Ein Zimmer ohne Aussicht

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So auch dieses Mal: Trotz der schlimmen Worte und der noch schlimmeren Grimassen, die meine Mutter gezogen hatte, als sie ihre Schwiegermutter zurechtwies, war beim nächsten Essen alles schon wieder gut. Höflich wurden die Teller herumgereicht, und alle hatten sich lieb. In mir aber wirkten die Worte meiner Großmutter noch nach, sie hatte meiner Mutter gesagt, dass diese mich nicht einsperren könne. Einmal abgesehen vom Arrest, den ich abzusitzen hatte, war ich doch frei, dachte ich. Eine Idee davon, dass man jemanden auch geistig einsperren konnte, hatte ich nicht. Ich konnte nach draußen gehen, wann immer ich wollte, ich musste nur in Sichtweite bleiben, und die Beschränkungen, die mir auferlegt waren, die Orte, an die ich nicht gehen durfte, waren nur zu meinem Besten verboten, das alles diente nur dazu, damit ich mich nicht verletzte.



Was aber heute passiert war, war das die Rache des eigentlich lieben Gottes, war das die »kleine Sünde«, die sofort bestraft wurde?






Kapitel Sieben (außen)







Ein Bürger des Dorfes, der sich für fürsorglich hielt, hatte es für seine Pflicht gehalten, die Behörden darüber zu informieren, dass auf dem Schiefer-Hof, oder dem »schiefen Hof«, wie er jetzt allgemein genannt wurde, etwas nicht stimmen konnte. Natürlich sollte sich jeder um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, das war klar, aber immerhin ging es hier um das Wohlergehen zweier Kinder, die auf dem Hof wohnten und für deren Unversehrtheit das Amt schließlich Sorge tragen musste, oder etwa nicht?



»Was sagen Sie zu dem Fall der Schiefer-Kinder?«, sagte der Mann in der wöchentlichen Sprechstunde des Bürgerbüros zum diensthabenden Beamten.



»Was meinen Sie?«



»Haben Sie meine Nachricht von letzter Woche nicht gelesen?«



Der Angesprochene erinnerte sich, schob einige Papiere auf seinem Schreibtisch zusammen und nickte langsam.



»Doch, aber ich sehe noch keinen Handlungsbedarf.«



»Wann wird der denn gegeben sein?«



Der Beamte zuckte mit den Schultern und runzelte die Stirn. Ihm gefiel es nicht, wie ihn sein Gegenüber zu einer Handlung zu drängen versuchte. Es bestand tatsächlich keinerlei Handhabe. Alles, was dazu hätte führen können, dass die Behörden eingriffen, hätte eines konkreten Anfangsverdachtes bedurft, aber die geäußerte Mutmaßung fußte nicht auf Tatsachen, sondern auf dem Geschwätz ein paar Betrunkener. So sah er das.



»Was sind die Tatsachen? Gibt es Anhaltspunkte, dass es den Kindern nicht gut geht, dass sie vernachlässigt werden? Irgendetwas Konkretes?«



»Sie haben ihren Vater verloren …«, sagte der Mann mit einer Geste, die bedeuten sollte, dass damit alles gesagt war.



»Das haben viele andere Kinder auch, trotzdem gibt es keinen Anlass für einen Eingriff der Behörden. Von einer Einweisung in ein Heim kann schon gar nicht die Rede sein.«



»Sie müssten die Leute mal hören.«



Der Beamte sah auf seine Papiere, die keiner weiteren Ordnung bedurften, obwohl er sie immer wieder verrückte und neu anordnete, und deutete ein Lächeln an, das seinen spöttischen Ton unterstrich.



»Genau das ist das Problem, die Leute reden, wissen aber nichts.«



Er sah dem besorgten Mann direkt in die Augen und wusste bereits, was kommen musste.



