Read the book: «Hinter seinem Rücken»

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Janina Hoffmann

Hinter seinem Rücken

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Die Einladung

2. Das Virus

3. Urlaub am Meer

4. Missverständnisse

5. Das Klassentreffen

6. Deep Ocean

7. Wahre Gesichter

Impressum neobooks

1. Die Einladung

Wer einmal anfängt zu lügen, kann kaum jemals mehr damit aufhören. Eine Lüge macht die nächste erforderlich, baut sich auf der vorhergehenden auf wie ein Kartenhaus, das irgendwann in sich zusammenfällt. Mein Kartenhaus wäre wegen meiner Lügen fast komplett eingestürzt. Und weil jemand eine Karte aus der untersten Reihe zog, um mich zu zerstören.

Meine Eltern legten großen Wert auf die Wahrheit. Jedenfalls behaupteten sie das immer. Andererseits war es ihnen auch wichtig, vor anderen gut dazustehen, sich, meine Schwester und mich im besten Licht erscheinen zu lassen. Da war es nur allzu bequem, wenig berauschende Fakten nicht zu erwähnen oder etwas anders darzustellen. Vermutlich habe ich irgendwann angefangen, es meinen Eltern gleichzutun, eine schlechte Klassenarbeit zu verschweigen oder zu behaupten, mir sei meine Armbanduhr, ein teures Geschenk meiner Großeltern zu meiner Konfirmation, gestohlen worden. Dabei hatte ich sie wegen meiner Nachlässigkeit verloren, ich wusste nicht einmal, wo. Später erfand ich für meine Eltern einen erfolgreichen, wohlhabenden Geschäftsmann, der beruflich viel im Ausland unterwegs war, so dass ein persönliches Kennenlernen ihres zukünftigen Schwiegersohns schwierig sei. Denn so stellte ich den nicht existierenden Mann dar: jemand, der es ernst mit mir meinte, der eine gemeinsame Zukunft mit mir plante, der mich heiraten wollte. Oh, es gab schon Männer in meinem Leben und gar nicht wenige, aber nie etwas Festes, weil ich nicht auf der Suche nach etwas Festem war. Meine Eltern hätten meine Art zu leben, hätten sie davon erfahren, nicht im Geringsten toleriert. Denn für sie gab es nur einen einzigen richtigen Weg der Lebensführung: ihren eigenen. Ja, ich gebe es zu: Ich wollte einen guten Eindruck machen, niemanden enttäuschen. Das war nicht nur bei meinen Eltern der Grund, weshalb ich manchmal nicht ganz ehrlich war. Doch mehr noch als meinen Mitmenschen habe ich mir selbst etwas vorgemacht.

Ich bin Küchenplanerin im großen Küchenstudio Hansen, das sich am Rand der Großstadt befindet, in dessen Vorort ich aufgewachsen bin. Unsere Zielgruppe sind Menschen mit gehobenen Ansprüchen und entsprechenden finanziellen Möglichkeiten. Es kommt hin und wieder vor, dass ich die unangenehme Aufgabe habe, Besucher darauf hinzuweisen, dass sie mit ihrer Preisvorstellung von bis zu zehntausend Euro besser bei der Konkurrenz aufgehoben seien. Das tut mir immer leid, und ich versuche, dabei möglichst einfühlsam zu sein. Ein dumpfes Gefühl habe ich trotzdem jedes Mal. Das ist der einzige Aspekt, der mir an meinem Beruf nicht gefällt.

Mein Vater ist der Ansicht, dass ich mit meiner Arbeit in dem Küchenstudio weit unter meinen intellektuellen Möglichkeiten geblieben sei. Dabei spielt es für ihn keine Rolle, dass ich immerhin eine dreijährige Ausbildung absolviert habe. Die Beamtenlaufbahn hätte ich seiner Meinung nach einschlagen sollen, wie er einen leitenden Posten in einer Behörde einnehmen. Für meine Mutter ist meine Berufswahl ebenfalls befremdlich. Schließlich ist es so gar nichts Besonderes, mit dem sie sich vor Nachbarn und Bekannten hervortun kann. Noch schlimmer wäre es für sie allerdings gewesen, wenn ich meinen ursprünglichen Berufswunsch, Autoverkäuferin, realisiert hätte.

