Ingas Spiel

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Ingas Spiel
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Janina Hoffmann

Ingas Spiel

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Ganz weit oben

2. Verschobene Synapsen

3. Nummer dreizehn

4. Freundinnen

5. Inga

6. Die Assistentin

7. TomTom

8. Der Stock

9. Auf der Überholspur

10. Das Ende einer Karriere

11. Das Gartenhaus

12. Nachts

13. Täuschungen

14. Ganz weit draußen

Impressum neobooks

1. Ganz weit oben

Es gibt nicht viele Menschen, die in ihrem Leben ganz oben ankommen. Zu den wenigen erfolgreichen Ausnahmen zähle ich, Dr. Britta Klein, Anwältin und Partnerin in einer renommierten Hamburger Kanzlei. Ich bekomme immer alles, was ich will. Und wenn nicht, nehme ich es mir. Und zwar ohne jegliche Rücksicht auf andere. Wie vor acht Jahren, als ich bei meiner Beförderung etwas nachgeholfen habe. Damals war ich vierunddreißig und konnte den Tag, an dem man mir als erster Frau in der Kanzleigeschichte die Partnerschaft anbieten würde, nicht erwarten. Verdient hätte ich es schon längst, wie mir auch wiederholt von meinem damaligen Vorgesetzten versichert wurde. Doch es gab ein Problem. Der Kreis der Partner hatte seit Gründung der Kanzlei immer aus zwölf Männern bestanden, und wenn diese inzwischen auch grundsätzlich gewillt waren, endlich einer Frau Zutritt in den heiligen Zirkel zu gewähren, so musste doch an der magischen Zahl unbedingt festgehalten werden. Ich hielt das für einen unsinnigen Aberglauben, hütete mich aber davor, meine Meinung kundzutun. Ich habe schon früh gelernt zu verschweigen, was ich wirklich denke, und zu verbergen, wie ich wirklich bin. Sonst wäre ich nicht nach ganz weit oben gekommen, wo ich heute bin, so viel steht fest.

Hamilton & Lace heißt die Kanzlei, in der ich seit meinem zweiten juristischen Staatsexamen hart arbeite. Dabei hat es dort nie Partner mit diesen Namen gegeben. Vielmehr ist der Kanzleiname eine künstliche Wortpaarung, die zugleich international-elegant klingt und einprägsam ist.

Meine damalige Chance auf einen Aufstieg würde somit erst kommen, wenn einer der zwölf Partner starb oder die Kanzlei anderweitig verließ. Zunächst übte ich mich in Geduld, doch die war bald erschöpft, ohne dass ich meinem Ziel auch nur einen Schritt näher gekommen war. Also entschloss ich mich zu handeln. Schließlich wollte ich nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auf eine Schicksalsfügung warten. Ich entwarf einen Plan, wie ich die Zahl der Partner zuverlässig auf elf reduzieren könnte. Dr. Karl Kuckuck, Anfang fünfzig und so unauffällig, dass es mir auffiel, war das schwächste Glied in der Kette. Das sagte mir mein scharfer Verstand. Das Büro von Karl Kuckuck war mit zahlreichen Bildern seiner Frau und seiner Kinder dekoriert. Waren es vier oder fünf Sprösslinge? Ich weiß es gar nicht mehr. Es spielt auch keine Rolle. Des Öfteren schon hatte Karl Kuckuck ungefragt von seinem ach so harmonischen Familienleben erzählt. Hier musste ich ansetzen. Also beauftragte ich einen Privatdetektiv, Karl Kuckucks Geheimnis in Erfahrung zu bringen. Denn in jedem Leben gibt es dunkle Geheimnisse. Jeder hat mindestens eine, idealerweise sogar mehrere Leichen im Keller. Das habe ich im Laufe der Jahre immer wieder festgestellt. Man muss sie nur finden. Und den Fund gewinnbringend einsetzen. Darin bin ich sehr gut.

