Satzinterpretationsstrategien mehr- und einsprachiger Kinder im Deutschen

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From the series: Language Development #37
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Satzinterpretationsstrategien mehr- und einsprachiger Kinder im Deutschen
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Jana Gamper

Satzinterpretationsstrategien mehr- und einsprachiger Kinder im Deutschen

Herausgegeben von Cristina Flores (Braga), Tanja Kupisch (Konstanz), Jürgen M. Meisel (Hamburg/Calgary), Esther Rinke (Frankfurt am Main)

A. Francke Verlag Tübingen



© 2016 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0007-6

Inhalt

  Dank

  Abkürzungsverzeichnis

  1 Einleitung 1.1 Ziele und Fragestellungen 1.2 Aufbau

  2 Kasusmarker, Wortstellung und semantische Relationen – eine kontrastive Perspektive 2.1 Funktionalistische Ansätze: Theoretische Prämissen 2.2 Form-Funktions-Relationen im Deutschen, Niederländischen und Russischen 2.3 Form-Funktions-Relationen in transitiven Sätzen – die kognitive Sicht 2.4 Synkretismen im Kasusparadigma – Zur besonderen Rolle der Belebtheit 2.5 Vorläufige Zusammenfassung

  3 mappings in der Satzverarbeitung und in der sprachlichen Entwicklung 3.1 Funktionen in Formen – das Competition Model 3.2 Cue-Transfer in mehrsprachigen Bedingungen 3.3 Belebtheit, Satzschema und Kasusmarker im Erwerb – Mehr- und einsprachige Perspektiven 3.4 Emergente mapping-Systeme: Zusammenfassung und Implikationen für die Satzverarbeitung

  4 Cue strength bei mehr- und einsprachigen Kindern – Vorannahmen und empirisches Design 4.1 Experimentelles Testdesign 4.2 Probanden 4.3 Durchführung

 5 Ergebnisse5.1 Haupteffekte5.2 Vom Satzschema zur Kasusmorphologie: Indikatoren für eine cue-Hierarchie5.2.1 Exkurs: Belebtheitskontrast als cue?5.2.2 Zur Rolle einzelner Artikelformen bei der Verarbeitung kanonischer Sätze5.3 Gruppenspezifische Verarbeitungsstrategien5.3.1 Die Rolle der Erstsprache5.3.2 Die Rolle des Sprachstands im Deutschen5.3.3 Auf dem Weg zur morphologischen Strategie – ein Überblick5.4 Individuelle Verarbeitungsstrategien5.5 Ergebniszusammenfassung

  6 cue strength im Kontrast: Ergebnisdiskussion und Methodenkritik 6.1 Was wissen mehr- und einsprachige Kinder über Formen und Funktionen? 6.2 Sukzessive cue strength-Modifikation: Parallelen zwischen Rezeption und Produktion 6.3 Zur Rolle der Erstsprache bei mehrsprachigen Kindern 6.4 Verarbeitungsstrategien der monolingual deutschen Kinder – Versuch einer Methodenkritik

  7 Ausblick

  Literatur

 AnhangI.1 Testsätze des Typs SVO ohne transparenten morphologischen cue (= ohne maskuline NP)I.2 Testsätze des Typs SVO mit eindeutigem morphologischen cue (= mit maskuliner NP als N1)I.3 Testsätze des Typs SVO mit transparentem morphologischen cue (= mit overter Kasusmarkierung bei N2)I.4 Testsätze des Typs OVS mit transparenter N1 (= den oder dem)I.5 Testsätze des Typs OVS mit halbtransparenter N1 (= derDAT)I.6 Testsätze des Typs OVS mit intransparenter N1 (= dasAKK oder dieAKK)

Dank

Die Anfertigung und Fertigstellung meiner Dissertation wäre ohne die Unterstützung von zahlreichen Personen kaum denkbar gewesen. Einigen von ihnen möchte ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen.

