer verließ. Mein Vater schloss hinter den beiden die Tür.

„Ich muss mal aufs Klo“, sagte ich zu meiner Mutter, die ganz in Gedanken versunken war, verließ eilig das Esszimmer und achtete darauf, ebenfalls die Tür hinter mir zu schließen.

Draußen vor der angelehnten Haustür hörte ich meinen Vater mit dem Polizeibeamten sprechen. Ich schlich mich im Flur so nah heran, dass ich jedes Wort verstehen konnte.

„Du warst wirklich überzeugend“, hörte ich meinen Vater anerkennend sagen. „‚Der Zeuge hat sich das Kennzeichen des Wagens mittels einer Eselsbrücke eingeprägt.‛ Darauf muss man erst einmal kommen.“ Er lachte wie über einen gelungenen Scherz.

„Weißt du eigentlich, dass ich durch so eine Aktion meinen Job verlieren kann?“, erwiderte der Kommissar verärgert.

„Du schuldest mir noch viel mehr als diesen Auftritt“, erwiderte mein Vater kalt. „Und das weißt du auch. Und zu gegebener Zeit werde ich die Restschuld einfordern. Verlass dich drauf.“

„Ich wünschte, ich wäre nie so einem Mistkerl wie dir über den Weg gelaufen“, schimpfte der Polizeibeamte.

 

„Vorsicht, Vorsicht“, drohte mein Vater ironisch. „Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen, Herr Kommissar Stein. Sei also besser weiterhin höflich zu mir. Dann passiert dir und deiner hart erarbeiteten Karriere auch nichts.“

„Du bist so ein verdammtes ...“

„Sollte ich erneut deine Hilfe benötigen, werde ich es dich wissen lassen. Bleib also besser jederzeit für mich erreichbar.“ Mein Vater trat in den Flur und schloss die Haustür. Dann sah er mich.

„Das war gar kein echter Kommissar!“, warf ich ihm wütend vor. „Du hast Mama und mich angelogen!“

„Doch, das war ein echter Kommissar“, widersprach mein Vater in ruhigem Tonfall.

„Er hat uns angelogen, weil du es so wolltest!“, beharrte ich.

Mein Vater legte seine Hände auf meine Schultern und sah mir fest in die Augen. „Deine Mutter ist in letzter Zeit sehr traurig, Constantin“, teilte er mir betrübt mit. „Sie ist traurig, weil Melissa tot ist. Und Melissa ist tot, weil du nicht auf sie aufgepasst hast. Du hast sie alleingelassen, obwohl ich euch gesagt habe, dass ihr immer zusammenbleiben sollt. Das habe ich euch gesagt. Erinnerst du dich?“ Seine Stimme klang bei diesen harten Worten, die für mich so schmerzhaft wie ein Faustschlag in die Magengrube waren, unpassend sanft. „Und haben deine Mutter und ich dir Vorwürfe gemacht, Constantin? Habe ich mit dir geschimpft, weil du Melissa im Stich gelassen hast? Habe ich dich bestraft, weil du mir hinsichtlich der Uhrzeit, als du Melissa zurückgelassen hast, ins Gesicht gelogen hast, wie sich später herausgestellt hat?“

Ich senkte den Blick und schüttelte den Kopf, während sich ein Kloß in meinem Hals bildete.

„Sieh mich an, wenn ich mit dir rede, Constantin“, forderte mich mein Vater streng auf. „Nur Feiglinge und Versager weichen den Blicken anderer aus.“

Ich gehorchte, denn ich wollte vor meinem Vater nicht als Feigling und Versager dastehen. Aber genauso wenig wollte ich jetzt vor ihm weinen, denn so etwas hasste er. Dann würde er anfangen, gnadenlos auf mir herumzuhacken. Dabei konnte er sehr gemein werden. Das wusste ich von früheren Begebenheiten sehr genau.