Norbert Hanta heißt der Privatdetektiv, auf den ich schon seit Jahren setze. Als ich sein kleines, schäbiges Büro in der Hamburger Innenstadt das erste Mal betrat, wäre ich am liebsten sofort wieder gegangen. Es war kaum möglich, einen Schritt zu tun, ohne auf offene Akten und sonstige Unterlagen zu treten, die überall auf dem Boden verteilt waren. Auch auf dem Schreibtisch stapelten sich teilweise mit Kaffeerändern besudelte Papiere, dazwischen lagen irgendwelche halb aufgegessenen Lebensmittel. Und dann dieser furchtbar muffige Geruch. Als wäre dort seit Monaten nicht gelüftet worden. Doch ich entschloss mich zu bleiben und Norbert Hanta mein Anliegen vorzutragen, denn er galt als der absolut Beste in seiner Branche. In der Hinsicht hatte ich mich vorab natürlich gründlich informiert. Günstig war er auch nicht. Das versteht sich von selbst. Norbert Hanta hörte mir aufmerksam zu, nachdem er einen zweiten Stuhl für mich freigeräumt und ich Platz genommen hatte, und machte sich ab und zu ein paar Notizen. Ich schätzte ihn auf Ende vierzig. Sein Haar hätte einen Schnitt und eine Wäsche dringend nötig gehabt, und seine Kleidung hatte er wohl der Altkleidersammlung entnommen. Am Ende meines Vortrags nickte Norbert Hanta und sagte nur: „Ich regele das für Sie. Darauf können Sie sich verlassen.“ Und er hielt sein Wort.

Seit die Sache mit Karl Kuckuck so reibungslos funktioniert hat, engagiere ich hin und wieder Norbert Hanta, um belastendes Material zu beschaffen, mit dem ich Widersacher aus dem Weg räumen oder gefügig machen kann.

Was der Detektiv in Karl Kuckucks Leben fand? Oh, eigentlich etwas ganz Banales. Die entzückenden Kinder auf den Fotos in Karl Kuckucks Büro waren nicht seine eigenen. So etwas soll ja vorkommen. Nur wusste Karl Kuckuck es nicht oder gab zumindest vor, es nicht zu wissen. Karl Kuckucks Frau hatte wohl bald nach der Eheschließung, vielleicht auch schon davor, angefangen, ihren Mann regelmäßig zu betrügen. Der Privatdetektiv dokumentierte seinen Bericht mit zahlreichen Bildern der Ehefrau zusammen mit ihrem langjährigen Geliebten, dem alle Kinder wie aus dem Gesicht geschnitten waren. Anscheinend pflegte der Geliebte sogar heimlich Kontakt zu seinem Nachwuchs. Auch von diesen Treffen gab es Fotos.

Ja, so etwas ist bitter. Und für mich das Beste, was Norbert Hanta hätte aufspüren können. Ein Volltreffer. Doch wie sollte ich Karl Kuckuck damit konfrontieren, ohne mit der Geschichte in Verbindung gebracht zu werden? Schließlich wollte ich mir an ihm auf keinen Fall die Hände schmutzig machen. Nur verschwinden sollte er, und das schnell. Ich beschloss, Karl Kuckuck die Bilder anonym in einem als persönlich gekennzeichneten Umschlag in die Kanzlei zu schicken. Einen Zettel legte ich noch dazu, auf den ich mit verstellter Schrift geschrieben hatte: „‚Ihre‘ Kinder sind das Ebenbild ihres Vaters, nicht wahr?“ Natürlich hatte ich dabei Handschuhe getragen, um jegliche Fingerabdrücke zu vermeiden. Ich wollte zunächst abwarten, wie Karl Kuckuck auf diesen Brief reagieren würde, um ihn dann mit weiteren Schreiben zu erpressen. Er würde nicht lange durchhalten, das wusste ich.

Am darauffolgenden Tag brannte ich darauf, seine Reaktion zu erfahren. Leider lag Karl Kuckucks Büro ein Stockwerk über meinem. So gern hätte ich sein Gesicht beim Öffnen des Umschlags gesehen. Am Nachmittag hielt ich es nicht mehr aus und rief unter einem Vorwand seine Sekretärin an. Herr Dr. Kuckuck sei wegen Unwohlsein nach Hause gefahren, teilte sie mir mit. Das war ja schon einmal etwas.