Trotz, vielleicht auch wegen, des Unverständnisses meiner Eltern liebe ich meinen Beruf. Ich kann mir für mich keine erfüllendere Tätigkeit vorstellen, wenn auch das Abweisen unpassender Kunden dazugehört. Es gibt nichts Schöneres, als die Vorstellung von einer neuen Küche mittels Menschenkenntnis, intensiver Beratung und genauer Planung Wirklichkeit werden zu lassen und durch hochwertige Möbel und teure Elektrogeräte möglichst noch zu übertreffen. Obwohl es einer der Grundsätze des Küchenstudios Hansen ist, niemals einem Kunden etwas aufzuschwatzen, gelingt es mir doch hin und wieder durch überzeugende Alternativvorschläge, Preisvorstellungen um einige Tausend Euro nach oben zu verschieben und dafür später, wenn der Käufer zum ersten Mal seine nagelneue Küche betritt, in den höchsten Tönen gelobt zu werden.

Als Kundenberaterin ist es unklug, immer die Wahrheit zu sagen. Möglicherweise hat mich mein Beruf noch darin bestärkt, es auch in meinem Privatleben so zu handhaben. Wenn ich mir die Gegebenheiten vor Ort in der Wohnung oder dem Haus eines Kücheninteressenten ansehe, äußere ich mich noch vor dem Ausmessen positiv über die geschmackvolle Einrichtung außerhalb der bisherigen Küche, ganz egal, ob sie mir tatsächlich gefällt. Das hat sich als der beste Einstieg in die Beratung bewährt. Lob schafft Vertrauen und die Illusion, auf einer Wellenlänge zu sein. Das mag hinterhältig klingen, doch das bin ich nicht. Es macht mich einfach glücklich, wenn sich der Kunde über meinen Zuspruch freut und sich für die Vorschläge, die ich ihm für seine neue Küche unterbreite, offen zeigt, denn nur dann kann sich meine Kreativität voll entfalten. Der Verkauf von Küchen ist ohne Kreativität gar nicht möglich. Außerdem kommt mir dabei mein rhetorisches Talent zugute. Vermutlich würde ich auch eine ganz anständige Radio- oder TV-Moderatorin abgeben. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was meine Eltern zu dieser Berufswahl gesagt hätten.

Zunächst hatte ich nach meinem Abitur 1990 eine Ausbildung zur Automobilkauffrau angestrebt, obwohl mein Vater der Auffassung war, dass ich mit meinem guten Notendurchschnitt wie meine zwei Jahre ältere Schwester Caroline besser studieren sollte, und mich meine Mutter wiederholt fragte, wie sie Bekannten, die sich nach mir erkundigten, erklären solle, weshalb ich ausgerechnet einen Männerberuf ausüben müsse. Das hielt mich jedoch nicht davon ab, zahlreiche Bewerbungen an alle möglichen Autohäuser in der naheliegenden Großstadt zu schreiben, doch wurde ich nur zu einem einzigen Vorstellungsgespräch eingeladen, in dem mir mein schwitzendes, glatzköpfiges, in einen zu eng sitzenden Anzug gekleidetes Gegenüber meinen zukünftigen Ausbildungsplatz im Büro beschrieb. Als ich daraufhin erwiderte, dass ich vorrangig daran interessiert sei, im Verkaufsraum zu stehen und Kunden beim Kauf eines neuen Autos zu beraten, teilte mir der Mann amüsiert lächelnd mit, dass Autokauf Vertrauenssache sei und niemand einen Wagen von einer Frau kaufen wolle. In seinem Geschäft werde keine Frau im Verkaufsraum stehen, und in anderen Autohäusern sei das genauso. Er wünsche mir für mein Vorhaben dennoch viel Erfolg und vor allem Glück, da ich das am meisten brauchen würde. Abschließend riet er mir nicht ohne ironischen Unterton, es, falls es mit dem Autoverkauf nicht klappen sollte, doch in einem Küchengeschäft zu versuchen.

