Stolz und Vorurteil

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4. KAPITEL

Als Jane und Elisabeth in ihrem Zimmer allein waren, vertraute die Ältere, die bis dahin kaum in die Lobpreisungen Mr. Bingleys eingestimmt hatte, ihrer Schwester an, wie sehr sie ihn bewundere. »Er ist alles, was ein junger Mann sein sollte«, sagte sie, »vernünftig und doch fröhlich und lebhaft; und sein Auftreten – ich hab’ noch nie so etwas erlebt: gleichzeitig so ungezwungen und so wohlerzogen!«

»Gut aussehen tut er auch«, erwiderte Elisabeth, »das kann einem jungen Mann ebenfalls nicht schaden. Also alles in allem, ein idealer Typ!«

»Daß er mich ein zweites Mal zum Tanzen aufforderte, das war doch sehr schmeichelhaft. Das hatte ich gar nicht erwartet!«

»Nicht? Ich ja. Das ist der große Unterschied zwischen uns: dich überrascht so etwas immer, mich nie. Was hätte selbstverständlicher sein können, als daß er dich noch einmal aufforderte? Es konnte ihm ja nicht gut entgangen sein, daß du mindestens fünfmal hübscher warst als alle anderen Mädchen im Saal. Nein, das war keine besondere Höflichkeit von ihm. Aber es stimmt, er ist wirklich sehr nett, und meinen Segen hast du. Dir haben schon ganz andere Hohlköpfe gefallen!«

»Aber Lizzy!«

»Ich weiß – du hast eine reichlich übertriebene Neigung, jedermann nett zu finden. Du entdeckst niemals einen Fehler an Menschen. Die ganze Welt ist in deinen Augen gut und schön. Ich glaube, ich habe dich noch nie über irgendwen etwas Unfreundliches sagen hören!«

»Ich möchte natürlich nicht unüberlegt und hastig urteilen; aber ich sage doch immer, was ich wirklich denke.«

»Eben, das weiß ich ja – das ist ja gerade das Wunder: so vernünftig zu sein, wie du es doch bist, und dabei so rührend blind gegenüber den Torheiten und der Dummheit deiner Mitmenschen! Gespielte Aufrichtigkeit ist eine gewöhnliche Erscheinung – man trifft sie überall. Aber Aufrichtigkeit ohne Hintergedanken oder Nebenabsichten, nur das Beste in jedem sehen und das noch verbessern, während man das Schlechte nicht beachtet, und das noch in aller Aufrichtigkeit – das kannst nur du! Seine Schwestern mochtest du also auch? Ganz so wohlerzogen wie er sind sie ja wohl nicht.«

»Das allerdings nicht, wenigstens erscheint es zunächst so. Aber die beiden sind ganz reizend, wenn man mit ihnen spricht. Miss Bingley wird auch auf Netherfield wohnen bleiben und ihrem Bruder das Haus führen. Es sollte mich sehr wundern, wenn wir in ihr nicht eine sehr angenehme Nachbarin bekämen.«

Elisabeth schwieg dazu; sie war davon nicht so überzeugt wie ihre Schwester. Das Auftreten der beiden Damen aus London war nicht danach gewesen, um ihr uneingeschränktes Gefallen zu erregen; sie beobachtete schärfer und war nicht so vorschnell in ihrem Urteil, zumal sie sich nicht, wie ihre Schwester, durch ein persönliches Interesse verpflichtet fühlte. Zweifellos, die beiden waren wirkliche Damen; sehr wohl in der Lage, in bester Stimmung zu sein, solange sie sich gut unterhalten fühlten, und freundlich, sobald ihnen so zumute war, aber zweifellos ebenso hochmütig und eingebildet. Sie sahen recht gut aus, hatten eine vortreffliche Erziehung in einer der vornehmsten Schulen Londons genossen, konnten über ein Vermögen von zwanzigtausend Pfund verfügen, waren gewohnt, mehr auszugeben, als ihrem Vermögen entsprach, und verkehrten in der besten Gesellschaft – kurz, sie hatten allen Grund, das Beste von sich selber und weniger gut von anderen zu denken. Außerdem gehörten sie einer angesehenen nordenglischen Familie an, eine Tatsache, die ihnen ständig mehr gegenwärtig zu sein schien als die andere Tatsache, daß das Familienvermögen aus Handelsgeschäften stammte.