Ich hatte vorgehabt, den so unauffälligen Karl Kuckuck aus der Kanzlei zu vertreiben. Das ist richtig. Dass er sich gleich umbringen würde, konnte ich nicht ahnen. Erst Tage später wurde er erhängt in einem Wald gefunden. In der Kanzlei brodelte die Gerüchteküche. Niemand konnte sich erklären, weshalb der immer so ausgeglichen wirkende Partner freiwillig aus dem Leben geschieden war. Ich beteiligte mich nicht an dem Klatsch, sondern begnügte mich damit, einen noch ernsteren Gesichtsausdruck als gewöhnlich aufzusetzen. Gut, ich hatte Karl Kuckucks Tod nicht gewollt, aber letztendlich stimmte das Ergebnis und ersparte mir auch noch eine mühsame und riskante Erpressung. Einen Monat wurde aus Anstand gewartet, bis ich von den Partnern einstimmig als Karl Kuckucks Nachfolgerin bestimmt wurde.

Wenn ich jetzt, im Jahr 2000, aus meinem geräumigen Büro im dritten Stock auf die Alster sehe, weiß ich, dass ich es geschafft habe. Die Bürofassade ist komplett aus Glas, das Gebäude noch ganz neu. Erst im vergangenen Jahr ist die Kanzlei aus dem alteingesessenen Backsteingebäude in diesen Prestigebau gezogen. Mein Eckbüro mit zwei Glasfassaden ist größer als das Wohnzimmer in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Mein weißer, riesiger Schreibtisch hat weitaus mehr gekostet, als meine Eltern mit ihrer Gärtnerei im Monat verdienen. Auf meinem weißen Lederarmstuhl sitzt es sich sehr bequem, obwohl sitzen eigentlich das falsche Wort ist. Vielmehr throne ich an meinem Schreibtisch. Alle zwölf Partner haben komfortable Eckbüros. Die Büros der angestellten Anwälte sind natürlich kleiner. Für die Sekretariate blieb an den Fensterfronten kein Platz mehr. Sie sind im fensterlosen Innenbereich, getrennt durch niedrige mobile Wände, untergebracht. Schon mehrfach gab es deswegen seitens der Sekretärinnen Klagen, denn im alten Backsteingebäude hatte jede ihr eigenes Büro mit Fenster. Was für eine Verschwendung. Ich sage nur: Augen auf bei der Berufswahl. Bürofläche in Hamburgs bevorzugter Lage ist teuer, und durch diese simple Umstrukturierung hat die Kanzlei jede Menge Geld eingespart.

 

Die Jahre bei Hamilton & Lace sind wie im Flug vergangen, und ich bin vermutlich schneller gealtert als in irgendeinem anderen Job. Inzwischen bin ich zweiundvierzig, und leider sieht man mir jedes Jahr an. Da kann das Facelifting, dem ich mich vor einem Jahr unterzogen habe, auch nicht mehr viel retten. Zwar habe ich jetzt ein paar Falten weniger, doch ich fürchte, die werden schneller wiederkommen, als mir lieb ist. Auch vermag die Faltenentfernung nicht, mir meine harten Gesichtszüge zu nehmen. Meine schmalen Lippen wirken zu verkniffen, mein Unterkiefer ist zu breit und kantig für eine Frau, und der Blick meiner grauen Augen ist ohne jedes Gefühl, obwohl ich mich sehr bemühe, meinen Mitmenschen etwas anderes weiszumachen. Durch mein dichtes, kurzes naturblondes Haar würden sich bereits die ersten weißen Strähnen ziehen, wenn ich es nicht konsequent färben würde.

Vermutlich sind es nicht nur die durchgearbeiteten Nächte und der stets hohe Stresslevel, die mich altern ließen, sondern die verdammten Tabletten, deren tägliche Einnahme für mich schon längst zur Gewohnheit geworden ist. Morgens, nach einer viel zu kurzen Nacht, nehme ich etwas, um wach zu werden. Oft fangen irgendwann im Laufe des Tages meine Hände an zu zittern. Wahrscheinlich esse ich nicht genug, vielleicht ist es auch der Stress. Dann hilft ein Mittel zur Beruhigung. Abends bin ich meistens noch so aufgedreht von den Ereignissen im Büro, dass ich ohne Tabletten nicht einschlafen kann. Gewöhnlich trinke ich dann, bevor ich ins Bett gehe, auch noch Rotwein dazu. Und ich bin Raucherin. Mein Zigarettenkonsum hat in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen. In der Kanzlei herrscht ein striktes Rauchverbot, doch darüber setze ich mich, seit ich Partnerin bin, ungerührt hinweg. Herrn Hummel, den Büroleiter, treibe ich damit regelmäßig zur Verzweiflung.