Meinen beiden Betreuern Prof. Dr. Klaus-Michael Köpcke und Dr. Andreas Bittner gilt mein ganz besonderer Dank. Die Zeit, Energie und Geduld, die sie in die Besprechungen und Diskussionen meiner Dissertation investiert haben, haben entscheidend zu ihrer Entstehung beigetragen. Ich habe durch die intensive Betreuung ungeheuer viel gelernt und danke den beiden, dass sie mir meinen Weg in die Sprachwissenschaft auf ihre ganz eigene Weise geebnet haben. Ebenso danke ich meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Brian MacWhinney für die Möglichkeit, einen Teil der Arbeit an der Carnegie Mellon University schreiben zu dürfen sowie für seinen wertvollen Input und seine Ideen.

Den an der empirischen Erhebung beteiligten Schulleiterinnen und Schulleitern, Lehrerinnen und Lehrern, den Eltern und ganz besonders den Kindern danke ich sehr für ihre Teilnahme.

Ich hatte das große Glück, Mitglied des Promotionskollegs Empirical and Applied Linguistics der Universität Münster zu sein. Der Austausch mit den Lehrenden sowie den anderen Promovierenden, ihre kritischen Nachfragen sowie ihr Feedback haben meine Arbeit stets ein Stück vorangebracht. Ich habe sehr von meiner Mitgliedschaft im Kolleg profitiert und möchte die fünf Jahre nicht missen. Besonders meine Mitpromovenden Verena Wecker, Anja Binanzer, Elisa Franz, Marc Schutzeichel und Valentina Cristante haben mich stets unterstützt – dafür danke ich ihnen. Prof. Dr. Jens Bölte danke ich für die Unterstützung in statistischen Fragen.

Katrin Thelen möchte ich für die vielen Stunden in der Bibliothek, endlose Gespräche über die Welt der cues und allen voran die Freundschaft, die aus all dem entstanden ist, danken.

Die vier gemeinsamen Bürojahre während der Dissertationsphase und die vielen erhellenden Gespräche, die mich mit Sabina De Carlo auch außerhalb der Bürowände verbinden, haben mich in vielerlei Hinsicht geprägt. Danke dafür.

Kathrin Weber danke ich fürs Zuhören, Diskutieren, Unterstützen und Motivieren innerhalb und außerhalb unserer Dissertationswelten.

Mein besonderer Dank gilt Alisa Blachut, die mit kritischem Blick und viel Geduld und Akribie die Arbeit Korrektur gelesen und es stets geschafft hat, mir mit freundschaftlichem Rat und einem offenen Ohr zur Seite zu stehen.

Ebenso möchte ich meiner Familie, vor allem meiner Mutter, meinem Stiefvater und meinen Großeltern dafür danken, dass sie mich immer motiviert haben und immer hinter mir stehen.

Mein größter Dank gilt Dir, Stefan. Danke fürs an meiner Seite sein.

Abkürzungsverzeichnis


AGAgens
AKKAkkusativ
CMCompetition Model
DATDativ
DETDeterminierer
FEMFemininum
L1Erstsprache
L1 NLErstsprache Niederländisch
L1 RErstsprache Russisch
L2Zweitsprache
MASKMaskulinum
monolingual Dmonolingual Deutsch
N+maximale Nominalphrase
N>Nzwei aufeinanderfolgende nominale Konstituenten
N1erste nominale Konstituente
N1-StrategieStrategie, die erste von zwei nominalen Konstituenten als Agens auszuwählen
N2zweite nominale Konstituente
NEUTNeutrum
NOMNominativ
NPNominalphrase
NVNnominale Konstituente - Verb - nominale Konstituente
OS-SatzSatz, in dem das Objekt vor dem Subjekt realisiert wird
PATPatiens
REZRezipiens
S>OAbfolge Subjekt vor Objekt
SO-SatzSatz, in dem das Subjekt vor dem Objekt realisiert wird
SpStSprachstand
SVOSubjekt - Verb - Objekt

 