Mr. Bingleys Vater, der immer den Wunsch gehegt hatte, sich einen Landbesitz zu kaufen, aber zu früh gestorben war, um sich seinen Wunsch erfüllen zu können, hinterließ seinem Sohn ein Erbe von nahezu einhunderttausend Pfund. Mr. Bingley beabsichtigte nun auszuführen, was seinem Vater versagt geblieben war; bald dachte er an diese Gegend, bald an jene. Aber da er jetzt ein schönes Haus in London besaß und dazu noch über Netherfield verfügen konnte, erschien es allen, die seine Genügsamkeit kannten, als höchst wahrscheinlich, daß er sich nun nicht weiter umsehen, sondern den Ankauf eines Landbesitzes der nächsten Generation überlassen werde.

Seine Schwestern waren nicht so genügsam und hätten es lieber gesehen, wenn ihr Bruder auf eigenem Grund und Boden säße. Das hielt aber keineswegs die jüngere davon ab, in dem nur gemieteten Netherfield dem Haushalt vorzustehen; und die ältere Schwester, Mrs. Hurst, die einen Mann in hoher gesellschaftlicher Stellung und in schlechten Vermögensverhältnissen geheiratet hatte, betrachtete dieses Netherfield nach Bedarf als ihr eigenes Heim.

Mr. Bingley hatte erst zwei Jahre die Freiheit des Mündigseins genossen, als eine zufällige Empfehlung ihm Netherfield House verlockend schilderte. Er fuhr hin, sah es sich eine halbe Stunde lang drinnen und draußen an, fand Gefallen an der Lage und den Räumlichkeiten und wurde mit dem Eigentümer sehr schnell einig.

Zwischen ihm und Darcy bestand, trotz der großen charakterlichen Verschiedenheit, eine langjährige, feste Freundschaft. Darcy schätzte an Bingley sein natürliches Wesen, seine Freimütigkeit und seine Lenkbarkeit – Eigenschaften, die in keinem größeren Gegensatz zu seinen eigenen hätten stehen können, obgleich er mit seinen eigenen gar nicht unzufrieden zu sein schien. Und Bingley seinerseits fand eine starke Stütze in der Achtung, die sein Freund ihm entgegenbrachte, und vertraute fest seiner überlegenen Menschenkenntnis und Welterfahrung. Darcy war auch der Intelligentere von ihnen; nicht, daß Bingley dumm war, aber Darcy war eben der Überlegenere. Gleichzeitig hatte Darcy aber einen Zug von Hochmut, Verschlossenheit und Verwöhntheit, und sein ganzes Wesen war, wenn auch nicht gerade unhöflich, so doch nicht sehr entgegenkommend. In dieser Hinsicht lief ihm sein Freund entschieden den Rang ab. Bingley war überall gern gesehen; Darcy eckte ständig an.

Die Art, in der sie sich über den Ball in Meryton unterhielten, war für beide bezeichnend. Bingley glaubte, noch nie nettere Leute und hübschere Mädchen gesehen zu haben; alle waren äußerst freundlich und zuvorkommend gegen ihn gewesen, keine Spur von Förmlichkeit oder Steifheit, er hatte sich gleich gut Freund mit allen Anwesenden gefühlt; und was Jane betraf, er hätte sich kein engelhafteres Wesen vorstellen können. Darcy dagegen hatte nur eine große Menschenmenge gesehen, die durch wenig Schönheit und viel Uneleganz auffiel, für die er beim besten Willen kein Interesse hatte aufbringen können und von der er weder Vergnügen gehabt noch Entgegenkommen erfahren hatte … Miss Bennet – ja, er gab zu, daß sie nett aussah, nur lächelte sie zu viel. Mrs. Hurst und ihre Schwester erhoben hiergegen weiter keinen Einspruch, aber sie gestanden ihre Zuneigung und Bewunderung für Jane ein und erklärten, sie sei ein liebes Mädchen, dessen Freundschaft sie nicht ungern weiter pflegen wollten. Damit war also Miss Bennet zum »lieben Mädchen« ernannt, und Bingley fühlte sich durch diese Empfehlung berechtigt, von ihr und über sie zu denken, wie es ihm beliebte.