Es ist Mittagszeit, doch ich habe wie so oft keinen Hunger. Stattdessen rauche ich meine ich-weiß-nicht-wievielte Zigarette seit heute Morgen und sehe mir den Entwurf eines Unternehmenskaufvertrages an, den Sandra Kind, meine übergewichtige Sekretärin, nach Banddiktat für mich geschrieben und mir in einer Mappe vorgelegt hat. Schon nach flüchtigem Hinsehen entdecke ich auf der ersten Seite drei Tippfehler. Ein Wort hat sie ganz vergessen. Sandra Kind hat den Verstand eines Maikäfers, doch sie ist mir treu ergeben, und manchmal ist es ganz gut, dass sie nicht so weit denken kann. Mein Blick schweift zu meinem Tischkalender. Was habe ich da für morgen eingetragen? Manchmal kann ich meine eigene Schrift nicht entziffern. SK 30, soll das wohl heißen. Sandra Kind wird morgen dreißig Jahre alt. Ich hatte anscheinend einen guten Tag, als ich das notiert habe. Ehrlich gesagt, kann ich mich nicht daran erinnern. Ich werde Sandra Kind also wohl oder übel noch heute ein Geschenk besorgen müssen. Ein teures Geschenk natürlich. Nicht, weil mir Sandra Kind so viel bedeutet – im Gegenteil: sie ist für mich nur ein kleines, austauschbares Rad im Getriebe -, sondern weil es Eindruck macht und mich gut dastehen lässt. Das ist das Wichtigste. Ich muss für die Übergabe selbstverständlich einen Moment abwarten, in dem möglichst viele von Sandra Kinds Kolleginnen um sie geschart sind, dann wird sich meine Großzügigkeit schnell in der Kanzlei herumsprechen. Irgendein Armband für hundert Mark wird es wohl tun. Für mich ist das ein lächerlicher Betrag, doch für meine Sekretärin ist es viel Geld.

Ich beginne nun, jeden Tippfehler in dem Text rot anzustreichen, und finde immer mehr. Meine Formulierungen gefallen mir zum Teil auch nicht. Es war schon spät, als ich den Vertrag gestern diktiert habe. Daher habe ich jetzt umso mehr handschriftliche Korrekturen. Der Text ist von Rot durchzogen, als ich ihn zu Ende durchgesehen habe. Eigentlich müsste ich jetzt an dem Entwurf weiterarbeiten, denn morgen soll er an die Gegenseite versandt werden, und es gibt noch einiges daran zu verbessern. Doch ich beschließe, die Mappe aufzubewahren und Sandra Kind den missratenen Text morgen als besonderes Geschenk gemeinsam mit dem Armband zu überreichen. Ich werde sie enorm unter Zeitdruck setzen. Der Gedanke gefällt mir.

Ich habe nicht vor, viel Zeit für die Beschaffung des Geburtstagsgeschenks zu verschwenden, und gehe mittags eilig zum Juwelier um die Ecke. Außerhalb des klimatisierten Büros ist es fast unerträglich heiß. Die Sommersonne knallt auf den Asphalt. Schnell ist etwas Passendes für Sandra Kind gefunden: ein silbernes Armband mit eingearbeiteten Marienkäfern aus Glas. Ich bin mir sicher, genau den kitschigen Geschmack meiner Sekretärin getroffen zu haben, und wenn nicht, ist mir das auch egal. Zufrieden kehre ich ins Büro zurück. Nachdem ich die Post durchgesehen und an einer unnötig langen und unerfreulichen Telefonkonferenz teilgenommen habe, beginne ich, den Verlauf des Telefonats auf Band zu diktieren. Es ist schon fast 16:30 Uhr. Das wird heute noch ein langer Tag werden. Mein Kopf tut mir weh. Leider habe ich keine Schmerztabletten mehr. Um 17:00 Uhr klopft es zaghaft an meine Bürotür. So klopft nur Sandra Kind an. Sie hat jetzt Feierabend, doch sie darf das Büro nicht verlassen, ohne sich vorher erkundigt zu haben, ob ich sie noch brauche. Das habe ich ihr gleich am Anfang beigebracht. Das Ergebnis der Telefonkonferenz war für mich äußerst unbefriedigend, um nicht zu sagen eine Niederlage. Da kommt mir Sandra Kind gerade recht.