1 Einleitung

„Die Esel wollten natürlich alle Kinder streicheln“ – am 20.11.2011 druckte der Lüdinghausener Kreiskurier1 diese ungewöhnlich anmutende Meldung ab. Auf den ersten Blick scheint es, als würden die Kinder von den Eseln gestreichelt werden. Beim nochmaligen Lesen wird diese erste Interpretation des Satzes jedoch vermutlich von den meisten Sprechern2 des Deutschen revidiert, sodass die Esel zu den Gestreichelten und die Kinder zu den Streichelnden werden. Obwohl diese Reinterpretation ohne weiteres vorgenommen werden kann, stellt sich die Frage, wodurch die anfängliche Ambiguität überhaupt entsteht und wie sie schließlich aufgelöst werden kann. Die erste Lesart des Satzes kann zustande kommen, weil Sprecher annehmen, dass das erstgenannte Argument des Verbs streicheln der Handlungsträger (Agens) und das zweitgenannte das Objekt (Patiens) sei. Man kann sich bei der Satzinterpretation also auf die Reihenfolge der Konstituenten und damit auf die Wortstellung stützen. Untermauert wird diese Satzinterpretation durch die Tatsache, dass beide Nominalphrasen im Plural realisiert werden und die Verbform in Hinblick auf Kongruenzrelationen keine der beiden Phrasen eindeutig als agentivisch favorisiert.

Syntaktische Ambiguitäten kommen im täglichen Sprachgebrauch in unzähligen Ausprägungen vor. Neben den ‚streichelnden Eseln‘ finden sich zum Beispiel Meldungen wie Zwei Autos beschädigten Unbekannte in der Nacht von Samstag auf Sonntag3 oder Elterngeld: Nur jedes fünfte Kind wickelt Papa.4 Jeder dieser Sätze ist uneindeutig und ermöglicht bei der Bestimmung des Subjekts zwei Lesarten. Während die streichelnden Esel und das wickelnde Kind vermutlich aufgrund des Weltwissens, dass Esel nicht streicheln können und Kinder ihre Eltern eher nicht wickeln, als Agens entfallen, ist es im zweiten Beispiel die Unbelebtheit der Autos, die diese als Aktanten ausschließt. Die Beispiele zeigen, dass Sprecher Sätze nach komplexen Prinzipien analysieren müssen, wenn sie bestimmen wollen, wer Handlungsträger und wer nur von der Handlung betroffen ist.

Nicht umsonst nennt Kako (2006: 1) Sätze „miniature plays“, die stets die Information enthalten, wer was tut und mit wem was geschieht. Die sprachliche Oberfläche dient uns neben dem Weltwissen dabei als Orientierungspunkt, um zu erfassen, wer die Aktanten innerhalb der Satzszene sind und in welcher Relation sie zueinander stehen, das heißt welche Rolle sie im Stück spielen. Unterschiedliche Formen werden dabei dazu verwendet, die Rollen der beteiligten Handlungsaktanten anzuzeigen. Formal-grammatische Mittel haben folglich eine Kodierungsfunktion. Aufgabe der Sprecher ist es, den oberflächensprachlichen Kode zu entschlüsseln, um an den Inhalt, im vorliegenden Fall die semantischen Relationen, zu gelangen. Der Handlungs- und Satzrahmen wird dabei von der Verbbedeutung bestimmt; den an der Handlung beteiligten Aktanten müssen in einem zweiten Schritt spezifische Rollen zugewiesen werden. So wäre bei der Kombination der Lexeme schenken, Mädchen, Junge und Blume zunächst nur klar, dass auf die Handlung des Schenkens sowie auf drei an der Handlung beteiligte Aktanten (Mädchen, Junge, Blume) referiert wird. Wer jedoch welche Rolle spielt, wird erst durch die Hinzunahme grammatischer Mittel deutlich. So kann beispielsweise entweder das Mädchen (Das Mädchen schenkt dem Jungen eine Blume) oder der Junge (Dem Mädchen schenkt der Junge eine Blume) zum Schenkenden werden.