„Kommissar Stein ist ein alter Freund von mir“, erklärte mein Vater wieder in diesem sanften Tonfall. „Ein alter Freund, der mir noch einige Gefallen schuldet. Weil ich ihm früher einmal geholfen habe, als er in einer Notsituation war. Du darfst es nie vergessen, wenn du jemandem in einer Notsituation geholfen hast, Constantin, denn zu einem späteren Zeitpunkt musst du Wiedergutmachung fordern. Sonst hatte deine Hilfe für dich ja keinen Sinn. Und behalte auch immer Dinge im Blick, die du über andere weißt und gegen sie verwenden könntest. Das ist sehr wichtig im Leben.“

Ich nickte gelehrig, weil ich wusste, dass mein Vater das von mir in diesem Moment erwartete.

„Du hast Recht“, räumte mein Vater ein. „Kommissar Stein hat gelogen. Der Mann, der Melissa überfahren hat, ist nicht gefasst und wird es vermutlich auch nicht mehr werden. Es sei denn, er stellt sich freiwillig, wovon ich nicht ausgehe. Dafür ist er bei der Tat zu berechnend vorgegangen. Er ist niemand, der die Nerven verliert. Es ist wichtig, Menschen richtig einschätzen zu können. Merk dir das. Kommissar Stein hat gelogen, weil ich ihn darum gebeten habe. Weil ich möchte, dass es deiner Mutter wieder besser geht. Und möchtest du das nicht auch? Möchtest du sie nicht endlich wieder lachen und singen hören? Möchtest du nicht, dass sie wieder regelmäßig an ihrer Diskussionsrunde teilnimmt, dass sie sich für bedürftige Menschen einsetzt? Möchtest du nicht mit ihr wie früher Dinge unternehmen? Dir Dinge von ihr schenken lassen? Sie hat dir und Melissa doch immer gern viele Dinge geschenkt – von meinem Geld. Aber lassen wir das. Willst du nicht, dass es wieder so wird wie früher? Dass wir drei wieder eine glückliche Familie sind, auch wenn Melissa für immer von uns gegangen ist? Oder möchtest du weiter erleben, dass deine völlig verängstigte Mutter sämtliche Räume im Haus verdunkelt, dass sie den ganzen Tag nur noch im Bett verbringt? Möchtest du allein deine Mahlzeiten einnehmen, allein Hausaufgaben machen, allein fernsehen, niemandem mehr erzählen, was du in der Schule erlebt hast?“ Mein Vater machte eine rhetorische Pause. „Du hast die Wahl, Constantin. Du kannst deiner Mutter die Wahrheit sagen, wenn du das für richtig hältst. Du kannst ihr sagen, dass alles, was Kommissar Stein erzählt hat, gelogen war. Ich werde dir nicht widersprechen. Stell dich aber darauf ein, dass du hier anschließend tagtäglich die Hölle erleben wirst. Dass du täglich in Angst um deine Mutter aus der Schule kommen wirst. Aber es gibt zum Glück noch eine zweite Möglichkeit: Du siehst ein, dass es vorteilhafter ist, unser kleines Geheimnis für dich zu behalten. Dann hast du bald die Mutter, die du von früher kennst, zurück. Das verspreche ich dir.“ Wieder machte mein Vater eine Pause. „Also, wie lautet deine Entscheidung?“

Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter. „Okay.“ Ich nickte.

„Okay – was?“ Mein Vater wurde streng. „Sprich in ganzen Sätzen, Constantin. Das sage ich dir nicht zum ersten Mal.“

„Ich ... verrate nichts.“

„Sehr schön!“ Mein Vater grinste breit, wie er es zu tun pflegte, wenn er von dem erfolgreichen Abschluss eines Mandats berichtete, und klopfte mir herzlich auf die Schulter. „Und jetzt, würde ich sagen, gibt es zur Feier des Tages für uns drei eine große Portion Eis zum Nachtisch. Was hältst du davon?“

3. Kapitel

In der Folgezeit ging es meiner Mutter tatsächlich besser. Durch die Festnahme des Mannes, der ihr Melissa genommen und unser Familienglück zerstört hatte, schien eine schwere Last von ihren Schultern gefallen, und die Momente, in denen sie so unbeschwert wie früher war, wurden häufiger. In diesen Momenten hatte ich dann immer das Gefühl, Melissa werde jeden Augenblick hereinstürmen und versuchen, mich zu ihrem Lieblingsspiel „Prinzessin und Aristokrat“ zu überreden. Aber sie kam natürlich nicht hereingestürmt. Weil sie tot war. Und ich allein war schuld daran. Mein Vater hatte es endlich ausgesprochen, als er mich dazu bringen wollte, meiner Mutter nichts von den Lügen des Kommissars zu erzählen. Er hatte das ausgesprochen, was ich die ganze Zeit über, seit das, was Melissa zugestoßen war, schreckliche Gewissheit für meine Eltern und mich geworden war, gefühlt hatte. Es war meine Schuld. Ich hatte meine eigene kleine Schwester auf dem Gewissen. Und meine Eltern hassten mich dafür. Sie zeigten es nicht offen, aber sie hassten mich dafür. Und ich konnte es ihnen nicht einmal verdenken.