Meine anfängliche Verärgerung nach dem Vorstellungsgespräch über den unverschämten Vorschlag des fetten Glatzköpfigen löste sich schnell auf, als ich näher darüber nachdachte. So entschied ich mich für eine Ausbildung als Assistentin für Innenarchitektur an einer Berufsfachschule in der Großstadt. Meine Ferien wollte ich für Praktika nutzen, die zwar vermutlich nicht bezahlt, sich aber gut in meinem Lebenslauf machen würden. Schon meine erste Bewerbung beim Küchenstudio Hansen führte zu einem Praktikumsplatz, und weil es mir in dem Unternehmen so gut gefiel, arbeitete ich dort stundenweise nebenbei während der Ausbildung und verdiente so sogar etwas Geld. Der Besitzer des Küchenstudios, Philipp Hansen, war damals Mitte dreißig und hatte das Geschäft erst kürzlich von seinen Eltern übernommen, die sich aus gesundheitlichen Gründen zur Ruhe setzen wollten. Mein Vorgesetzter hatte strahlend blaue Augen, ebenmäßige Gesichtszüge und dickes dunkelblondes Haar, das mich an Schafwolle erinnerte und faszinierenderweise an einer etwa walnussgroßen Stelle an seinem Hinterkopf in einem helleren Blondton wuchs. Am Anfang nahm ich noch gar nicht richtig wahr, wie gut Philipp Hansen aussah. Für mich war er nicht mehr als mein Chef und seine sicher einige Jahre ältere Frau, die in Teilzeit in dem Geschäft mitarbeitete, meine Chefin. Das feuerrot gefärbte, kurze Haar von Regina Hansen wirkte stets gewollt zerzaust, und oft trug sie um den Kopf ein buntes Haarband, vermutlich immer dann, wenn es an der Zeit gewesen wäre, den Ansatz nachzufärben. Noch mehr als das Haar leuchtete ihr roter Lippenstift, und auch der Rest ihres Gesichts war für meinen Geschmack etwas zu grell geschminkt.

In der ersten Zeit dachte ich wenig über Philipp und Regina Hansen nach. Ich war einfach überglücklich über die Möglichkeit, praktische Berufserfahrung zu sammeln, auch wenn meine Arbeit anfangs nur aus recht eintöniger Bürotätigkeit bestand, und viel zu sehr damit beschäftigt, all die neuen Informationen und Eindrücke, mit denen ich täglich konfrontiert war, zu verarbeiten. Hin und wieder hörte ich unter den Mitarbeitern geflüsterten Klatsch über das Ehepaar Hansen, das sich demnächst scheiden lassen werde, wenn es so weitergehe. Ich tat das als dummes Gerede ab und vermutete als Grund schlicht Neid.

Eingearbeitet wurde ich von der grauhaarigen, korpulenten Hannelore Blech, die als Auszubildende im Küchenstudio Hansen angefangen hatte und nun schon ihrem fünfunddreißigjährigen Dienstjubiläum entgegensah, wie sie mir gleich an meinem ersten Tag berichtete. Die Kleidung von Hannelore Blech – meistens Rock, Bluse und gegebenenfalls eine Strickweste – schien ihr immer mindestens eine Größe zu klein zu sein. Die Brille, die sie den ganzen Tag über trug, war zusätzlich durch eine an den Bügeln befestigte goldfarbene Kette um ihren Hals gesichert. Ihr sei bereits einmal eine Brille heruntergefallen und kaputtgegangen, und dies sei eine sehr schlimme Erfahrung gewesen, vertraute mir Hannelore Blech an. Ich konnte mir weitaus schlimmere Erfahrungen vorstellen und fand die Angst um die gewöhnlich aussehende Brille etwas übertrieben, behielt meine Meinung aber für mich. Abgesehen von dieser Marotte war Hannelore Blech eine sehr nette, ausgeglichene Frau und beantwortete all meine Fragen, auch wenn ich diese manchmal selbst für dämlich hielt, stets geduldig.

Hannelore Blech hielt anscheinend sehr viel von Philipp Hansen. Jedenfalls lobte sie ihn wiederholt in den höchsten Tönen und verglich ihn mit seinem netten, kompetenten und fleißigen Vater, den ich nicht kannte. Von ihrer Chefin hatte meine Kollegin wohl keine so hohe Meinung. Sie erwähnte sie kaum, hütete sich aber ebenfalls davor, schlecht über sie zu sprechen. Außerdem war mir aufgefallen, dass Hannelore Blech sich nicht am Büroklatsch beteiligte, was ich sehr sympathisch fand.