„Ich würde dann jetzt gehen, Frau Dr. Klein“, sagt Sandra Kind gewohnt leise und sieht mich mit ihrem Hundeblick an.

Ich versuche, meiner Stimme Mitgefühl zu verleihen, das ich nicht empfinde, als ich meiner Sekretärin antworte: „Ich fürchte, daraus wird nichts werden. Dieses Band muss heute noch abgetippt werden. Das kann leider nicht bis morgen warten.“ Eine Lüge.

Sandra Kinds Mopsgesicht sieht nicht überrascht aus. Sie hat wohl nicht wirklich damit gerechnet, heute pünktlich gehen zu dürfen, denn meistens lässt die Arbeitsmenge es nicht zu. Oder ich finde einen Vorwand, um ihr ihren Feierabend zu verderben, insbesondere dann, wenn die Dinge nicht so laufen, wie ich es mir vorgestellt habe. Wegen meiner Kopfschmerzen habe ich vermutlich ziemlich wirr diktiert. Damit wird meine Sekretärin ihre Mühe haben, hoffe ich.

Als ich Stunden später zu Hause ankomme, ist es schon fast 23:00 Uhr. Meine große Penthousewohnung liegt nicht weit von der Kanzlei entfernt. Trotzdem fahre ich jeden Tag mit meinem silberfarbenen Sportwagen zur Arbeit. Es soll ruhig jeder sehen, was für ein teures Auto ich mir leisten kann. Mein Anrufbeantworter blinkt. Zwei Nachrichten wurden hinterlassen. Die erste ist von meiner Mutter: „Na, Bridda?“, fragt sie mit ihrem breiten norddeutschen Akzent. „Dein Vadder und ich wollten nur hören, ob es dir gut geht, aber du bist noch gar nicht zu Hause. Arbeite nicht so viel, Deern.“ Löschen. Mit der zweiten Nachricht kann ich im ersten Moment überhaupt nichts anfangen. „Ciao Bella“, säuselt eine mir unbekannte männliche Stimme. „Hier ist Frederico. Wir müssen uns wiedersehen, Amore. Gleich morgen, ja?“

Frederico. Wer war das denn noch mal. Etwa der Kerl aus der Bar letztes Wochenende? Habe ich dem etwa meine Telefonnummer gegeben? Ich muss in Zukunft auswärts unbedingt weniger trinken. Aber ein Glas Rotwein zu Hause zum Abschluss dieses anstrengenden Tages wird ja wohl noch erlaubt sein. Dazu zwei Schlaftabletten, sonst liege ich wieder stundenlang wach und denke darüber nach, was ich morgen alles erledigen muss. Oder noch schlimmer: Ich schlafe ein und träume. Es ist immer derselbe Traum. Ich träume ihn schon seit Jahren und weiß jedes Mal schon zu Beginn, was passieren wird, und doch kann ich es nie verhindern. In dem Traum bin ich wieder sechs Jahre alt und habe diesen Unfall, der mein Leben so drastisch veränderte.

2. Verschobene Synapsen

Ich bin in einer kleinen Stadt in Norddeutschland mit dem Namen Sandburg aufgewachsen. Ein furchtbares Kaff, das ich, sobald es möglich war, verließ und später nur noch besuchte, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ. Meine Eltern arbeiteten in einer Gärtnerei am Stadtrand, die den Eltern meines Vaters gehörte. Die Gärtnerei war schon damals sein ganzer Stolz, wenn sie auch kaum Gewinn abwarf. Solange ich zurückdenken kann, arbeiteten meine Eltern sechs Tage die Woche von morgens bis abends, und doch reichte das, was sie verdienten, gerade aus, um über die Runden zu kommen. Meine Großeltern zogen sich immer mehr aus dem Geschäft zurück und wollten die Gärtnerei in einigen Jahren ihrem einzigen Sohn übergeben. Mein Vater hatte schon große Pläne, was er aus der Gärtnerei alles machen wollte, wenn sie ihm erst gehörte. Das Gewächshaus wollte er durch zwei riesige neue ersetzen und auf der Wiese, die zwischen der Gärtnerei und einem Wald lag, eine Baumschule errichten. Für die Verwirklichung seiner Vision scheute mein Vater auch nicht davor zurück, notfalls hohe Kredite aufzunehmen. Sicher konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehen, was es heißt, für den Rest des Lebens größtenteils für die Rückzahlung von Darlehen zu arbeiten.