»Haben Sie sich mal angesehen, wie die dort oben leben? Wissen Sie, was Jakob wirklich passiert ist?«



Die Gerüchte waren allgemein bekannt, neben der obskuren Mordtheorie ging es jetzt auch um den Hof, der nicht mehr richtig bewirtschaftet wurde, es ging um das fehlende Einkommen, das es der Mutter angeblich unmöglich machen würde, für ihre Kinder zu sorgen. Trotz allem ließ sich die Entscheidung, einer Mutter ihre Kinder zu entziehen, nicht auf ein paar äußerst zweifelhaften Behauptungen aufbauen.



»Geht es den Kindern schlecht? Sind sie verwahrlost? Bekommen sie nicht genug zu essen? Werden sie misshandelt?«



»Nicht, dass ich wüsste …«, sagte der Mann, wobei seine Stimme leiser wurde. Er konnte sich offenbar nicht erklären, wie seine Fürsorge derart herzlos abgeschmettert werden konnte. Und der Beamte setzte sofort nach.



»Dann verschwenden Sie bitte nicht weiter meine Zeit. Wir können nicht aufgrund von ein paar Gerüchten tätig werden. Der Familie ist Tragisches widerfahren, trotz allem ist ihr Schicksal nicht eines, was nicht schon andere Familien geteilt und auch gemeistert hätten, ohne dass man die Kinder von ihrer Mutter getrennt hat. Was glauben sie, wie traumatisiert die Kinder werden, wenn wir sie ohne Anlass aus ihrer gewohnten Umgebung herausreißen?«



Daraufhin gab es keine Antwort mehr. Der Beamte lehnte sich zurück und überdachte den Fall, spielte sogar kurz mit dem Gedanken, einen Mitarbeiter zum Hof zu schicken und die Lage selbst in Augenschein zu nehmen, entschied sich aber im selben Moment dagegen, er wollte die Wellen nicht noch höher schlagen lassen. Wenn das Dorf erführe, dass das Jugendamt jemanden zum Hof schickte, würden sich alle Befürchtungen in den Köpfen der Bewohner sofort bestätigt haben. Wenn das Jugendamt nach dem Rechten sah, musste ja etwas nicht stimmen! So konnte schnell die Situation provoziert werden, die es eigentlich zu beweisen galt. Aber was wäre, wenn tatsächlich etwas nicht stimmte und sich die Behörde vorwerfen lassen musste, nichts unternommen zu haben, sollte tatsächlich Schlimmeres passieren? Er beschloss, den Pfarrer des Dorfes ein wenig über die Familie auszufragen, so würde er vielleicht einen neutraleren Blick für die Situation bekommen, ohne direkt Dreck aufzuwühlen, der die Dinge nur noch verkomplizieren und ihm auch nicht garantieren würde, dass er dann objektivere Einsichten erhielt.



Der Bürger drehte sich beim Verlassen des Büros noch einmal um, den Hut in der Hand stand er da, auf verlorenem Posten aber mit noch einer Karte in der Hinterhand. Er startete einen letzten Anlauf: »Und was ist mit dem Kindergarten? Das Mädchen müsste lange im Kindergarten sein, dafür muss man doch sorgen!«



Er erntete jedoch nur ein Kopfschütteln, ein mitleidiges dieses Mal, aber das Mitleid galt ihm und seinem verzweifelten finalen Versuch und nicht den angeblich vernachlässigten Kindern.



»Da gibt es nichts zu sorgen. Wenn die Eltern, oder in diesem Fall die Mutter, es nicht für nötig befindet, ihre Kinder in den Kindergarten zu schicken, können wir da auch nichts tun. Es gibt eine Schulpflicht, für den Kindergarten existiert etwas Vergleichbares allerdings nicht.«



Der Bürger nickte resigniert, blickte zu Boden, zögerte kurz, als wollte er noch etwas hinzufügen, überlegte es sich dann aber doch anders. Er hob die Hand zum Gruß und verließ das Büro, der Beamte war froh, diese unerfreuliche Situation endlich beendet zu haben.