5. KAPITEL

Nur einen kurzen Weg von Longbourn entfernt wohnte eine Familie, die zu den engeren Freunden der Bennets zählte. Sir William Lucas hatte früher ein Geschäft in Meryton geführt, das ihm zu einem annehmbaren Vermögen verholfen hatte. Eine Ansprache an den König während seiner Bürgermeisterzeit hatte ihm den Titel »Sir« eingebracht. Die Ehrung war ihm ein wenig zu Kopfe gestiegen; er faßte eine plötzliche Abneigung gegen das Geschäft und gegen sein Haus in dem kleinen Marktflecken, gab beides auf und bezog mit seiner Familie etwas außerhalb Merytons ein Landhaus, das von da an Lucas Lodge hieß. Hier konnte er zu seinem ständigen Vergnügen über seine eigene Bedeutsamkeit Betrachtungen anstellen und, ungehindert von jedweder Arbeit, sich damit beschäftigen, gegen die ganze Welt höflich zu sein. Denn wenn sein Titel ihn auch erhöht hatte, er machte ihn nicht hochfahrend; im Gegenteil, er war mehr denn je eines jeden gehorsamer Diener. Von Natur aus schon liebenswürdig, freundlich und gefällig, hatte seine Vorstellung bei Hofe ihn nur noch höflicher gemacht.

Lady Lucas war eine sehr gute Frau und nicht klug genug, um eine schlechte Nachbarin für Mrs. Bennet abzugeben. Die älteste von den Lucaskindern, Charlotte, eine ruhige, vernünftige junge Dame von siebenundzwanzig, war Elisabeths beste Freundin.

Es war natürlich unumgänglich notwendig, daß die Schwestern Lucas und die Schwestern Bennet den Ball gemeinsam durchsprachen. Am Morgen nach dem Fest erschienen jene in Longbourn, um zu hören und gehört zu werden.

»Du hast aber den Abend gut begonnen, Charlotte«, sagte Mrs. Bennet mit höflicher Selbstbeherrschung zu Miss Lucas. »Dich hat ja Mr. Bingley sich zuerst ausgesucht.«

»Ja, aber seine zweite Wahl schien ihm besser zu gefallen.«

»Ach so, du meinst Jane – weil er zweimal mit ihr getanzt hat; du hast recht, das machte allerdings den Eindruck, als ob er sie bevorzugte. Hm, weißt du, ich glaube, er zog sie den anderen tatsächlich vor; ja, ja, ich hörte so etwas, ich weiß nicht mehr genau was … irgend etwas von Mr. Robinson –«

»Sie meinen wahrscheinlich das Gespräch zwischen ihm und Mr. Bingley, das ich zufälligerweise mit anhörte; hab’ ich Ihnen noch nicht davon erzählt? Mr. Robinson fragte ihn, wie ihm unser Ball in Meryton gefalle und ob er nicht auch der Meinung sei, daß eine ungewöhnlich große Anzahl schöner Damen anwesend wäre; und dann fragte Mr. Robinson ihn noch, welche er denn am schönsten finde? Worauf er sogleich erwiderte: aber da gibt es doch gar keinen Zweifel, die älteste Schwester Bennet natürlich!«

 

»Was du nicht sagst! Das ist allerdings sehr deutlich.«

»Ich hab’ wenigstens etwas Nettes zu hören bekommen, Lizzy, wenn auch nur über andere«, sagte Charlotte zu ihrer Freundin. »Mr. Darcy zuzuhören lohnt sich nicht so sehr wie seinem Freund. Arme Lizzy, nur gerade noch erträglich zu sein!«

»Ich bitte dich, Charlotte, versuch nicht, Lizzy auch noch mit seiner Unhöflichkeit zu ärgern; er ist ein so scheußlicher Mensch, daß es geradezu ein Unglück wäre, ihm zu gefallen.

Mrs. Long erzählte mir, er habe eine halbe Stunde neben ihr gesessen, ohne ein einziges Mal den Mund aufzumachen.«

»Hat sie das gesagt, Mutter? Hat sie sich nicht vielleicht geirrt?« fragte Jane. »Ich sah genau, wie er zu ihr sprach.«

»Ja, da hatte sie ihn gerade gefragt, wie ihm Netherfield gefalle, und darauf mußte er ja wohl oder übel etwas sagen; aber sie sagt, er sei richtig wütend gewesen, angesprochen zu werden.«

»Miss Bingley erzählte mir«, sagte Jane, »daß er nie sehr viel redet außer im engsten Freundeskreis. Dann kann er ganz ungewöhnlich sympathisch und freundlich sein.«