Angelina war die Einzige, der ich mein Herz ausschütten konnte, die Einzige, der ich anvertrauen konnte, wie verzweifelt ich darüber war, dass ich den Tod meiner Schwester nicht rückgängig machen konnte, dass es nichts auf der Welt gab, was ihn wieder gutmachen könnte.

Guido verbrachte auf einmal jedes Wochenende bei seinem Vater. Als Grund dafür nannte er mir gegenüber die viele Hausarbeit, die er für Angelina verrichten müsse. Sein Vater habe ihm sofort angeboten, an den Wochenenden bei ihm und dessen neuer Familie zu wohnen, als Guido sich endlich durchgerungen hatte, ihm davon zu erzählen. Guido sagte mir auch, sein Vater überlege, das Jugendamt einzuschalten, damit Angelina das Sorgerecht für ihren Sohn entzogen werde, auch wegen der vielen Männer, mit denen sich Guidos Mutter ständig herumtrieb. Ich glaubte Guido noch immer kein Wort und nannte ihn nicht zum ersten Mal einen Lügner. Er nahm es gelassen hin. „Du kennst meine Mutter doch gar nicht“, erwiderte er nur. „Sie hat eine dunkle Seite, meint mein Vater. Und die zeigt sie nur wenigen.“

Ich hielt das für dummes Geschwätz. Vermutlich wollte Guido sich nur wichtig machen. Wenigstens war er mir aber nun an den Wochenenden nicht mehr im Weg, und ich hatte Angelina ganz für mich, zumindest bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie nicht anderweitig beschäftigt war. Auch wenn ich gern weitaus mehr Zeit mit ihr verbracht hätte, kostete ich jedes Wiedersehen mit ihr regelrecht aus. Samstags machte ich es mir zur Gewohnheit, Angelina in ihrem Salon einen Besuch abzustatten. Natürlich konnte ich sie dort nicht lange von der Arbeit abhalten, aber sie freute sich jedes Mal sehr, mich zu sehen, und das bewog mich dazu, vor dem Friseursalon auf sie zu warten, bis sie Feierabend machte. Anschließend lud mich Angelina manchmal in ihre Wohnung ein, manchmal seufzte sie aber auch bedauernd und entschuldigte sich dafür, dass sie leider schon verabredet sei. Dann wusste ich, dass sie wieder mit diesem Harry zusammen sein würde, und empfand bei diesem Gedanken Wut und Eifersucht zugleich, die ich jedoch vor Angelina so gut es ging verbarg. Ich war mir nicht sicher, ob mir das vollständig gelang.

Bei den glücklichen Gelegenheiten, wenn Angelina mich zu sich einlud, zeigte sie mir wie an dem Tag, an dem Melissa verschwunden war, die Fotos ihrer Familie, die größtenteils noch in Italien lebte, in den Fotoalben und an den Wänden. Sie erzählte dazu lustige Geschichten. Doch sie konnte auch sehr aufmerksam zuhören, wenn ich ihr schilderte, was Melissa auf ihrer Suche nach Walderdbeeren Furchtbares zugestoßen war, wobei ihre türkisfarbene „Prinzessinnentasche“ absurderweise nicht den kleinsten Kratzer abbekommen hatte. Ich beschrieb Angelina die Beisetzung meiner Schwester, den kleinen weißen Sarg, der über und über mit rosafarbenen und weißen Blumen geschmückt gewesen war, die vielen brennenden Kerzen. Und dass ich Melissa ihre Lieblingstasche zum Abschied in ihr Grab geworfen hatte. Ich rechnete damit, Angelina werde mir sagen, dass sie das alles nicht hören wolle – immerhin war das kein sehr unterhaltsames Thema -, doch sie ermutigte mich, wenn ich mich von ihr verabschiedete, sie wieder zu besuchen. „Du kannst mir alles anvertrauen“, versicherte sie mir. „Absolut alles.“

Angelina war so eine liebenswerte Frau. Ich verstand nicht, dass Guido das offensichtlich völlig anders sah.