Der Pfarrer Wilhelm Landhofer erhielt noch in derselben Woche einen Anruf von einem Mitarbeiter des Jugendamtes und wurde gebeten, eine Einschätzung der Lage abzugeben. Der Beamte ließ sich die Verschwiegenheit des Pfarrers zusichern und fragte nach dem Wohlergehen der Kinder, Frieda und Bruno Schiefer, die Gerüchten zufolge auf dem Hof ihrer Mutter nicht in ausreichendem Maße versorgt seien. Aber der Pfarrer sah sich außerstande, das Gerede zu bestätigen, das auch ihm schon zu Ohren gekommen war. Im Gegenteil, er wusste nichts Negatives über die Familie zu berichten und bemühte sich nach bestem Wissen und Gewissen, die Gerüchte zu entkräften. Der Beamte gab sich zufrieden, aber jetzt war der sprichwörtliche Schwarze Peter weitergegeben, und nun machte der Pfarrer sich Gedanken darüber, was passieren würde, wenn seine Einschätzung nicht der Realität entsprach und die Kinder wirklich Hilfe benötigten. Schließlich sah er die beiden, wie auch ihre Mutter, nur ungefähr eine Stunde in der Woche und dann unter Umständen, die eine genaue Einschätzung der Lage nicht wirklich zuließen. Er beschloss, dem Hof in der nächsten Zeit einen Besuch abzustatten und selbst nach dem Rechten zu sehen. Als Mitglieder seiner Gemeinde und regelmäßige Kirchgänger würden sie sicher keinen Verdacht schöpfen, wenn er sie als ihr Seelsorger besuchte und sich infolge des tragischen Unglücksfalles nach ihnen erkundigte.





Im »Löwen« war die Meinung, dass es auf dem Hof nicht mit rechten Dingen zuging, zwar weit verbreitet, man sah Eva Schiefer mit Zurückhaltung an, misstraute ihrer Abkehr vom Leben im Dorf und ihre Zurückgezogenheit, trotzdem bestand keine Einigkeit darüber, dass man einschreiten müsse.



»Was geht uns das an? Lass sie doch machen, was sie will, die wird schon klarkommen.«



Gustav war sich seiner Einschätzung der Dinge sicher, aber Walter hatte eine andere Auffassung:



»Wir im Dorf haben uns schon immer beigestanden, und wenn da was nicht stimmt, müssen wir uns einmischen!«



Er schlug zur Bekräftigung seiner Worte auf den Tisch und sah herausfordernd in die Runde. Sein Bruder gab ihm recht: »Ganz genau. Wo wären wir denn, wenn wir nicht zusammenhalten würden?«



»Zusammenhalten, schön und gut, aber einfach so einmischen geht nicht.«



»Warum nicht?«



»Was würdest du sagen, wenn ich morgen bei dir in der Küche stünde und sagen würde: Hier müsste mal wieder geputzt werden?«



»Ich würde dir den Besen in die Hand drücken.«



Die Runde lachte, das Thema war vorerst abgeschlossen, aber noch lange nicht erledigt, jeder hing noch seinen Gedanken nach, und es dauerte eine ganze Weile, bis jemand ein anderes Problem ansprach und sich die Gruppe wieder geschlossen an der aufflammenden Diskussion beteiligte.






Kapitel Acht (innen)