Ich wusste damals noch nicht, was eine Baumschule war, und fragte mich, weshalb Bäume zur Schule gehen sollten. Vor einigen Tagen war ich sechs Jahre alt geworden und würde im Sommer eingeschult werden. Doch bis dahin waren es noch einige Monate, denn Weihnachten war gerade erst vorüber. Ich fand es sehr ungerecht, dass mein Geburtstag und Weihnachten so dicht zusammenlagen, und war davon überzeugt, dass ich anderenfalls mehr Geschenke bekommen würde. Jetzt teilten meine Eltern meine eigentlichen Weihnachtsgeschenke doch auf zwei Anlässe auf. Außerdem hatte ich in diesem Jahr nicht das bekommen, was ich mir schon seit Wochen so sehr gewünscht hatte: ein Lexikon, bestehend aus vierundzwanzig edlen Lederbänden. Es kostete mehrere Hundert Mark. Ich hatte die schönen Bücher in einem der Kataloge gesehen, aus denen meine Mutter manchmal etwas bestellte, und sie hatte mir umständlich erklärt, was ein Lexikon war. Von da an war ich überzeugt davon, dass dies das einzige ideale Geschenk für mich war. Wenn ich dieses Lexikon durchgelesen hatte, würde ich alles wissen. Das war mir sehr wichtig, denn ich glaubte schon damals, dass meine Eltern nur deshalb immer so viel über Geld sprachen, weil sie nicht wussten, wie man reich wird.

„So‘n Tüdelkram. Du spinnst wohl, Bridda“, hatte mein Vater gebrummt, als ich das Lexikon als Wunsch geäußert hatte. „Das kostet ein Vermögen. Und du kannst noch nicht einmal lesen.“

Um meinen Eltern entgegenzukommen, hatte ich sogar vorgeschlagen, dass dies mein Geburtstags- und Weihnachtsgeschenk zugleich sein könnte, und war von der Reaktion meines Vaters mehr als enttäuscht. „Aber ich komme doch bald zur Schule, und dann kann ich lesen“, argumentierte ich. „Bitte schenkt mir das Lexikon! Ich muss doch alles wissen!“

„Das Lexikon kannst du dir zur Konfirmation wünschen“, lenkte meine Mutter ein. „Jetzt bist du dafür noch viel zu jung. Außerdem ist es sehr teuer.“

„Euch ist es nur zu teuer, weil ihr nicht klug genug seid, um viel Geld zu verdienen!“, schrie ich verärgert.

„Pass bloß auf, Bridda!“, schimpfte nun mein Vater. „Gleich setzt es was!“

Damit war das Thema für meine Eltern erledigt, und ich hatte zum Geburtstag ein dämliches Brettspiel und zu Weihnachten eine Puppe samt Wagen bekommen. Ich hasste meine Geschenke, und ich war wütend auf meine Eltern, weil sie mir meinen großen Wunsch nicht erfüllt hatten. Dabei war ich doch ihr einziges Kind! Mein Bruder Wolf sollte erst im darauffolgenden Sommer zur Welt kommen und meine Schwester Inga zwei Jahre später.

Meine Eltern verbrachten die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr wie gewöhnlich von morgens bis abends in der Gärtnerei, und ich leistete ihnen wie immer Gesellschaft. Zurzeit waren Topfblumen und Gestecke mit einem Schornsteinfeger oder einem Kleeblatt als Glücksbringer für das neue Jahr 1964 gefragt, und meine Eltern hatten reichlich mit dem Bedienen der Kundschaft zu tun. Daher ließen sie mich wie gewohnt unbeaufsichtigt. Normalerweise machte es mir Spaß, auf dem großen Gelände herumzutollen, doch ohne das Lexikon war mir alles verdorben. Lustlos marschierte ich über den Hof. Es war ein eisiger, trüber Tag, aber leider gab es keinen Schnee. Mein Blick fiel auf den großen Holzschuppen, der als Lager diente. Eigentlich war es meinen Eltern egal, wo ich mich herumtrieb, nur das Gelände durfte ich nicht verlassen und auf keinen Fall den Schuppen betreten.