»Ich glaube nicht ein Wort davon, meine Liebe. Wenn er das wäre, dann hätte er mit Mrs. Long gesprochen. Ich kann mir schon denken, was los war: alle Welt weiß, daß er vor Hochmut beinahe erstickt, und er hat wahrscheinlich von irgend jemand erfahren, daß Mrs. Long sich keinen eigenen Wagen halten kann und in einer Mietskutsche zum Ball gekommen war.«

»Daß er nicht mit Mrs. Long geredet hat, stört mich nicht weiter«, meinte Charlotte, »aber ich wünschte, er hätte mit Lizzy getanzt.«

»Ein anderes Mal, Lizzy«, sagte Mrs. Bennet, »würde ich nicht mit ihm tanzen, wenn ich du wäre.«

»Ich glaube, ich kann dir ziemlich fest versprechen, überhaupt nie mit ihm zu tanzen, Mutter.«

»Sein Hochmut verletzt mich nicht einmal so sehr, wie es sonst der Fall wäre«, sagte Charlotte, »denn er hat doch eine Art Entschuldigung dafür. Man kann sich eigentlich nicht darüber wundern, daß ein so stattlicher junger Mann von so vornehmer Familie und so großem Vermögen sich selbst sehr hoch einschätzt. Ich finde, er hat gewissermaßen ein Recht zum Hochmut.«

»Ganz richtig«, erwiderte Elisabeth, »ich könnte ihm seinen Hochmut auch leicht verzeihen, wenn er nicht meinen Stolz gekränkt hätte.«

»Stolz«, sagte Mary, die auf die Tiefsinnigkeit ihrer Gedanken stolz war, »gehört zu den verbreitetsten unter allen menschlichen Schwächen, wenn ich mich nicht irre. Denn nach allem, was ich bisher gelesen habe, bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß es so ist: Die menschliche Natur neigt überaus leicht dazu, diesem Übel zu verfallen, und es gibt nur wenige Menschen, die frei davon sind, aus diesem oder jenem, tatsächlichen oder eingebildeten Grunde ein Gefühl von Selbstgefälligkeit zu verspüren. Man muß auch Stolz und Eitelkeit auseinanderhalten, wenn die beiden Worte auch oft für ein und dieselbe Sache gebraucht werden: man kann stolz sein, ohne eitel zu sein. Der Stolz bezieht sich mehr auf unsere eigene Meinung von uns selbst, die Eitelkeit jedoch auf die Meinung, die wir gern von anderen über uns hören möchten.«

»Wenn ich so reich wäre wie Mr. Darcy«, rief der junge Lucas, der seine ältere Schwester begleitet hatte, in die achtungsvolle Stille, die nach Marys Allerweltsweisheit eingetreten war, »wenn ich so reich wäre, dann könnte ich gar nicht stolz genug sein! Ich würde Fuchsjagden reiten und jeden Abend eine Flasche Wein trinken.«

»Das wäre viel zu viel für dein Alter«, meinte Mrs. Bennet, »und wenn ich dich dabei träfe, würde ich dir die Flasche sofort wegnehmen.«

Der Junge trumpfte auf, das dürfe sie ja gar nicht; und sie bestand darauf, sie würde es doch tun, und das Hin und Her fand erst mit dem Besuch sein Ende.

6. KAPITEL

Die Damen von Longbourn machten bald darauf denen von Netherfield ihre Aufwartung, und der Besuch wurde in aller Form erwidert. Janes natürliches und freundliches Wesen gewann ihr schnell die Zuneigung von Mrs. Hurst und deren Schwester Caroline. Die Mutter Bennet war ja zwar kaum zu ertragen, und zu den beiden jüngeren Mädchen auch nur höflich zu sein, lohnte sich eigentlich nicht; aber mit den beiden älteren Freundschaft zu schließen, erschien ihnen wünschenswert. Jane erwiderte diesen Wunsch voller Dankbarkeit und aus ganzem Herzen; aber Elisabeth erkannte die Anmaßung, die allen Äußerungen der Damen in Netherfield zu Grunde lag, nicht zum wenigsten Jane gegenüber, und sie konnte es nicht über sich bringen, ihr anfängliches Mißtrauen fallen zu lassen; mochte ihre Freundlichkeit gegen Jane, wenn man es schon so nennen wollte, auch dadurch einen gewissen Wert annehmen, daß sie ihren Ursprung in der Bewunderung des Bruders, Mr. Bingley, hatte.