Eines Tages erhielten wir unerwarteten, weil seltenen Besuch auf dem Hof. Seit Vaters Tod kamen immer weniger Leute zu uns, der Arzt hatte noch eine Weile nach den Tieren gesehen, aber als diese mit der Zeit immer weniger wurden, blieb auch er dem Hof fern, es sei denn, es wurde jemand ernsthaft krank, was eigentlich nicht passierte, kleinere Wehwehchen wurden mit Hausmitteln behandelt, von denen unsere Großmutter eine Unmenge kannte. Sie sammelte Kräuter, machte Tees und Umschläge und wusste scheinbar gegen alles ein Mittel, leider nur gegen die Nöte körperlicher Art. Seit auch Onkel Ernst nicht mehr kam, waren wir die meiste Zeit allein auf dem Hof, aber an diesem Tag besuchte uns der Pfarrer, den ich bisher immer nur in der Kirche gesehen hatte. Ich war erstaunt, dass er sich auch außerhalb der Messe völlig in Schwarz kleidete, irgendwie hatte ich mir nicht vorstellen können, dass dieser Mann sein ganzes Leben lang immer Pfarrer war. Vielleicht hatte ich gedacht, er würde in der Woche als Landwirt arbeiten, so wie die meisten hier, oder einen Laden führen oder etwas Ähnliches und nur am Sonntag in die Verkleidung des Gottesmannes schlüpfen, aber ich hatte mich offenbar geirrt. Er kam also auf den Hof und wurde von meiner Mutter beinahe ehrfürchtig begrüßt, so als wäre es entweder eine große Ehre, dass der Pfarrer uns besuchte, oder eine große Schande. Vielleicht war eine große Sünde geschehen, und es reichte nicht mehr, dass wir in die Kirche gingen, um zu bereuen? Aber es sollte um etwas anderes gehen, wir saßen zusammen im Wohnzimmer, meine Großmutter hatte in aller Eile den Tisch gedeckt, Kaffee gekocht und ein paar Kekse aus der Vorratskammer geholt. Erwartungsvoll sahen wir den Pfarrer an, der zunächst über Unverfängliches redete, dann aber irgendwann mit der Sprache herausrücken musste, als klar wurde, dass er nicht nur hergekommen war, um sich über das Wetter zu unterhalten.

 



»Ich möchte mit Ihnen über Frieda sprechen«, begann er, und der Blick meiner Mutter wanderte sofort zu ihrer Tochter herüber, die ihre Augen niederschlug, als wäre sie sich größter Schuld bewusst.



»Was ist passiert?«, fragte meine Mutter und wandte sich wieder dem Pfarrer zu, in Erwartung einer Hiobsbotschaft.



»Nein, nein, keine Sorge«, beschwichtigte sie der Mann, »ich wollte mich nur erkundigen, ob Sie gedenken, Ihre Kinder in den Kindergarten zu schicken. Ich meine, gerade Frieda ist eigentlich schon lange alt genug, bereits nächstes Jahr wird sie in die Schule gehen, und ich meine, es wäre hilfreich, wenn sie vorher zusammen mit anderen …«



Aber meine Mutter unterbrach ihn unwirsch: »Das kommt nicht infrage.«



Der Pfarrer sah sie fast erschrocken an, die Heftigkeit ihrer Antwort verschlug ihm die Sprache, mit einer so rigorosen Ablehnung hatte er nicht gerechnet. Meine Mutter ließ ihm keine Zeit für eine Antwort und fuhr direkt fort.



»Ich habe keine Zeit, sie zum Kindergarten zu bringen, und der Weg ist viel zu gefährlich und lang, als dass ich sie allein schicken könnte, das werden sie wohl verstehen.«



Nach einer kurzen Pause und einem strengen Blick auf meine Großmutter, so als wollte sie sich versichern, dass von ihr keine Widerrede zu erwarten war, redete sie unbeirrt weiter: »Meine Schwiegermutter hat ebenfalls keine Zeit, wir sind beide damit beschäftigt, den Hof in Ordnung zu halten, und kommen auch so kaum noch über die Runden. Wenn Frieda alt genug für die Schule ist, soll sie gehen, aber im Moment ist das reine Zeitverschwendung.«



Der Pfarrer hatte sich wieder etwas gefasst und startete noch einen Versuch.



»Aber meinen Sie nicht, dass es an der Zeit ist, dass sie auch andere Kinder …«



»Nein, das meine ich nicht. Ich denke, sie werden gesehen haben, wie man uns im Dorf behandelt.«



Sie unterbrach sich und sah Frieda und mich an, in ihren Augen war keinerlei Gefühl zu erkennen, aber man konnte sehen, dass sich ihre Hände ineinander krallten wie zwei kleine kämpfende Tiere und sich schließlich aneinander festhielten, um ihr Zittern zu verbergen.