Etwa zwei Monate nach dem Auftritt des Kommissars wurde ich zehn Jahre alt. Mein Geburtstag fiel auf einen Samstag, und meine Mutter hatte mir ganz selbstverständlich erlaubt, am Nachmittag all meine Freunde zu einer Party einzuladen. Inzwischen schien sie ausgelassenes Kinderlachen um sich herum regelrecht zu genießen. Nach der Schule besuchten mich nun ab und zu Schulfreunde, ohne dass meine Mutter das Geringste dagegen hatte, und dass ich, wenn meine Hausaufgaben erledigt waren, allein mit dem Fahrrad unterwegs war, war zum Glück ebenfalls kein Anlass für Diskussionen mehr.

Obwohl mich die Aussicht auf eine ausgelassene Geburtstagsfeier freute, bedauerte ich es gleichzeitig, den Nachmittag nicht bei Angelina verbringen zu können. Da sie mir am Samstag zuvor nicht zum ersten Mal mitgeteilt hatte, leider keine Zeit für mich zu haben, wollte ich den Misserfolg unbedingt so schnell wie möglich durch einen erneuten Besuch bei ihr wettmachen. Das wäre für mich das schönste Geburtstagsgeschenk gewesen. Stattdessen plagte mich wieder einmal rasende Eifersucht, während ich mir ausmalte, wie sie das Wochenende zuvor mit ihrem Freund Harry verbracht hatte und was sie an diesem Wochenende ohne mich unternehmen würde. Ich würde Angelina an diesem Wochenende jedenfalls nicht für mich haben, denn Guido, der inzwischen – nicht zuletzt aufgrund der Zuneigung, die ich ohne sein Wissen für seine Mutter empfand - mein bester Freund geworden war, hatte extra auf den Wochenendbesuch bei seinem Vater verzichtet, um an meiner Geburtstagsfeier teilnehmen zu können. Natürlich fand ich das sehr nett von ihm, aber die Anwesenheit seiner Mutter auf meiner Party hätte ich bei Weitem vorgezogen.

Am Morgen meines Geburtstags ging ich erwartungsvoll zum Frühstück nach unten. Es war Tradition, dass auf dem Küchentisch neben einem Geburtstagskuchen, auf dem Kerzen in der Anzahl meines Alters brannten, meine Geburtstagsgeschenke auf mich warteten. Auch Melissas Geburtstage waren immer auf diese Weise gefeiert worden. Da meine Mutter nun wieder in stabiler Verfassung war, stand es für mich außer Frage, dass diese Tradition fortgesetzt würde. Ich betrat die Küche. Meine Eltern saßen bereits am Tisch und frühstückten, wobei sich mein Vater wie immer hinter dem Wirtschaftsteil einer Zeitung verbarg. Der Platz, an dem ich saß, war wie immer eingedeckt. Und sonst war da überhaupt nichts Außergewöhnliches. Nichts, was auf meinen Geburtstag hindeutete. Das Herz wurde mir bei diesem trostlosen Anblick schwer. Wie hatte ich nur Geschenke erwarten können, wo mich meine Eltern doch hassten, weil ich Melissa auf dem Gewissen hatte.

 

„Constantin.“ Meine Mutter kam mir entgegen und drückte mich an sich. „Alles, alles Gute zum Geburtstag, mein Liebling. Jetzt bist du schon zehn!“

Mein Vater faltete raschelnd die Zeitung zusammen und erhob sich ebenfalls. Wie gewöhnlich am Wochenende war er leger gekleidet. Das hellblaue Sweatshirt, das er zu seiner gleichfarbigen Jeans trug, stand ihm ausgezeichnet. „Alles Gute zum Geburtstag, Constantin.“ Er legte mir kurz eine Hand auf die Schulter. Dann setzte er sich wie meine Mutter wieder hin und vertiefte sich erneut in seine Zeitung. Das war alles.