Ich war seit einigen Monaten im Küchenstudio beschäftigt, als sich mein bisher eher unauffälliger Eindruck vom Ehepaar Hansen schlagartig änderte. Hannelore Blech hatte mich gebeten, ausnahmsweise etwas länger zu bleiben, da sie an diesem Tag mehrere komplizierte Rechnungen zu schreiben hatte und mir an diversen Fallbeispielen einige Besonderheiten erklären wollte. Es war bereits kurz nach 18:00 Uhr, und wir saßen beide schon seit Stunden im fast dunklen Büro, das nur vom Schein einer Schreibtischlampe erhellt wurde, konzentriert über Angebotsunterlagen, während Hannelore Blech auf deren Grundlage nach und nach die Rechnungen auf einer elektrischen Schreibmaschine schrieb und mich dabei darauf hinwies, was dabei alles zu beachten sei. Der Raum befand sich, wie die anderen Büros, die Teeküche, ein Pausenraum und die Toiletten für die Mitarbeiter, im zweiten Stock des Gebäudes, während im Erdgeschoss und im ersten Stock die Küchen ausgestellt wurden. Die Kollegin aus der Verwaltung war bereits gegen 17:00 Uhr nach Hause gegangen, die firmeneigenen Handwerker schon um 16:00 Uhr, soweit Kücheneinbauten keine Überstunden erforderten, und auch die Küchenplaner machten sich nun auf den Heimweg. Philipp Hansen hatte sich am frühen Nachmittag mit den Worten verabschiedet, noch einen längeren Kundentermin wahrnehmen zu wollen und anschließend nicht ins Büro zurückzukehren. Seine Frau war an diesem Tag nicht im Geschäft gewesen. Manchmal blieb sie zu Hause, wenn eines der beiden Kinder krank war. Oder wenn es zwischen ihr und ihrem Mann „ordentlich gekracht“ hatte, wie unter vorgehaltener Hand gemunkelt wurde. Hannelore Blech und ich waren an diesem Winterabend allein im Gebäude, was mir unheimlich gewesen wäre, hätte ich Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Stattdessen versuchte ich mit mittlerweile verkrampften Fingern, auf einem Block alles mitzuschreiben, was die ältere Kollegin mir erzählte, doch langsam nahm meine Konzentration ab, und ich wünschte mir einen baldigen Feierabend.

Plötzlich hörten wir Schritte die Treppe zum zweiten Stock hinaufeilen und hielten in unserer Beschäftigung inne. Hannelore Blech legte den Zeigefinger ihrer rechten Hand an ihre Lippen, erhob sich und wollte auf die hinter einer Schranktür verborgene Garderobe zugehen – vermutlich, um den Schlüssel für die Bürotür aus ihrer dort aufbewahrten Handtasche zu nehmen und die Tür von innen abzuschließen -, als die Tür bereits aufgerissen wurde. Im Türrahmen stand Regina Hansen in einem dunkelgrünen Wintermantel, der einen schönen Kontrast zu ihren roten Haaren und ihrem rot geschminkten Mund bildete. Ohne ein Wort zu sagen, betätigte sie den Lichtschalter, und die Neonröhren an der Decke des Büros flackerten auf und tauchten den Raum in ein grelles Licht. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie dunkel es vorher gewesen war. Und dass Regina Hansen anscheinend vor Wut kochte. „Wo ist mein Mann?“, fragte sie unfreundlich.

Hannelore Blech, die sich wieder auf ihren Schreibtischstuhl setzte, und ich sahen uns etwas ratlos an. Ich hielt es für besser, sie als die Ältere reden zu lassen, doch als ich merkte, dass sie kein Wort herausbrachte, erwiderte ich schließlich: „Herr Hansen ist schon vor ein paar Stunden zu einem Kundentermin aufgebrochen.“

„So so.“ Regina Hansen lachte bitter. „Diese Kundentermine kenne ich.“ Böse fügte sie hinzu: „Dieser verlogene Mistkerl.“ Sie zeigte auf Hannelore Blech. „Los!“, befahl sie. „Sie haben doch einen Zweitschlüssel für das Büro meines Mannes. Und wagen Sie nicht zu behaupten, Sie hätten den Schlüssel nicht. Ihnen vertraut er ja anscheinend weit mehr als mir.“

Hannelore Blech, die es offenbar für besser hielt, nichts darauf zu erwidern, erhob sich etwas schwerfällig und ging zur Garderobe. Sie nahm ein Schlüsselbund aus ihrer Handtasche.

„Her damit!“, forderte Regina Hansen, riss Hannelore Blech die Schlüssel aus der Hand und marschierte zurück in den Flur. Ich stand nun ebenfalls auf und sah neben Hannelore Blech stehend zu, wie Regina Hansen die Tür zum Büro ihres Mannes aufschloss, das Deckenlicht einschaltete und in dem Raum verschwand.

„Frau Blech!“, hörten wir sie kurz darauf schreien. „Frau Blech, kommen Sie her!“

Meine Kollegin kam der Bitte, oder vielmehr dem Befehl, nach, und da sie mir nicht untersagt hatte, ihr zu folgen, tat ich es. Ich blieb unauffällig in der Tür des Büros von Philipp Hansen stehen. Es war ein schönes Zimmer mit einer großen Fensterfront, einem massiv wirkenden dunklen Holzschreibtisch, einem edlen Lederschreibtischstuhl, einem Aktenschrank in der Farbe des Schreibtischs, mehreren großen Grünpflanzen und einer gemütlichen Ledersitzgruppe um einen niedrigen Tisch mit Marmorplatte für Gespräche mit wichtigen Kunden. Mein Vorstellungsgespräch hatte dort ebenfalls stattgefunden.