»Geht mal raus, ihr beiden«, befahl sie, und es war ausgeschlossen, dieser Anweisung nicht Folge zu leisten. Es war allerdings möglich, dass wir nur so taten, als gingen wir ins Obergeschoss in unsere Zimmer, obwohl wir auf dem Treppenabsatz sitzen blieben und dem Gespräch durch die angelehnte Tür weiter zuhörten. Meine Mutter ließ den Pfarrer nicht zu Wort kommen, bevor sie ihre Rede nicht beendet hatte.



»Es ist Ihnen sicherlich nicht entgangen, dass wir wie Aussätzige behandelt werden, seit mein Mann verstorben ist. Ginge es nicht um den Gottesdienst, wir würden auch sonntags nicht ins Dorf kommen. Haben Sie die Blicke bemerkt, die man uns zuwirft? Niemand spricht mit uns, wir werden kaum gegrüßt, es ist, als hätten wir eine ansteckende Krankheit. Ich möchte nicht wissen, was über uns geredet wird, aber was man über uns denkt, sieht man den Leuten an.« Wir hörten sie Luft holen, es war ein verzweifeltes, hektisches Zischen, das keine Pause entstehen ließ, die lang genug war, damit der Pfarrer etwas hätte einwenden können. »Ich war nur einmal nach Jakobs Tod allein im Dorf und hatte das Missvergnügen, auf einen dieser Säufer zu treffen, die nichts Besseres zu tun haben, als den ganzen Abend im Löwen zu sitzen und ihr letztes Geld zu vertrinken. Wissen Sie, was man mir da gesagt hat? Wissen Sie das?«



Der Pfarrer schüttelte langsam den Kopf und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, aber meine Mutter war noch nicht fertig.



»Ich wurde gefragt, vor allen anderen, was für ein Gefühl es sei, meinen Mann endlich los zu sein!« Sie schrie jetzt fast. »Diese Nichtsnutze und Säufer haben mir quasi unterstellt, dass ich meinen Mann umgebracht habe! Können Sie das verstehen? Würden Sie ihre Tochter allein in ein Dorf schicken, in dem solche Menschen leben?«



Sie machte eine kurze Pause, atmete zunächst noch schwer und sprach dann mit merklicher Anstrengung ruhiger weiter.



»Wenn es nicht um meine Familie ginge, um mein Erbe und um meine Geschichte, die hier auf diesem Hof liegt … wenn es nicht darum ginge, dass ich meinen Eltern auf dem Totenbett versprochen habe, dass ich den Hof weiterführen, dass ich ihn nicht aufgeben werde, dass ich die Tradition der Familie bewahre gegen alle Widrigkeiten, die da kommen mögen, dann wäre ich schon lange weg, dann hätte ich diesen Sumpf längst verlassen. Ich hätte diesem Dorf, in dem ich mein Leben lang gewohnt, gelebt und geliebt habe, vor langer Zeit den Rücken gekehrt. Was habe ich getan? Sagen Sie es mir! Was habe ich getan? Ich bin hier geboren, ich bin mit diesen Säufern in die Schule gegangen, wir kennen uns unser ganzes Leben lang, aber womit habe ich es verdient, mir den Vorwurf anhören zu müssen, ich hätte meinen Mann umgebracht? Meinen Mann! Dem Menschen, dem ich vor Gott meine Treue geschworen habe, bis dass der Tod uns scheidet.«



Ihre Stimme brach, wir konnten sie von unserem Platz auf der Treppe nicht sehen, aber es hörte sich so an, als hätte sie angefangen zu weinen, doch schnell fing sie sich wieder.