Im Deutschen lässt sich anhand der Kasusmarkierung am Artikel meist eindeutig erkennen, wer welche Rolle in einer Handlung einnimmt. Wie die obigen Beispiele jedoch deutlich machen, sind Kasusmarker nicht immer eindeutig (zum Beispiel im Plural) oder nicht immer verfügbar, sodass der Sprecher andere Informationen hinzuziehen muss, mittels derer semantische Relationen im Satz determiniert werden können. Für den Fall, dass keine morphologischen Marker verfügbar sind, ist besonders die syntaktische Position der Aktanten relevant – diese grammatische Information ist nämlich in jedem Fall verfügbar. Weitere grammatische Mittel können die Subjekt-Verb-Kongruenz sein (zum Beispiel Die Kinder sieht der Mann) sowie besonders die Prosodie und der Kontext. Auf semantischer und damit nicht-grammatischer Ebene spielt auch die Belebtheit der Aktanten eine Rolle. Kasusmarker, Abfolge im Satz, Belebtheitskontraste, Prosodie und Kongruenzrealtionen fungieren damit als potentielle cues für semantische Relationen. Die grammatischen und semantischen Indikatoren sind hierarchisch zunächst gleich gewichtet. Wen der Sprecher in einem Satz wie Die Esel wollten natürlich alle Kinder streicheln als Agens auswählt, hängt schließlich von der sprecherspezifischen Gewichtung dieser cues, der sogenannten cue strength ab. Das Spezifikum des Deutschen besteht dabei darin, dass unterschiedliche cues ein und dieselbe Funktion erfüllen können. Allein der Sprecher entscheidet darüber, welche Kodierungsform die ausschlaggebende ist.

Aus den bisherigen Überlegungen lässt sich folgern, dass sprachliche Mittel mehr oder weniger eindeutige Funktionen erfüllen, mithilfe derer Sprachverständnis überhaupt ermöglicht und so die primäre Funktion von Sprache – nämlich die Kommunikation – gesichert werden kann. Diese funktionale Sicht auf grammatische und semantische Mittel wirft im Kontext eines auf sprachliche Entwicklung bezogenen Zugangs die Frage auf, wie Kinder Wissen über Formen und ihre Funktionen erlangen. Aus einer kognitiv-funktionalen und gebrauchsbasierten Perspektive, die den Grundstein dieser Arbeit bildet, heißt das, dass Kinder im Zuge ihrer sprachlichen Entwicklung vor der Aufgabe stehen, Form-Funktions-Paare zu finden, diese zu systematisieren, zu verstehen und letztlich selbst zu gebrauchen. Konkret bedeutet das, dass sie mittels spezifischer kognitiver Fertigkeiten den sprachlichen Input in Hinblick auf cues durchsuchen, um adäquate formalsprachliche Kodierungsmöglichkeiten aufzufinden, die eine Satzinterpretation und -produktion sicherstellen. Besonders bei der Satzverarbeitung dienen diese cues als Anhaltspunkte, mit deren Hilfe semantische Relationen identifiziert werden. Das Ziel im Sinne einer erfolgreichen, auf automatisierte Satzverarbeitung hin ausgerichteten sprachlichen Entwicklung besteht darin, mappings zwischen Formen und ihren Funktionen aufzubauen und so zu validen Form-Funktions-Paaren zu gelangen. Dies ist im Deutschen besonders deshalb eine potentielle Hürde, da eben keine Eins-zu-Eins-, sondern eine Viele-zu-Eins-Relation besteht (das heißt viele cues für eine Funktion). Kombiniert mit der These, dass die Gewichtung der einzelnen cues sprecherspezifisch variieren kann, schließt sich in Bezug auf sprachliche Entwicklungsprozesse die Frage an, ob Kinder zu unterschiedlichen Zeitpunkten spezifische Kodierungsmöglichkeiten als Indikatoren für semantische Rollen präferieren und ob sich die Präferenz im Laufe ihrer Entwicklung verändert sowie wovon diese Veränderung abhängig sein kann. Sprachentwicklung wird im Rahmen dieser Arbeit folglich als emergenter, im kontinuierlichen Wandel befindlicher Prozess einer Umgewichtung der cue strength verstanden, der von unterschiedlichen sprachspezifischen sowie lernerbedingten Faktoren abhängig sein kann.