Regina Hansen stand über den Schreibtisch gebeugt und hielt ein aufgeschlagenes Notizbuch in der Hand. Sie drehte sich zu Hannelore Blech um, als diese etwas zaghaft den Raum betrat. „Kommen Sie her!“, forderte Regina Hansen und hielt Hannelore Blech das Buch hin. „Hier! Lesen Sie vor, was da auf der Seite mit dem heutigen Datum steht!“

Meine Kollegin nahm das Notizbuch entgegen. Es sah so aus, als zitterten ihre Hände leicht. Hatte sie etwa Angst vor Regina Hansen? Diese wirkte mit ihren vor Zorn zusammengezogenen Augenbrauen tatsächlich etwas furchteinflößend. „Vorlesen, habe ich gesagt!“, kommandierte sie.

„Also da steht: ‚15:00 Uhr Rabenweide 12‘ ... und eine Telefonnummer“, antwortete Hannelore Blech brav. „... Soll ich die auch vorlesen?“

Ohne darauf zu antworten, nahm Regina Hansen den Hörer des auf dem Schreibtisch befindlichen weinroten Telefons ab und hielt ihn Hannelore Blech entgegen. „Anrufen.“

Meine Kollegin zögerte. Dabei war es doch nicht misszuverstehen, was Regina Hansen von ihr wollte.

„Anrufen, habe ich gesagt!“, wiederholte Regina Hansen barsch.

Hannelore Blech trat näher an den Schreibtisch heran. „Und ... was soll ich sagen, wenn sich jemand meldet?“, fragte sie zaghaft.

Regina Hansen drückte ihr den Hörer in die Hand und entriss ihr das Notizbuch. „Dann sagen Sie, dass Sie Ihren Vorgesetzten Herrn Hansen sprechen wollen.“

„Und wenn Herr Hansen dann ...“

„Jetzt wählen Sie die Nummer, die ich Ihnen diktiere“, unterbrach Regina Hansen in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Mich, die ich immer noch in der Tür stand und die absurde Szene mit widerwilliger Faszination beobachtete, nahm unsere Chefin anscheinend überhaupt nicht wahr. Stattdessen begann sie, aus dem Notizbuch eine Telefonnummer vorzulesen, die Hannelore Blech in die Tastatur des Telefons eingab. „Und?“, fragte Regina Hansen, nachdem Hannelore Blech anschließend einen Moment lang in den Hörer gelauscht hatte.

„Ich glaube ...“, suchte diese schüchtern nach Worten. „Ich meine ..., ich muss mich verwählt haben ...“

„Geben Sie her!“, befahl Regina Hansen und horchte nun selbst in den Hörer. Dann legte sie ihn mit einem zufriedenen Lächeln ungewöhnlich sanft auf die Gabel, platzierte das Notizbuch ordnungsgemäß auf dem Schreibtisch und ging auf die Tür zu. Ich trat automatisch einen Schritt zur Seite und rechnete damit, von Regina Hansen wegen meiner Neugier getadelt zu werden. Doch diese drehte sich stattdessen zu Frau Blech um. „Schließen Sie hier wieder ab“, sagte sie nur, verließ das Büro und stieg die Treppe hinab.

Ich wartete im Flur, bis Hannelore Blech die Tür des Büros von Philipp Hansen abgeschlossen hatte.

„Wir machen für heute Feierabend“, entschied meine Kollegin etwas hastig, als sie vor mir zurück in unser Büro ging. „Es ist schon spät. Morgen ist auch noch ein Tag.“ Mit diesen Worten räumte sie ihren Schreibtisch auf, während ich ihr tatenlos dabei zusah, und zog sich anschließend ihre Jacke an. „Hier.“ Sie reichte mir meinen Parka und meine Tasche.

„Wer war denn vorhin am Telefon?“, traute ich mich endlich zu fragen, als wir das Gebäude durch einen Nebeneingang verlassen hatten und Hannelore Blech auch diese Tür sorgfältig abgeschlossen hatte.

„Ich muss mich verwählt haben“, lautete ihre unbefriedigende Antwort. „Das lag sicher an der Aufregung. Ich bin doch sonst so gut mit Zahlen. Wir hätten es einfach noch einmal versuchen sollen.“

Fragend sah ich sie an.