Daß eine solche Bewunderung wirklich bestand, war ganz unverkennbar, so oft sie zusammenkamen. Und für Elisabeth war es ebenso unverkennbar, daß Jane der Neigung, die sie von Anfang an für ihn empfunden hatte, nachzugeben begann und auf dem besten Wege war, sich gründlich zu verlieben. Der Gedanke, daß die anderen diesen Zustand nicht so bald würden entdecken können, war ihr eine große Beruhigung; denn Jane verband mit der Fähigkeit eines tiefen Gefühls eine Gleichmäßigkeit und ständige Heiterkeit, die sie vor Verdächtigungen und üblen Nachreden böser Zungen bewahrte. Sie sprach darüber mit ihrer Freundin Charlotte.

»Es mag schon nützlich sein«, meinte diese, »in solchen Fällen der Umwelt etwas vormachen zu können; aber es kann einem auch schaden, wenn man zu beherrscht ist. Wenn eine Frau dem Gegenstand ihrer Neigung ihre Gefühle ebenso geschickt verbirgt, wird sie sich leicht um die Gelegenheit bringen, diese Gefühle eines Tages ausdrücken zu dürfen; und der Trost, daß die Welt ja nichts davon erfahren hat, scheint mir sehr schwach zu sein. In fast jeder Liebe steckt ein kleiner Kern von Eitelkeit oder Dankbarkeit, und den sollte man nicht sich selbst überlassen. Wir machen alle den ersten Schritt ganz unbefangen – daß man einen Menschen einem anderen vorzieht, ist meist selbstverständlich; aber nur die wenigsten von uns haben ein Herz, das groß genug ist, um ohne Ermunterung und Nachhilfe zu lieben. In neun von zehn Fällen ist es ratsam für eine Frau, eher mehr zu zeigen, als sie fühlt. Bingley mag deine Schwester ganz ohne Zweifel; doch wenn sie ihm nicht weiterhilft, wird er vielleicht nie etwas anderes tun, als sie nur mögen.«

»Aber sie tut ja schon so viel, wie ihre Natur es ihr erlaubt. Wenn ich ihre Zuneigung entdecken kann, dann muß er schon sehr dumm sein, wenn er nicht dasselbe entdeckt.«

»Vergiß nicht, Lizzy, daß er Janes Art nicht so gut kennt wie du.«

»Wenn eine Frau einen Mann bewundert und ihre Bewunderung nicht bewußt verbirgt, dann muß er es schon selbst merken.«

»Vielleicht ja, wenn er sie oft genug zu sehen bekommt. Bingley und Jane kommen ja recht häufig zusammen, aber erstens niemals sehr lange auf einmal und dann auch nur auf großen Gesellschaften, und da kannst du nicht verlangen, daß sie jeden Augenblick nur miteinander reden. Jane sollte daher jede Viertelstunde ausnutzen, in der sie ein wenig ungestört sind. Ist sie seiner erst sicher, dann ist immer noch Zeit genug, um sich gründlich zu verlieben.«

»Der Plan ist nicht schlecht«, erwiderte Elisabeth, »aber nur für den Fall einer Heirat um jeden Preis; handelte es sich bloß darum, einen reichen Mann oder überhaupt einen Mann zu bekommen, dann würde ich wahrscheinlich auch nicht anders vorgehen. Aber so etwas steckt nicht hinter Janes Gefühlen; sie verfolgt keinen Zweck und keine Absicht. Bis jetzt weiß sie selbst wahrscheinlich nicht, wie weit ihre Neigung geht, und noch weniger hat sie über Vernunft oder Unvernunft nachgedacht. Sie kennt ihn erst seit zwei Wochen; sie hat viermal mit ihm in Meryton getanzt; sie war einmal bei ihm zu Hause und hat auf vier Abendgesellschaften mit ihm an einem Tisch gesessen. Das dürfte kaum genügen, um ihn näher kennen zu lernen.«

»Nein; wenigstens nicht, wenn es sich so verhielte, wie du eben sagtest. Hätte sie nur mit ihm zusammen gegessen, dann könnte sie heute bestenfalls etwas über seinen Appetit erfahren haben; aber sie haben ja vier ganze Abende miteinander in Gesellschaft verbracht – und vier lange Abende können manches zuwege bringen!«

»Sicher; die vier Abende haben ihnen Gelegenheit gegeben, ihre gegenseitige Vorliebe für ein bestimmtes Kartenspiel festzustellen. Aber was ihre sonstigen Charaktermerkmale anlangt, glaube ich nicht, daß sich sehr viel geklärt hat.«