Ich nahm Platz und versuchte, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Dabei hätte ich am liebsten geweint wie ein Baby. Doch ich wusste, wie wütend „so ein Affentheater“, wie er es nannte, meinen Vater machte. Daher nahm ich schweigend einen Schluck von meinem Orangensaft und bestrich eine Scheibe Brot, auf die ich keinen Appetit hatte, mit Butter und Marmelade.

Mein Vater warf mir über seine Zeitung hinweg einen Blick zu. „Lust auf einen Ausflug?“, fragte er mich. „Nur wir beide.“

Ich glaubte, mich verhört zu haben. Mein Vater und ich hatten noch nie zusammen einen Ausflug gemacht. „Aber ich habe doch meine Freunde für heute eingeladen“, gab ich zu bedenken.

„Die kommen doch erst heute Nachmittag, oder etwa nicht? Bis dahin sind wir längst zurück.“

„Ja, dann ... gern“, zwang ich mich zu sagen. Dabei wollte ich mich wie ein Mädchen auf mein Bett werfen und heulen, weil meine Eltern mich hassten und bis an mein Lebensende hassen würden.

„Schön“, erwiderte mein Vater. „Stärk dich aber erst einmal in Ruhe. Es besteht kein Grund zur Hektik.“

Nach dem Frühstück folgte ich meinem Vater zu den Garagen. Zu meinem Erstaunen ging er nicht auf unsere „Familienkutsche“, wie er die teure geräumige Limousine bezeichnete, in der er gewöhnlich mit meiner Mutter und mir – sowie früher auch mit Melissa – herumfuhr, zu, sondern auf seinen Luxussportwagen, einen silberfarbenen Zweisitzer, den er hegte und pflegte. „Komm, steig ein“, forderte er mich ganz selbstverständlich auf und öffnete die Beifahrertür. Dabei hatte ich noch nie in diesem Auto gesessen. „Na los.“ Er lächelte mich einladend an. „Du bist jetzt zehn. Es wird Zeit, dass du erlebst, was dieser Wagen in sich hat.“

Im Wageninneren roch es nach den schwarzen Ledersitzen, als wäre das Auto nagelneu. Mein Vater fuhr aus der Einfahrt und beschleunigte gleich darauf, dass ich in meinen Sitz gedrückt wurde.

„Na, was sagst du?“, wollte er von mir wissen.

„Wow“, war alles, was mir über die Lippen kam.

Das ist ein Auto, was?“

Bei dem rasanten Fahrstil, den mein Vater anschließend an den Tag legte, was er sonst nie tat, fühlte ich mich ein wenig wie im Autoscooter. Ein Blick auf den Tachometer verriet mir, dass mich mein Gefühl nicht täuschte: Mein Vater fuhr viel zu schnell, über siebzig Stundenkilometer auf der Hauptstraße unseres Wohnortes. Als wir diesen hinter uns gelassen hatten, gab er erst richtig Gas und überholte alles, was uns in den Weg kam, wobei ich bei zwei Überholmanövern davon überzeugt war, dass dies das Ende war und wir beide durch einen Zusammenstoß mit dem Gegenverkehr an meinem Geburtstag sterben würden.

Zu meinem Entsetzen wandte mein Vater bei der Geschwindigkeit auch noch seinen Blick von der Straße, um mich, wenn auch nur kurz, anzusehen. „Angst?“, wollte er breit grinsend von mir wissen.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein.“ Dabei krallte ich mich mit schwitzenden Händen krampfhaft in die Seiten meines Sitzes, wohl wissend, dass mir das bei einem Unfall nicht im Geringsten helfen würde.

„Gut“, antwortete mein Vater ernst, die Augen wieder auf die Straße gerichtet. Die Straße, auf der Melissa durch einen Raser getötet worden war.

Wir erreichten die Großstadt, in der mein Vater das Tempo zum Glück drosseln musste. Dennoch wechselte er häufig atemberaubend schnell die Fahrspur und zwang so andere Autofahrer rücksichtslos zum Bremsen, um ihm den Weg freizumachen und einen Auffahrunfall zu verhindern.