„Da kam die Ansage ‚Kein Anschluss unter dieser Nummer‘“, erklärte sie etwas widerwillig. „Schönen Feierabend.“ Mit diesen abrupten Abschiedsworten wandte sie sich von mir ab und ging über den Parkplatz zu ihrem Wagen.

Es war kein angenehmes Erlebnis gewesen, Zeugin zu werden, wie der eigene Chef seine Frau hinterging, wenn auch alle Beteiligten in der darauffolgenden Zeit das Thema mit keinem Wort mehr erwähnten.

Der Frühlingstag mehr als vierzehn Jahre später, an dem ich die Einladung erhielt, die mein Leben verändern sollte, war allerdings noch schlimmer. Dabei verlief er für mich zunächst ganz normal, um dann beinahe in einer Katastrophe zu enden. Das lag daran, dass Philipp Hansen, der nach wie vor mein Vorgesetzter war, an diesem Tag herausfand, dass mir ein großer Fehler unterlaufen war. Ein unverzeihlicher Fehler, der mir nicht einmal passiert war, als ich nach meiner Ausbildung ganz am Anfang meiner beruflichen Laufbahn als Küchenplanerin im Küchenstudio Hansen gestanden hatte.

Am späten Nachmittag kam ich zurück ins Geschäft, nachdem ich drei Termine zu Hause bei Kunden wahrgenommen hatte. Eigentlich wären die Termine die Aufgabe meiner Kollegin Julia Werner gewesen, denn es waren ihre Kunden, doch ich hatte Julia dazu überreden können, stattdessen beim Einbau der Küche in der Wohnung eines meiner Kunden vor Ort zu sein. In den Tagen davor war die alte Küche abgebaut, neue Stromleitungen gelegt, neu tapeziert und gefliest worden. Nun war der große Tag gekommen, und die neue, von mir entworfene Küche sollte eingebaut werden. Normalerweise ließ ich es mir niemals nehmen, den Einbau zu beaufsichtigen und die fertige Küche anschließend gemeinsam mit dem zufriedenen Kunden abzunehmen. Doch an diesem Tag ging das wegen eines wichtigen privaten Termins, den ich am Abend hatte, nicht. Ich wusste, dass Julia hoffnungslos romantisch war, und hatte daher behauptet, unbedingt pünktlich zu Hause sein zu müssen, um meinen Freund anlässlich unseres ersten Jahrestages mit einem Abendessen zu überraschen. Ein Teil davon stimmte zumindest. Es war Torbens und mein Jahrestag, und ich durfte wirklich an diesem Abend auf keinen Fall zu spät nach Hause kommen, denn es gab etwas, das ich auf keinen Fall verpassen wollte. Beim Einbau einer Küche konnte es immer zu Verzögerungen kommen. Ein Anschluss passte nicht. Ein Ersatzteil oder spezielles Werkzeug musste nachgeholt werden. Es kam zu Kurzschlüssen, deren Ursache herausgefunden werden musste, um nur einige mögliche Widrigkeiten aufzuzählen. An und für sich blieb ich dann stets gelassen und wartete geduldig, bis auch das letzte Problem behoben war und der Kunde in seiner neuen Küche kochen konnte, aber an diesem Tag wäre mir das Risiko, zu spät nach Hause zu kommen, zu groß gewesen. Daher hatte ich die Kundentermine von Julia Werner übernommen und mit dem höflichen Hinweis, jetzt leider zum nächsten Termin zu müssen, etwas verkürzt.

Als ich mich anschließend am Nachmittag noch einmal an meinen Schreibtisch setzte, wollte ich eigentlich nur noch den Lieferstatus von zwei Küchenbestellungen überprüfen und dann nach Hause fahren. Umso überraschter war ich, dass Julia Werner kurz nach mir das Büro betrat, das wir uns teilten, und neben meinem Schreibtisch stehen blieb. Julia war siebenunddreißig, drei Jahre älter als ich, hatte dunkelbraune kurze Haare und eine zierliche Figur. Auffallend waren die farbigen Gestelle ihrer Brillen, die sie nach ihrer Kleidung auswählte. Sie musste mindestens ein Dutzend haben. An diesem Tag war meine Kollegin in einen weißen Hosenanzug gekleidet, und so hatte auch ihre Brille ein weißes Gestell.