»Nun, einerlei«, meinte Charlotte, »ich wünsche Jane von ganzem Herzen Erfolg; und ich glaube nicht, daß sie eine geringere Aussicht hat, glücklich zu werden, wenn sie ihn morgen heiraten sollte, als wenn sie seinen Charakter erst ein Jahr lang studieren wollte. Glück in der Ehe ist sowieso nur von Zufälligkeiten abhängig. Zwei Leute können sich noch so gut gekannt haben, können noch so viel miteinander gemein gehabt haben, auf das Glücklichwerden hat das nicht den geringsten Einfluß. Der eine oder andere von ihnen wird sich immer genügend verändern, um beiden ihr Teil Kummer und Ärger zu sichern; und da ziehe ich es doch vor, von vornherein möglichst wenig über die schlechten Eigenschaften des Mannes zu erfahren, mit dem ich mein ganzes Leben verbringen muß.«

»Das ist ein guter Scherz, Charlotte; aber ernst kann ich das nicht nehmen. Du kannst das doch selber nicht, und du weißt, daß du nie nach solchen Grundsätzen handeln würdest.«

Elisabeth war so eifrig damit beschäftigt, Mr. Bingley’s Aufmerksamkeiten gegen Jane zu beobachten, daß ihr das Interesse vollkommen entging, das sein Freund für sie zu empfinden begann. Anfangs wollte Darcy sie nicht einmal als hübsch gelten lassen; auf dem Ball hatte er sie voll Gleichgültigkeit angeschaut; und als sie sich danach wieder trafen, hatten seine Augen sie höchstens kritisch gestreift. Aber kaum war er sich darüber im klaren – und hatte er es seinen Freunden klargemacht –, daß sie ein fast völlig uninteressantes Gesicht besaß, als er entdeckte, daß dieses Gesicht ungewöhnlich intelligente Züge trug, die von dem wunderbaren Ausdruck der dunklen Augen noch unterstrichen wurden. Dieser Entdeckung folgten andere, ähnlich verdrießliche. Obgleich sein kritisches Auge mehr als ein Merkmal vermißt zu haben glaubte, das für eine vollkommene Körperharmonie unerläßlich war, mußte er sich jetzt eingestehen, daß ihre Figur schlank und ansprechend war; und wo er früher ihr ungewandtes Auftreten betont hatte, wurde er jetzt durch die natürliche Heiterkeit ihres Wesens angezogen. Aber hiervon wußte sie nichts; für sie war er ein Mann, der sich überall unbeliebt machte und der sie nicht für hübsch genug erachtet hatte, um mit ihr zu tanzen.

Er verspürte den Wunsch, sie näher kennenzulernen, und gleichsam als Vorstufe zu einer eigenen Unterhaltung mit ihr, fing er an, ihren Gesprächen mit anderen zuzuhören. Erst dadurch wurde ihre Aufmerksamkeit wach.

Das war auf einer großen Gesellschaft bei Sir William Lucas. »Was denkt sich denn dieser Mr. Darcy«, fragte Elisabeth ihre Freundin, »daß er sich herstellt und meiner Unterhaltung mit Oberst Forster zuhört?«

»Auf diese Frage wird dir wohl nur Mr. Darcy selbst antworten können.«

»Wenn er es wieder tun sollte, dann werde ich ihm zeigen, daß ich weiß, wofür ich ihn zu halten habe. Er hat einen schrecklich zynischen Ausdruck in den Augen, und wenn ich ihm nicht selbst zuerst meine Meinung sage, bekomme ich noch Angst vor ihm.«

Als er sich ihnen bald darauf näherte, ohne anscheinend jedoch etwas sagen zu wollen, forderte Charlotte ihre Freundin heraus, ihr Wort zu halten, und es bedurfte nur dieser Ermunterung, daß Elisabeth sich an ihn wandte und sagte: »Fanden Sie nicht auch, Mr. Darcy, daß ich mich soeben recht geschickt ausgedrückt habe, als ich Colonel Forster damit neckte, er müsse doch einen Ball bei sich veranstalten?«

»Nun, mindestens sehr deutlich – aber bei dem Thema werden Damen ja immer sehr deutlich.«

»Sie sind sehr boshaft gegen uns.«

»Jetzt bist du an der Reihe, geneckt zu werden«, unterbrach ihre Freundin. »Ich werde das Klavier aufmachen, und du weißt, was du dann zu tun hast.«