 

„Es ist gefährlich, zwischen der Ware herumzuturnen“, hatte mich mein Vater schon mehrfach gewarnt. „Es könnte etwas auf dich drauffallen oder du könntest irgendwo herunterfallen und dir das Genick brechen. Sollte ich dich im Schuppen erwischen, knallt es, Bridda, das sage ich dir.“

Bisher war ich immer folgsam gewesen und hatte den Schuppen gemieden. Doch wenn meine Eltern nicht auf mich hörten und mir statt des wunderbaren Lexikons irgendeinen Kinderkram schenkten, wieso sollte ich dann tun, was sie sagten? Der Schuppen war unverschlossen, wie ich feststellte. Leise knarrte die Tür, als ich sie öffnete und hinter mir schloss. Im Halbdunklen erkannte ich zahlreiche Kisten, die an den Wänden gestapelt waren. Wahrscheinlich enthielten sie Gartenzubehör. Säcke mit Blumenerde waren hoch aufgetürmt, und Gartengeräte lagen auf einem Haufen. Durch die kleinen Fenster des Schuppens fiel nur ungenügend Licht, doch ich traute mich nicht, das elektrische Licht einzuschalten, weil dann meine Eltern sehen könnten, dass jemand im Schuppen war. Mehrere Seile ganz oben in einem hohen Metallregal an der Wand zogen meine Aufmerksamkeit an. Ob ich eines davon als Springseil nutzen könnte? Ich beschloss, mir die Seile näher anzusehen, und begann vorsichtig, das Regal hinaufzuklettern. Es war nicht in der Wand verankert. Mir kam es vor, als würde es mit jedem Schritt, den ich machte, stärker wackeln. Auf halber Höhe hielt ich unentschlossen inne. Sollte ich nicht doch lieber wieder nach unten klettern? Die Seile waren noch immer ein ganzes Stück außerhalb meiner Reichweite. Aber wie sollte ich dann den Nachmittag verbringen? Hätte ich doch nur das schöne Lexikon! Darin waren bestimmt viele Bilder, die ich mir hätte ansehen können. Ich war wieder so wütend auf meine Eltern! Und mit meiner Wut wuchs auch mein Mut, mir eines der Seile zu holen. Zwei Regalfächer weiter oben hatte ich es fast geschafft. Die Seile waren in greifbarer Nähe. Aufgeregt stieg ich noch ein Stück höher. Dann hielt ich mich mit der linken Hand oben an der Regalfläche fest, um mit der rechten ein Seil zu nehmen. Wäre es in dem Schuppen richtig hell gewesen, hätte ich gesehen, dass die Fläche mit Öl beschmutzt war. Doch in dem halbdunklen Raum griff ich in die klebrige Masse. Meine linke Hand verlor den Halt. Meine rechte Hand fasste panisch in das Seilknäuel, das ich im freien Fall mit nach unten riss. Hart schlug ich mit dem Hinterkopf auf dem Betonboden auf. Dann wurde alles schwarz.

Als ich wieder zu Bewusstsein kam, dauerte es eine Weile, bis ich begriff, dass ich im Krankenhaus war. Mein Vater und meine Mutter saßen an meinem Krankenbett. Meine Mutter sah ganz verweint aus und betupfte mit einem Stofftaschentuch ihre Augen. Auch mein Vater schaute besorgt, aber als er sah, dass ich wach war, wirkte er plötzlich verärgert.„Bridda, wie oft habe ich dir ...“, setzte er an, bevor ihn meine Mutter leise unterbrach: „Bridda! Endlich bist du wach!“ Dann nahm sie erleichtert meine Hand. „Du hattest einen Schutzengel, Deern. Das hätte auch ganz anders ausgehen können.“

Die Krankenschwester wurde gerufen, die sofort einen Arzt informierte, dass ich wieder bei Bewusstsein war. Der Arzt stellte mir mehrere unsinnige Fragen. Ob ich meinen Namen wisse. Ob ich sagen könne, wer die Frau und der Mann an meinem Bett waren. Wie alt ich sei. Als ich eine Frage nach der anderen ohne zu überlegen beantwortete und den Arzt schließlich fragte, ob er mich für blöd halte, nickte dieser zufrieden, und meine Mutter begann vor Erleichterung wieder zu weinen.