„Oh, seid ihr schon fertig“, sprach ich meine Kollegin erstaunt an. „Das ging ja schneller als erwartet. Dann hätte ich den Termin ja auch selbst übernehmen können. Na ja, leider weiß man so etwas ja nie vorher.“

Julia Werner blickte betreten zu Boden, und mir war sofort klar, dass etwas gründlich schiefgegangen war. Was das war, erfuhr ich schon einen Moment später, denn nun betrat auch ein verärgert wirkender Philipp Hansen mein Büro. Er sah immer noch so gut aus wie damals, als ich mich in der Ausbildung befunden hatte, wenn das Haar an seinen Schläfen auch mittlerweile von etwas Grau durchzogen war. Vor etwa zehn Jahren hatten er und ich für einige Monate ein Verhältnis gehabt, das nach einer Firmenfeier begonnen hatte. Philipp hatte damals unter seiner frustrierenden Ehe mit Regina gelitten und war auf der Suche nach Trost gewesen und ich ... wieder einmal nach einem Abenteuer. Inzwischen war er geschieden und wieder verheiratet. Zwischen uns beiden bestand ein stummes Einverständnis, die damalige Affäre mit keinem Wort mehr zu erwähnen. Ich kannte Philipps zweite Frau nicht, doch ein Foto von ihr stand auf seinem Schreibtisch, so als müsste er allen demonstrieren, dass er glücklich vergeben war und keine andere Frau mehr eine Chance bei ihm hatte. So ganz nahm ich Philipp das nicht ab, wünschte ihm aber für seine zweite Ehe von Herzen alles Gute.

„Kannst du mir bitte erklären“, begann mein um Beherrschung bemühter Chef, der wie gewöhnlich leger in Jeans und Oberhemd gekleidet war, „weshalb die Küchenfronten für den Kunden ...“ Er sah etwas hilflos zu Julia.

„Brecht“, half sie ihm auf die Sprünge. „Für das Ehepaar Brecht.“

„Ja ..., danke“, nahm Philipp den Faden wieder auf. „Also: Kannst du uns bitte erklären, weshalb die Küchenfronten für die Kunden Brecht in Hochglanz geliefert wurden, obwohl du ihnen angeblich eingeredet hast, dass Hochglanz viel zu gewöhnlich sei und echte Eleganz heutzutage durch Seidenmatt zum Ausdruck gebracht werde?“

Das stimmte. Ich hatte dem Ehepaar Brecht die von ihnen gewünschten beigen Küchenfronten in Seidenmatt schmackhaft gemacht, weil sie um einiges teurer als die Ausführung in Hochglanz waren und weil das Paar auf mich den Eindruck gemacht hatte, leicht beeinflussbar zu sein. Mit dieser Einschätzung hatte ich richtig gelegen, denn es hatte nicht viel Mühe bereitet, sie von ihrer eigentlichen Meinung abzubringen. Anderenfalls hätte ich das Vorhaben auch aufgegeben, denn das Risiko, dass beide am Ende bereut hätten, von ihrem ursprünglichen Entschluss abgewichen zu sein, wäre zu groß gewesen. „Nun“, suchte ich nach einer Erklärung, „dann wird die Küche falsch geliefert worden sein. Das wäre ja schließlich nicht das erste Mal.“

„Sieh bitte in der Bestellung nach“, forderte mich Philipp auf, und eine Ader an seiner Stirn trat deutlich hervor, wie immer, wenn er sich aufregte.

Sicher, keinen Fehler gemacht zu haben, rief ich den Bestellvorgang auf meinem Computerbildschirm auf, während Philipp und Julia hinter mir auf das Ergebnis warteten. Und da stand es schwarz auf weiß: Korpus „Vivaldi“ in Saharabeige, Hochglanz.

„Ich ...“, setzte ich an, doch mir fehlten angesichts dieses groben Patzers selbst die Worte. Noch nie in meiner bisherigen beruflichen Laufbahn war mir so etwas passiert. „Ich kann mir das ...“

Bitte bring das in Ordnung“, fiel mir Philipp ins Wort. „Wir haben schließlich einen Ruf zu verlieren.“

„Ja, natürlich“, gab ich mich kooperativ. „Ich werde Herrn und Frau Brecht sofort anrufen und um Entschuldigung bitten.“

„Das wirst du nicht.“ Philipps Gesichtsausdruck war unnachgiebig. „Du wirst dort hinfahren. Jetzt gleich. Es ist mir egal, was du den beiden erzählst, aber du wirst dafür sorgen, dass sie ihre Küche in Hochglanz lieben. Hast du mich verstanden?