»Für eine Freundin bist du ein komisches Geschöpf – immer willst du, daß ich vor allen Leuten und bei jeder Gelegenheit singe und spiele! Wenn meine Eitelkeit musikalisch wäre, könnte ich ohne dich nicht auskommen; aber da sie es nun einmal nicht ist, würde ich mich wirklich viel lieber nicht vor eine Gesellschaft hinstellen, die nur den besten Künstlern zu lauschen gewohnt ist.« Da aber Charlotte darauf bestand, fügte sie hinzu: »Nun gut, wenn es sein muß, dann muß es wohl sein.« Und indem sie Darcy ernsthaft ansah: »Es gibt ein schönes altes Sprichwort, das Sie sicherlich gut kennen: Spar deinen Atem, um deine Suppe zu kühlen – ich muß meinen jetzt leider auf Gesang verschwenden.«

 

Ihre Kunst war annehmbar, aber keineswegs überragend. Nach ein, zwei Liedern und bevor sie den Bitten ihrer Zuhörer um eine Zugabe nachkommen konnte, löste ihre Schwester Mary sie etwas voreilig am Klavier ab.

Mary, die einzige von den Schwestern, die nicht gut aussah, hatte sich als Gegengewicht hierfür ein gewisses Können und Wissen sauer erarbeitet und war nun stets eifrig darauf bedacht, ihre Errungenschaften zur Schau zu stellen. Leider besaß sie weder Talent noch Geschmack; und obgleich Eitelkeit und Ehrgeiz ihr zu einer nicht geringen Fertigkeit verholfen hatten, sprachen diese beiden Eigenschaften so stark aus ihrer schulmeisterlichen Miene und ihrem eingebildeten Gebaren, daß selbst ein weit höherer Grad von Können, als sie ihn erreicht hatte, ihre Fehler nicht aufgewogen hätte. Dem anspruchslosen, ungekünstelten Spiel Elisabeths hatte man mit viel mehr Vergnügen zugehört als dem sehr viel besseren Marys. Sie konnte zufrieden sein, daß sie nach einem langen, schwierigen Klavierkonzert doch noch Lob und Dankbarkeit mit einigen schottischen und irischen Weisen ernten durfte, die ihre jüngeren Schwestern und ein paar tanzlustige Offiziere von ihr erbaten und dann auch eifrig am einen Ende des Saales ausnutzten.

Mr. Darcy hatte sich in der Nähe der Tanzenden aufgestellt und schaute ihnen voller Geringschätzung zu. Wie töricht, dachte er, den Abend in einer Weise zu verbringen, die von vornherein jede Möglichkeit einer vernünftigen Unterhaltung ausschließt. Er war so sehr in seine ärgerliche Betrachtung vertieft, daß er es nicht bemerkte, wie Sir William Lucas zu ihm getreten war, bis dieser ihn ansprach.

»Eine entzückende und harmlose Beschäftigung für junge Leute, finden Sie nicht auch, Mr. Darcy? Es geht doch nichts übers Tanzen; ich betrachte es immer als eine der vornehmsten Errungenschaften eines wirklich kultivierten Volkes.«

»Gewiß, Sir William – und außerdem hat es noch den Vorzug, auch bei weniger kultivierten Völkerschaften äußerst beliebt zu sein. Jeder Wilde kann tanzen.«

Sir William lächelte nur hierzu. »Ihr Freund ist ein ganz hervorragender Tänzer«, fuhr er nach einer Weile fort, als er sah, daß Bingley sich unter die Tanzenden begeben hatte, »und ich irre mich wohl nicht, wenn ich in Ihnen ebenfalls einen Meister dieser Kunst vermute, Mr. Darcy?«

»Sie haben mich ja in Meryton tanzen sehen, Sir William.«

»Das habe ich, und der Anblick hat mir nicht geringes Vergnügen bereitet. Tanzen Sie häufig bei Hofe?«

»Nie.«

»Wäre das nicht eine passende Ehrung für den hohen Ort?«

»Es ist eine Ehrung, die ich keinem Ort erweise, wenn ich es irgend vermeiden kann.«

»Ich nehme an, Sie besitzen ein Haus in London?«

Darcy nickte bejahend.

»Ich trug mich seinerzeit selbst mit dem Gedanken, meinen Wohnsitz in London aufzuschlagen, denn ich schätze den Umgang mit der guten Gesellschaft sehr. Aber ich konnte dann doch nicht meine Zweifel unterdrücken, ob die Londoner Luft auch meiner Frau bekommen würde.«

Er sah seinen Gast erwartungsvoll an; aber Darcy schien nicht die Absicht zu haben, das Gespräch fortzusetzen. Während Sir William noch über eine neue Anknüpfung nachgrübelte, entdeckte er Elisabeth nicht weit von ihnen entfernt, und er zögerte nicht einen Augenblick, sich als überlegenen Weltmann zu zeigen.