»Bis dass der Tod uns scheidet, ja genau. Ich sage Ihnen, warum dieser Tagedieb mich so behandelt, warum er mich vor allen anderen bloßgestellt hat, warum er diese Gerüchte streut. Wissen Sie, warum er das tut? Weil ich ihn abgewiesen habe, weil ich ihm gesagt habe, dass ich lieber als alte Jungfer sterben werde, als einen Menschen wie ihn zu ehelichen. Einen Menschen, für den Ehre nichts bedeutet, einen schmutzigen, sündigen … ekelhaften Weiberheld, der sich darauf ausruht, dass die Ländereien seiner Eltern ihm seine Ausschweifungen bezahlen, der sein Lebtag noch keinen Finger gerührt hat, um sich ehrliches Geld zu verdienen, mit seiner Hände Arbeit. Das ist der Grund, warum er mich hasst. Und auch, wenn ihm das nicht das Recht gibt, mich vor allen anderen als Mörderin hinzustellen, so ist er derjenige, dem man glaubt. Man glaubt immer die schmutzigen Dinge, die Skandalgeschichten, die dreckigen Lügen, die so viel interessanter sind als die Wahrheit. Und deswegen hasst man uns im Dorf, deswegen spricht niemand mit uns, deswegen werden wir gemieden.«



Sie hatte sich jetzt wieder vollständig unter Kontrolle und merkte, dass sie zu weit gegangen war, dass ihre Gefühle sie mitgerissen hatten, weiter, als sie eigentlich gewollt hatte. Sie kam auf das ursprüngliche Thema zurück, nicht ohne sich der Loyalität des Pfarrers zu versichern.



»Jetzt wissen Sie den Grund, und ich hoffe, ich habe Ihr Wort, dass nichts davon, was ich Ihnen hier erzählt habe, je ins Dorf getragen wird.«



Der Pfarrer nickte langsam und sagte nichts.



»Deshalb werde ich den Teufel tun, verzeihen Sie mir, Frieda oder auch Bruno in den Kindergarten zu schicken, und ich würde sie lieber selbst unterrichten, wenn ich es nur könnte, statt sie allein in dieses Sündenloch herabsteigen zu lassen, in dem die Kinder der Leute, die gegen mich hetzen, über sie herfallen werden, sobald sie Gelegenheit dazu haben. Das ist der Grund, und das ist mein letztes Wort, ich werde meine Kinder so lange zu schützen wissen, wie es mir möglich ist, und wenn ich sie hergeben muss, werde ich es nur schweren Herzens tun und jeden Tag dafür beten, dass man sie mir heil und unversehrt wieder entlässt.«



Ihre Stimme zitterte abermals bei diesen Worten, aber sie hatte jetzt nichts mehr zu sagen und schwieg. Der Pfarrer räusperte sich, konnte aber der Vehemenz ihrer Worte auf die Schnelle nichts entgegensetzen. Auch meine Großmutter sagte nichts, ich erfuhr später, dass sie meiner Mutter zwar nicht zustimmte, zumindest nicht in allen Punkten, dass sie aber in diesem Moment daran dachte, wie sie selbst von ihrer Familie zurückgelassen worden war und ihre Schwiegertochter die Einzige war, die ihr noch blieb. Nach einer langen Zeit hatte sich der Pfarrer wieder etwas gefasst und versuchte noch einmal, auf meine Mutter einzureden, aber er wusste, dass er mit seinem Wunsch auf verlorenem Posten stand, und tat es nur, um sein eigenes Selbstwertgefühl wieder etwas instand zu setzen.



»Ich bedaure, dass Sie diesen Eindruck haben, und ich kann Ihnen versichern, dass niemand Sie hasst. Es mag einige einzelne, verwirrte Personen geben, die tatsächlich an diese unfassbaren Dinge glauben, die man Ihnen vorwirft, aber lassen Sie sich doch bitte nicht dazu verleiten zu glauben, dass jeder im Dorf diese Gedanken teilt, nur weil einige wenige besonders laut schreien. Ich würde mich freuen, wenn Sie Ihre Entscheidung noch einmal überdenken, vielleicht gibt es die Möglichkeit, dass die Nachbarn Frieda morgens mit ins Dorf nehmen, sodass sie nicht allein laufen muss, irgendetwas ließe sich da doch einrichten.«