„Ja, natürlich“, lenkte ich ein, da ich wusste, dass mir nichts anders übrigblieb. „Es ist mein Fehler, und ich werde dafür geradestehen.“

Philipp nickte nur mit ernster Miene, bevor er das Büro verließ. Julia ging ein paar Schritte auf die Tür zu, bevor sie sich noch einmal zu mir umdrehte. „Tut mir leid. Und das gerade heute, wo ihr doch euren Jahrestag feiern wolltet.“

„Was?“ Für einen Moment lang hatte ich keine Ahnung, wovon meine Kollegin sprach. „Ach so. Ach, ich werde gleich zu Hause anrufen und Torben sagen, dass ich mich verspäte. Dafür hat er sicher Verständnis. Er ist nämlich immer sehr ... verständnisvoll.“ Etwas zögernd fügte ich hinzu: „Sind sie sehr verärgert? Das Ehepaar Brecht, meine ich.“

„Verärgert nicht“, versuchte mich Julia zu beruhigen. „Nur verwundert, würde ich sagen. Und da ich den Vorgang nicht kannte, konnte ich ...“

„Ich weiß schon. Das ist ja auch meine Aufgabe, das wieder geradezubiegen“, kam ich ihr entgegen.

„Tja, ... ich werde dann für heute Feierabend machen. Viel Glück.“ Mit diesen Worten ließ mich Julia allein im Büro zurück.

Verdammt. Um zum Ehepaar Brecht zu gelangen, musste ich im Feierabendverkehr fast einmal quer durch die ganze Stadt fahren. Eine halbe Stunde Überzeugungsarbeit. Nein, eine Viertelstunde musste dafür reichen. Dann zurück ins Stadtzentrum zu unserer Wohnung. Es würde sehr knapp werden, das bis 19:00 Uhr zu schaffen. Doch ich durfte auf keinen Fall zu spät kommen.

Bevor ich losfuhr, rief ich von meinem Büroanschluss zu Hause an.

„Torben Brandt“, meldete sich mein Freund wie ein braver Schuljunge am Telefon.

Ich hatte ihn schon des Öfteren deswegen geneckt, woraufhin er sich gewöhnlich rechtfertigte, dass ja theoretisch auch jemand anders aus meiner Firma am anderen Ende der Leitung sein könnte und er sich lächerlich machen würde, wenn er sich zum Beispiel mit „Hallo Schatz“, melden würde.

Heute verkniff ich mir jeglichen Kommentar. „Hallo Schatz. Es tut mir leid, aber ich schaffe es nicht rechtzeitig zum Essen. Iss einfach ohne mich, ja?“

„Ach was. Ich kann doch auf dich warten. Das ist kein Problem“, bot mein gutmütiger Freund an. „Wann wirst du denn ungefähr hier sein?“

„Das weiß ich noch nicht. Ich muss hier noch ... ein Problem lösen. Bitte iss einfach ohne mich“, wiederholte ich meinen Vorschlag. Wenn ich nach Hause käme, hätte ich erst einmal Wichtigeres zu tun als zu essen.

„Na, wenn du meinst“, lenkte Torben ein. „Ich habe Gulasch gemacht. Das schmeckt auch aufgewärmt noch ganz gut. Und anschließend machen wir es uns so richtig gemütlich.“

„Sicher schmeckt das Gulasch aufgewärmt noch besser“, schmeichelte ich. „Bis später.“ Ich legte auf, ohne ein Abschiedswort meines Freundes abzuwarten.

Während der Fahrt zur Wohnung Brecht sah ich immer wieder nervös auf die Uhr hinter dem Lenkrad. Fast 18:00 Uhr. Und vor mir fuhren alle im Schneckentempo.

Um 18:10 Uhr erreichte ich endlich die Straße, in der sich die Wohnung des Ehepaars befand, und parkte, da ich keinen geeigneten Stellplatz fand, vor einer Einfahrt. Es war ja nur für ein paar Minuten. Ich klingelte unten an der Eingangstür des fünfstöckigen Backsteinhauses, und mir wurde ohne Nachfragen geöffnet. Vermutlich hatte Julia meinen Besuch vorhin bereits angekündigt. Etwas außer Atem erreichte ich den dritten Stock. Es gab einen Aufzug, den ich bereits bei meinem ersten Besuch benutzt hatte. Daher war ich der festen Überzeugung, jetzt schneller zu sein, wenn ich die Treppe nahm. Herr und Frau Brecht waren beide etwa Anfang sechzig und erwarteten mich Arm in Arm in ihrer Wohnungstür. Frau Brecht, eine schlanke Frau in Jeans und einem altrosa Pullover, trug ihre braun gefärbten Haare kinnlang, während ihr ebenfalls schlanker und in Jeans und grünes Polohemd gekleideter Mann fast komplett kahl war.