Schließlich hielten wir in einem mehrstöckigen Parkhaus in der Innenstadt, ohne entgegen meiner Erwartung auch nur einen der Betonpfeiler zu rammen. Meine Beine zitterten beim Aussteigen. Ich hoffte, mein Vater bemerkte es nicht, doch der fixierte gerade zwei junge Blondinen, die an uns vorbeigingen.

„Und jetzt?“, fragte ich, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.

Mein Vater sah mich an. „Jetzt kommt die Überraschung.“ Er schloss den Wagen ab und klopfte mir kameradschaftlich auf die Schulter, bevor er noch einen letzten Blick auf die Blondinen warf, die gerade in einen Wagen stiegen.

An seiner Seite verließ ich das Parkhaus. Es war ein typischer Herbsttag, windig, der Himmel bleigrau mit nicht geringer Regenwahrscheinlichkeit. Ich bereute, wie mein Vater keine Jacke angezogen zu haben.

„Keine Sorge, es ist nicht weit“, sagte er, als hätte er meine Gedanken gelesen.

Wir gingen eine große Einkaufsstraße entlang. Hier war ich schon des Öfteren mit meiner Mutter gewesen, doch das schien lange her zu sein, zu einer Zeit, als Melissa noch lebte. Zu einer Zeit, als mich meine Eltern noch nicht hassten.

„So, da wären wir“, erklärte mein Vater und blieb vor einem Geschäft mit großen, bunt dekorierten Schaufenstern stehen.

Ich kannte es sehr gut. Hier hatten Melissa und ich auf den Einkaufsbummeln mit unserer Mutter am liebsten Station gemacht. Es handelte sich um eine riesige Spielwarenhandlung, deren umfangreiches Sortiment sich auf mehrere Stockwerke erstreckte, vermutlich das größte Geschäft dieser Art in der ganzen Stadt.

„Sollen wir reingehen?“, fragte mein Vater wohl eher rhetorisch.

Ich nickte. Vor uns öffneten sich automatisch die gläsernen Türen, und angenehm warme Luft strömte uns entgegen. Wir betraten eine große Eingangshalle, von der aus zwei Rolltreppen in die höher gelegenen Etagen führten. Selbst zu dieser noch recht frühen Tageszeit war das Geschäft bereits gut besucht, und wie bei unseren früheren Besuchen spielte im Hintergrund dezente Instrumentalmusik.

In dieser Eingangshalle war, wie ich fand, das Herzstück des gesamten Geschäfts ausgestellt, das sofort meine Aufmerksamkeit auf sich zog: eine riesige Modelleisenbahnanlage. Mehrere Züge fuhren vorbei an kleinen Bahnhöfen, Häusern, Menschen, Bäumen und Tieren über Brücken und durch Tunnel. Ich hatte damals, während meine Mutter und Melissa durch das Geschäft gestreift waren, die ganze Zeit wie gebannt vor dieser Eisenbahnanlage gestanden und mich an dem Anblick nicht sattsehen können. So eine Eisenbahnanlage hatte ich mir immer gewünscht und dies auch mehr als einmal gegenüber meiner Mutter zum Ausdruck gebracht. Doch meine Eltern waren der Ansicht gewesen, dass ich dafür noch zu jung sei.

Ein älterer dünner Mann mit Brille und spärlichem grauem Haar in einem dazu passenden grauen Anzug kam auf uns zu. Er legte anbiedernd seine Hände ineinander. „Guten Tag. Kann ich Ihnen helfen?“

„Guten Tag“, erwiderte mein Vater sachlich. „Ich bin Konrad Hart und würde gern den Geschäftsführer sprechen.“

„Herr Hart, freut mich sehr.“ Der Mann reichte meinem Vater die Hand. „Wir haben telefoniert. Ich bin Karl Kubaczek, der Geschäftsinhaber.“

„Herr Kubaczek, wie ich Ihnen bereits am Telefon mitteilte, hat mein Sohn heute Geburtstag.“

„Glückwunsch, Glückwunsch!“, unterbrach Herr Kubaczek begeistert und schüttelte meine Hand.

„Wie gesagt“, nahm mein Vater, ohne eine Miene zu verziehen, den Faden wieder auf, „mein Sohn hat heute Geburtstag und soll ein ganz besonderes Geschenk bekommen. Was können Sie uns da empfehlen?“

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