Die lernerbedingten Faktoren, die im Zuge dieser Arbeit im Fokus stehen sollen, beziehen neben der sprachlichen Entwicklung vor allem die Mehr- und Einsprachigkeit von Sprechern ein. So müssen Kinder, die neben dem Deutschen eine weitere Sprache sprechen, in mehreren Systemen valide Form-Funktions-Relationen ausbilden. Eine innersprachliche Varianz wird damit um eine sprachkontrastive Varianz ergänzt. Während beispielsweise das Deutsche über Kasusmarker verfügt, haben andere germanische Sprachen wie das Niederländische einen starken Flexionsabbau erfahren. Da morphologische Marker als Indikatoren für semantische Rollen kaum verfügbar sind, lässt sich im Niederländischen die Rolle der Aktanten ausschließlich an der Abfolge der Konstituenten bestimmen. Andere indogermanische, insbesondere slawische Sprachen wie das Russische sind vom Flexionsabbau weniger betroffen, sodass Kasusmarker in fast allen Satzkontexten zuverlässige Indikatoren für semantische Relationen sind. Auf formal-sprachlicher Ebene stehen sich also die Wortstellung und die Kasusmarkierung als zwei maximal unterschiedliche Kodierungsmöglichkeiten dichotom gegenüber, die im Niederländischen respektive Russischen jeweils hochvalide cues für semantische Relationen im transitiven Satz darstellen. Im Gegensatz zum Deutschen dominieren hierbei also zwar maximal unterschiedliche, jedoch eindeutige cues die Kodiereung semantischer Relationen. In Bezug auf mehrsprachige Sprecher (Russisch-Deutsch sowie Niederländisch-Deutsch) stellt sich somit die Frgae, ob die validen cues der jeweiligen Ausgangssprachen (L1) den Verarbeitungs- und Interpretationprozess in der Zielsprache Deutsch (L2) beeinflussen. Unterschiedliche Ausgangssprachen, so die übergeordnete Hypothese der Arbeit, führen zu unterschiedlichen Gewichtungen von cues und somit zu divergierenden Interpretationsstrategien in der L2 Deutsch.

1.1 Ziele und Fragestellungen

Im Fokus der vorliegenden Arbeit stehen vier Fragestellungen. Erstens soll geklärt werden, welche grammatischen und semantischen cues (Wortstellung, Kasusmarker, Belebtheit) mehr- sowie einsprachige Kinder des Deutschen im Grundschulalter nutzen, um semantische Relationen in transitiven Sätzen zu determinieren. Geklärt werden soll dabei auch, ob und in welche Relation die genannten Mittel zueinander gesetzt werden und welche unterschiedlichen Strategien Kinder nutzen, um Sätze zu interpretieren. Zweitens soll ermittelt werden, ob sich die Gewichtung dieser Mittel verändert und wovon eine potentielle cue strength-Modifikation abhängig ist. Drittens – und dies ist zugleich auch die wichtigste Fragestellung – soll geklärt werden, ob typologisch divergierende Ausgangssprachen die Gewichtung von cues in der L2 beeinflussen beziehungsweise determinieren. Ein weiteres zentrales Ziel der Arbeit ist es, zu überprüfen, ob und welche spezifischen Artikelformen des Deutschen mit spezifischen Informationen verknüpft werden. Die Annahme hierbei ist, dass einzelne Artikelformen prototypische Funktionen erfüllen. Die Modifikation der cue strength könnte dabei ein Resultat dieser auf einzelne Artikelformen im Kasusparadigma bezogenen Form-Funktions-Relationen sein.