»Meine liebe Elisabeth«, rief er hinüber, »warum sehe ich Sie nicht unter den Tanzenden? Mr. Darcy, Sie müssen mir erlauben, Sie mit einer ganz reizenden Dame bekanntzumachen. Selbst Sie werden sich mit so viel Schönheit vor Augen nicht mehr sträuben können zu tanzen.«

Und damit ergriff er Elisabeths Hand, um sie Darcy zuzuführen, der zwar etwas erstaunt über den plötzlichen Überfall war, aber durchaus nicht abgeneigt schien. Elisabeth jedoch machte sich heftig frei und sagte in einigem Unwillen zu Sir William: »Ich bitte Sie, ich habe nicht die geringste Lust zu tanzen. Sie meinten doch hoffentlich nicht, ich sei auf dem Wege, um einen Tänzer zu suchen?«

Mr. Darcy bat sie in aller Form und mit größter Höflichkeit, ihm einen Tanz zu gewähren, aber umsonst, Elisabeth ließ sich nicht bewegen; auch Sir Williams Versuche, sie doch noch zu überreden, blieben erfolglos.

»Sie werden doch nicht so grausam sein, Elisabeth, mich um den Genuß zu bringen, Sie tanzen zu sehen; und wenn Mr. Darcy auch im allgemeinen dieses Vergnügen nicht sehr schätzt, er wird uns jetzt bestimmt nicht den Gefallen versagen können.«

»Mr. Darcy ist ein Vorbild der Höflichkeit«, sagte Elisabeth lächelnd.

»Das ist er wohl; aber wer wäre es nicht bei einer solchen Veranlassung?«

Elisabeth sah Darcy spöttisch an und wandte sich zum Gehen. Ihr Widerstand hatte ihn jedoch in keiner Weise zu kränken vermocht, und er ertappte sich dabei, daß der Gedanke an sie ihm eine gewisse Freude machte, als er sich plötzlich von Miss Bingley angeredet fand.

»Ich kann den Grund Ihrer Nachdenklichkeit erraten.«

»Das möchte ich bezweifeln.«

»Sie haben sich eben überlegt, wie unerträglich es sein müßte, noch viele Abende auf diese Weise zu verbringen – in solcher Gesellschaft! Ich muß gestehen, Sie haben recht. Ich habe mich noch nie so gelangweilt: diese Flachheit bei all dem Lärm, diese Hohlheit der Leute bei all ihrer Wichtigtuerei! Ich gäbe was drum, Ihre Meinung hören zu dürfen.«

»Ihre Annahme ist durchaus irrig, kann ich Ihnen versichern. Meine Gedanken waren sehr viel angenehmer beschäftigt. Ich dachte gerade darüber nach, wieviel Vergnügen einem ein paar dunkle Augen in einem schönen Frauenantlitz bereiten können.«

Miss Bingley sah ihn mit einem forschenden Blick an und wollte wissen, welche Dame sich rühmen dürfe, solche Gedanken erweckt zu haben.

Darcy erwiderte geradeheraus:

»Miss Elisabeth Bennet.«

»Elisabeth Bennet?« wiederholte Miss Bingley. »Ich staune. Seit wann datiert diese Vorliebe? Darf ich vielleicht schon bald Glück wünschen?«

»Die Frage hatte ich erwartet. Die Phantasie einer Frau kennt keine Hindernisse: aus Bewunderung macht sie Liebe und aus Liebe gleich Ehe. Ich wußte, daß Sie mich beglückwünschen wollten!«

»Aha, Sie verstehen schon keinen Spaß mehr; dann ist es ja so gut wie abgemacht. Sie werden eine entzückende Schwiegermutter mit in die Ehe bekommen, und ich bin überzeugt, Sie werden sich nicht darüber zu beklagen brauchen, daß Sie sie zu selten sehen.«

Er hörte ihr in völliger Gleichgültigkeit zu, während sie sich noch des längeren und höchst geistreich über dieses Thema verbreitete; und da sein Verhalten ihr die Versicherung gab, daß alles in Ordnung war, ließ sie ihren Geist immer witziger sprühen.