Danach wurde nicht mehr gesprochen, ich hörte nur ein Flüstern und meinte, etwas gehört zu haben wie »nur über meine Leiche«, aber da kann mir die Erinnerung auch einen bösen Streich spielen, wahrscheinlich hatte sie einfach den Kopf geschüttelt und damit ihre Entscheidung für alle Zeiten festgeschrieben. Kurz darauf erhob sich der Pfarrer, wir hörten ihn seinen Stuhl über den Holzfußboden zurückschieben und schlichen schnell die Treppe hinauf, um nicht beim Lauschen erwischt zu werden. Oben auf dem Treppenabsatz vernahmen wir, wie der Pfarrer verabschiedet wurde, der sich bei meiner Mutter für ihre Ehrlichkeit bedankte und sie noch einmal bat, über die Sache nachzudenken. Dann fiel die Tür ins Schloss, und wir waren wieder allein. Und zum ersten Mal in meinem Leben schien es mir wirklich, dass wir allein waren, separiert, einsam. Denn durch die Rede meiner Mutter hatte ich etwas über die Welt erfahren, das mir vorher verborgen geblieben war, und zwar einfach aus dem Grunde, weil meine Mutter es vor uns geheim gehalten hatte. Es gab also außerhalb unseres Hofes eine andere Welt, eine böse Welt, die uns feindlich gesonnen war. Es gab nicht nur auf dem Hof Gefahren, auf die man achtgeben musste und die man einfach vermeiden konnte, es existierten darüber hinaus Menschen, die uns nicht mochten, die uns sogar hassten, wenn man meiner Mutter glauben konnte – und welchen Grund hatte ich, an ihren Worten zu zweifeln? Sie hatte es alles miterlebt, sie hatte ihr ganzes Leben hier verbracht und mit einem Mal war ihr eine Welle des Hasses entgegengeschlagen, Menschen hatten sie beschuldigt, unseren Vater ermordet zu haben! Und auch um Frieda fürchtete sie. Ich sah meine Schwester an und fand sie in Tränen aufgelöst. Das, was meine Mutter gesagt hatte, hatte sie direkt ins Herz getroffen. Wie musste ihr jetzt zumute sein? Meine Mutter hatte das Bild einer Welt von Abgründen, von Hass und Ablehnung, vor uns aufgezeichnet, und in diese Welt stiegen wir, sicher und geborgen an ihrer Seite, nur einmal in der Woche hinab. Es war eine Sphäre, die wir fürchten mussten, da wir keine Ahnung hatten, wie wir uns schützen sollten. Und jetzt kam der Pfarrer in unser Haus und versuchte, unsere Mutter davon zu überzeugen, ihre Tochter allein in diese Welt zu schicken. Ich umarmte Frieda und zog sie vom Treppenabsatz weg in ihr Zimmer, damit unsere Mutter nicht hörte, wie sie schluchzte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ich hätte gerne behauptet, dass alles gut werden würde, aber genau das würde es wahrscheinlich nicht, denn Frieda sollte ja bald in die Schule gehen. Der Zeitpunkt, an dem sie tatsächlich allein ins Dorf musste, war also schon festgesetzt, es gab kein Zurück mehr, die Macht unserer Mutter endete hier, sie musste ihre Tochter freigeben und gehen lassen ins Feindesland.

 



»Aber der Pfarrer gehört doch zum lieben Gott«, sagte Frieda, und die Tränen erstickten ihre Stimme. Ich wusste, was sie meinte, und war ebenso hilflos. Wenn schon der Pfarrer, dem auch meine Mutter zu vertrauen schien, denn immerhin gingen wir jeden Sonntag in seine Kirche, Frieda aus unserer Familie reißen wollte, wem konnte man dann noch trauen? Wenn selbst ein Mann Gottes seine Arme ausstreckte, um unsere Familie zu zerreißen, wo gab es noch Halt? Irgendwann schickte mich Frieda aus dem Zimmer, und ich fand mich allein auf dem Flur wieder, verwirrt und voller Angst. Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als verzweifelte Gebete auszustoßen. Ich faltete die Hände, wie ich es gelernt hatte, blickte zur Decke, in Richtung des Himmels, in dem jener wohnte, den wir immer um etwas bitten konnten, und flehte darum, dass er unsere Familie nicht zerstören, dass uns niemand Frieda wegnehmen möge und dass er die Leute, die uns hassten, gut machen solle, damit sie uns nichts tun würden. Völlig aufgelöst fand mich meine Großmutter, sie nahm mich in die Arme und ließ mich so lange weinen, bis keine Tränen mehr übrig waren.