Die Beantwortung der Fragen erfolgt auf der Basis eines empirischen experimentellen Designs, in dem grammatische (Wortstellung, Kasusmarker) und semantische (Belebtheit) cues koalieren und konkurrieren. Methodisch orientiert sich das Testdesign an den Prinzipien des Competition Models (CM), was deshalb ausgewählt wurde, weil es neben grundlegenden funktionalsprachlichen Prinzipien auch kognitive Mechanismen bei der Sprachverarbeitung und der sprachlichen Entwicklung berücksichtigt und darüber hinaus ermöglicht, einzelne cues und ihre Relevanz für Satzverarbeitungsstrategien systematisch zu überprüfen. Das Modell umfasst die These, dass sprachliche Formen um die Kennzeichnung semantischer Relationen konkurrieren können. Das entwickelte Testdesign orientiert sich an dieser Konkurrenzthese und schafft Satzkontexte, in denen die drei Variablen Wortstellung, Kasusmarker und Belebtheit sowohl zugunsten einer spezifischen semantischen Rolle in transitiven Bedingungen koalieren als auch konkurrieren. Die systematische Korrelation dieser Bedingungen ermöglicht es, gruppen- und sprecherspezifische cue strengths zu erfassen.

 

Das Testdesign ist als forced choice-Aufgabe konzipiert, bei der die Probanden in transitiven Sätzen ein Agens auswählen mussten. Zu den Probanden gehörten Kinder im Alter von durchschnittlich 9;6 Jahren, die sich in Hinblick auf ihr sprachliches Profil unterschieden. Zwei Gruppen waren mehrsprachig, wobei bei einer die Ausgangssprache Niederländisch und bei der anderen Russisch war. Die dritte Gruppe bildeten gleichaltrige monolingual deutschsprachige Kinder. Hinzu kam eine vierte monolinguale Gruppe, die aus erwachsenen Sprechern des Deutschen bestand. Die beiden monolingualen Testgruppen dienten als Kontrollgruppen. Um auch potentielle entwicklungsbedingte Effekte abzudecken, wurden die drei Kindergruppen in Hinblick auf den Sprachstand im Deutschen gematcht. Bei der Auswertung der Testergebnisse wurden damit neben grammatischen und semantischen auch unterschiedliche lernerspezifische Variablen berücksichtigt.

Theoretisch ist die Arbeit in der kognitiv-funktionalen und gebrauchsbasierten Linguistik sowie einer konstruktivistisch-empirischen Sprachentwicklungssperspektive verankert. Die aufgeworfenen Fragestellungen werden deshalb vor dem Hintergrund der Grundannahmen verhandelt, dass sprachliches Wissen im Allgemeinen und cue strength im Besonderen im Sinne eines emergenzorientierten Ansatzes kontinuierlich modifiziert wird. Die Gewichtung von cues bildet dabei eine lernerspezifische kognitive Repräsentation der jeweiligen Form-Funktions-Relationen ab. Die Arbeit setzt deshalb an der Schnittstelle zwischen Satzverarbeitungsstrategien und sprachlicher Emergenz an.1

Die empirische Aufarbeitung form-funktionsspezifischen Wissens im Deutschen möchte somit eine relativ große Forschungslücke in Bezug auf mehrsprachige sowie insbesondere kindliche Sprecher schließen. Die bisherigen Erkenntnisse zu cue strength bei der Satzinterpretation beziehen sich nämlich vor allem auf einsprachige Sprecher und zeigen, dass die Gewichtung von cues einem kontinuierlichen Modifikationsprozess unterliegt. Mehrsprachig aufwachsende Kinder sowie damit einhergehende potentielle mapping-Transferphänomene im Deutschen standen bisher nicht im Fokus. Damit soll erfasst werden, welche Strategien Kinder mit unterschiedlichen sprachlichen Profilen bei der Satzinterpretation im Deutschen gebrauchen.