Ungefähr eine Woche lang musste ich im Krankenhaus bleiben, dann wurde ich nach Hause entlassen. Meine Eltern behandelten mich wie ein rohes Ei und lasen mir jeden Wunsch von den Augen ab – bis auf das Lexikon, natürlich.

Wie durch ein Wunder hatte ich durch den Sturz nur eine Gehirnerschütterung erlitten, war aber ansonsten unverletzt geblieben. Die bisherigen Untersuchungen im Krankenhaus hatten ferner ergeben, dass ich keine bleibenden Schäden davongetragen hatte, doch die Krankenhausärzte rieten meinen Eltern, mich sicherheitshalber weiterhin regelmäßig von einem Kinderarzt untersuchen zu lassen.

Dr. Alfred Rabe machte mit seinem schwarzen Haar und seiner Hakennase seinem Namen alle Ehre. Einmal pro Monat statteten meine Mutter und ich in der Folgezeit seiner Praxis einen Besuch ab. Wir warteten jedes Mal lange in dem kleinen, stickigen Wartezimmer, bis wir endlich an der Reihe waren. Dr. Rabe ließ mich im Behandlungszimmer auf einem Bein stehen, mich im Kreis drehen, Tiere auf Bildern erkennen und Farben zuordnen. Dabei machte er sich Notizen und nickte zufrieden, wie der Arzt im Krankenhaus, während meine Mutter glücklich lächelte.

„Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Klein“, sagte Dr. Rabe nach der dritten Untersuchung. „Ihre Tochter hat den Unfall schadlos überstanden. Ich denke, weitere Untersuchungen werden nicht nötig sein.“

Da täuschte sich Dr. Rabe gewaltig. Ich hatte mein Gedächtnis durch den Sturz nicht verloren, auch Tiere und Farben konnte ich beim Namen nennen und ohne Probleme auf einem Bein stehen, und doch war mir etwas abhandengekommen, das ich nie wieder erlangte, so sehr ich mich anfangs auch bemühte: Ich hatte keine Gefühle mehr. In mir war alles wie tot. Ich empfand weder Freude über meine Genesung, noch war ich weiter böse auf meine Eltern, weil sie mir das Lexikon verweigerten. Es war mir egal. Ich spielte, weil ich wusste, dass das von mir erwartet wurde, aber es machte mir keinen Spaß. Später wurden Bücher zu meiner Hauptbeschäftigung. Darin konnte ich mich stundenlang vertiefen und musste dabei noch nicht einmal irgendwelche Gefühlsregungen zeigen. Ich las auch nie Geschichten zur Unterhaltung, sondern immer nur Sachbücher. Mein Ehrgeiz, alles zu wissen, wurde immer größer. Vielleicht sollte das Wissen die Lücke füllen, die die Gefühllosigkeit hinterlassen hatte. Nichts brachte mich mehr zum Lachen. Ich lachte nur, weil die anderen lachten. Nichts machte mir Angst, ich empfand nur ein leichtes Unbehagen. Nichts machte mich wütend, ich empfand nur leichte Verärgerung. Nichts machte mich glücklich, ich empfand nur eine leichte Genugtuung. Und während meine Eltern immer stolzer auf ihre Tochter wurden und mich alle für meine Klugheit bewunderten, hätte ich am liebsten geschrien: „Merkt ihr nicht, dass in mir alles leer ist? Begreift ihr nicht, dass mein Gehirn krank ist?“ Doch ich wusste, was Menschen, deren Gehirn krank war, angetan wurde. Sie wurden weggeschlossen. Sie verschwanden und kamen nie wieder. Und so erzählte ich nie jemandem, wie es in mir aussah.

Das ist bis heute so geblieben. Das Ironische ist, dass mich meine Gefühllosigkeit sehr erfolgreich macht. Ich konzentriere mich ganz auf meine Karriere. Etwas anderes interessiert mich nicht. Menschen interessieren mich nicht. Ich schiebe sie herum wie Schachfiguren. Ich manipuliere sie, und sie merken es nicht einmal. Ich sehe ungerührt dabei zu, wie sie durch meine Schachzüge unglücklich werden. Ihre Gefühle interessieren mich nicht. Ich tue nur so, und das sehr erfolgreich. Über die Jahre bin ich zu einer ausgezeichneten Schauspielerin geworden. Und zu einer noch besseren Intrigantin.