»Frieda soll nicht weggehen«, stieß ich hervor, und meine Großmutter strich mir die Haare aus der Stirn und ließ ihre Hand auf meinem Kopf ruhen.



»Frieda wird nicht weggehen, und niemand wird sie uns wegnehmen, mein Kleiner«, sagte sie ruhig, fast flüsternd. »Niemand wird irgendjemanden wegnehmen.«



»Aber der Pfarrer hat gesagt …«



»Der Pfarrer hat nur gefragt, warum Frieda nicht in den Kindergarten geht, und Mama hat entschieden, dass Frieda nicht gehen wird.«



»Die Leute hassen uns.«



»Niemand hasst uns, das hat Mama nicht so gemeint.«



Ich wusste nicht, wem ich vertrauen sollte. Natürlich wollte ich meiner Großmutter glauben, aber hieße das nicht, dass meine Mutter gelogen hatte? Dass sie den Pfarrer angelogen hatte? Mir war klar, dass man nicht lügen durfte, dass das bereits eine Sünde war, aber wie schwer wog es dann, wenn man den Pfarrer, also auf irgendeine Weise indirekt auch Gott anlog? Wäre das nicht noch schlimmer? Ich wollte nicht glauben, dass so etwas gerade passiert war!



»Aber dann hat Mama gelogen«, stieß ich hervor und sah unsere Großmutter ängstlich an, so als stünde die Vernichtung unserer Mutter durch himmlische Kräfte unmittelbar bevor.



»Mama hat auch nicht gelogen, vielleicht hat sie etwas übertrieben, aber doch nicht mit Absicht. Weißt du, wenn man manche Dinge nicht richtig versteht, glaubt aber fest daran, dass man recht hat, dann ist es keine Lüge, wenn man darüber spricht. Wenn du zum Beispiel glaubst, dass es draußen regnet, weil du ein Rauschen vor dem Fenster hörst, dann ist es nicht gelogen, wenn du Frieda sagst, dass es regnet, obwohl das nicht stimmt, weil es vielleicht nur der Wind in den Bäumen war, den du gehört hast, verstehst du?«



Ich nickte langsam und war noch verwirrter als zuvor. Was konnten wir tun? Wenn es jemanden im Dorf gab, der Lügen über uns erzählte, die jeder glaubte, wie konnten wir jemals wieder aus dieser Falle herauskommen? Wie konnten wir den Blicken, die uns die anderen zuwarfen,

so als wären wir krank

, wie es meine Mutter gesagt hatte, jemals begegnen, wie konnten wir den Leuten beweisen, dass wir nicht die Teufel waren, für die sie uns zu halten schienen? Ich fragte meine Großmutter.



»Seid, wie ihr seid. Überzeugt die anderen. Wenn sie merken, dass ihr völlig normale Kinder seid, wird das Gerede ganz schnell aufhören.«



»Und wenn sie uns ärgern?«



»Das wird ihnen schnell langweilig, wenn ihr euch nicht ärgern lasst.«



Das hörte sich so einfach an, ich wusste nicht, wie ich das hätte tun sollen, sich nicht ärgern lassen, aber in diesem Moment war ich gewillt, alles zu glauben.





Unsere Großmutter ging im Anschluss an unser Gespräch noch zu Frieda herüber und versuchte, auch sie zu trösten. Das schien nicht ganz so einfach zu sein wie bei mir, denn ich hörte meine Schwester mehrfach schreien, bevor sie sich endlich beruhigt hatte. Ich schlich durch den Flur und lauschte an der Tür, meine Schwester beschuldigte

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