Ein Zimmer ohne Aussicht

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Kapitel Fünf (außen)

Im Dorf dauerte es nicht lange, bis man verstanden hatte, was der Tod von Jakob Schiefer bedeuten würde. Er hatte zwar nur »eingeheiratet«, sein Einfluss war es aber, der den Hof hatte florieren lassen, und entgegen der Tradition übernahm seine Frau wie auch der Hof, den ihre Familie seit Generationen bewirtschaftet hatte, seinen Namen. Ihre Familie lebte vormals sehr zurückgezogen, doch mit der Hochzeit sollte sich das ändern, es war Jakob, der Verbindungen mitbrachte, Freundschaften und eine große Verwandtschaft, die er nicht müde wurde, auf den Hof einzuladen, sie aber auch in Anspruch zu nehmen, wenn Hilfe benötigt wurde. Diesen Verbindungen ist es zuzuschreiben, dass der Hof zum ersten Mal seit seinem Bestehen Gewinn abwarf, der nicht nur gerade dazu ausreichte, die Familie zu ernähren. Es konnten neue Maschinen angeschafft werden, mehr Tiere, modernere Fütterungsanlagen, und sogar ein Teil des Waldes sollte abgeholzt werden, um Platz zu schaffen für weitere Felder. Dazu sollte es nach Jakobs Tod nicht mehr kommen, und auch andere Veränderungen standen an. Es wurde nur zu schnell klar, dass Eva keine Schiefer war, sondern mit ihrem Gemüt immer noch der Familie Kluth angehörte, zu deren Art und Weisen sie zurückkehrte, sobald ihr Mann sie auf diese schreckliche Weise zu früh verlassen hatte. Die Gesellschaften auf dem Schiefer-Hof hörten auf, die Verwandtschaft kam nur noch selten und stellte die Besuche irgendwann ganz ein, als sie merkten, dass sie nicht mehr willkommen waren. Der Hof und seine Geschicke hatten unter Jakobs Leitung ein buntes Kapitel in der Geschichte der Familie Schiefer aufgeschlagen, das leider nur zu schnell wieder geschlossen wurde, jetzt gewann die Familie Kluth wieder die Oberhand. Und obwohl Eva ihren Namen nie wieder änderte, war es, als hätte sie es getan, denn mit dem Ablegen und Zurückweisen all dessen, was Jakob begonnen hatte, war es gleichsam, als hätte er nie existiert. Es gab nicht wenige, die den Verfall des Hofes insgeheim mit leichter Schadenfreude betrachteten, Mitleid war ihnen fremd.

Eva Schiefer erlebte den Zerfall ihrer Kontakte zunächst mit gemischten Gefühlen, aber schnell war ihr klar, dass es der Familie ihres Mannes nie um ihre Person gegangen war, sondern immer nur um den Hof. Wäre sie wirklich eine Schiefer geworden, würden ihre Verwandten ihre Entscheidungen nicht nur billigen, sondern sie auch mittragen. So aber wurde sie verlassen, zurückgelassen mit den Kindern und einer Schwiegermutter. Gerade der Umstand, dass die Mutter weiter bei ihr wohnen bleiben sollte, da ihre alte Wohnung bereits aufgelöst worden war und sie ja genug Platz hatte, wie die Verwandten nicht müde wurden, ihr klarzumachen, schürte ihren Hass nicht nur gegen die Familie, sondern auch gegen die Mutter ihres Mannes, die an den Ereignissen ebenso wenig wie sie selbst Schuld trug. Aber genau das war eben nicht allen klar, speziell die Familienangehörigen, die Eva verdächtigten, beim vermeintlichen Unfall ihres Mannes etwas nachgeholfen zu haben, empfanden es als gerechte Strafe, dass sie sich jetzt um seine Mutter kümmern musste. Diese sahen sie als Moralinstanz an, als letztes Bollwerk der echten Schiefers auf dem Hof, der jetzt ihren Namen trug, die letzte, die die Ordnung aufrechterhalten würde.

Eine Weile gab es noch Besuche, aber schnell hörten diese auf, nur Onkel Ernst machte dem Hof länger Aufwartungen und blieb auch noch, als die anderen sich bereits nicht mehr sehen ließen. Er gab vor, sich um seine Mutter kümmern zu wollen, obwohl diese anfangs noch rüstig genug war, um nicht nur für sich selbst zu sorgen, sondern auch noch auf dem Hof auszuhelfen. Doch schnell wurde klar, dass die alte Frau krank war und über kurz oder lang keine Hilfe mehr sein konnte, sondern eine Last werden würde. Diese allzu bekannte »Neuigkeit« trug Ernst den Verwandten zu, die sich in ihrer Entscheidung bestärkt sahen, Eva als Gegenleistung für das, was Jakob für den Hof geleistet hatte, die Pflege der Mutter zu übertragen. Als es erst so weit war, dass Eva den Hof nicht mehr richtig bewirtschaften konnte, einige Tiere starben und später Maschinen und Gebäude verfielen, mochte niemand mehr seine Entscheidung zurückzunehmen, im Gegenteil, man sah Eva in der Schuld, und schnell wurde der Schiefer-Hof bei den Stammtischgesprächen zum »schiefen Hof«, den niemand mehr besuchen mochte.

Im »Goldenen Löwen« kam nicht selten die Rede auf den Hof, und einmal war auch Ernst anwesend. Nach dem Gespräch dieses Abends, an das der Wirt sich noch Jahre später erinnerte, blieb er allerdings weg, und es gab einige Spekulationen, was der Grund dafür sein mochte. An diesem Tag war auch der Pfarrer des Dorfes, Wilhelm Landhofer, im »Goldenen Löwen«, allerdings hielt er sich dem Stammtisch fern. Seine Haushälterin war krank geworden, und so war der Löwe die einzige Möglichkeit, abends noch etwas zu essen zu bekommen. Der Pfarrer saß einige Tische entfernt von der üblichen Runde, der die Reinbacher-Brüder ebenso angehörten wie Gustav Pesch, bereits erwähnter Ernst Schiefer und zwei weitere Bewohner des Dorfes. Schnell kam das Gespräch auf den »schiefen Hof«, es gab wildes Gelächter und böse Bemerkungen. Der Pfarrer hörte sich die Reden einige Zeit lang an, stand dann behäbig auf und ging zum Stammtisch herüber. Seine Autorität sowie der seltene Anblick des Geistlichen in der Kneipe ließ das Gespräch schnell verstummen, man war sich im Klaren darüber, dass das Gesagte diesen Raum nicht verlassen sollte und niemand es gewagt haben würde, Eva diese Dinge ins Gesicht zu sagen, auch oder gerade, weil man sie mied und nur sonntags in der Kirche sah. Gustav blickte den Pfarrer verstohlen von unten an und stieß ihm kumpelhaft die Hand in die Seite.

»Mensch, Willi, setz dich, lass dir einen Korn bringen«, begann er, aber der Angesprochene winkte nur ab. Die Runde blickte um sich wie eine ertappte Bande von kleinen Jungs, die beim Klauen von Äpfeln erwischt worden war.

»Mit welchem Recht redet ihr eigentlich so?«, fragte er niemand Bestimmten, aber es sah auch keiner hoch, um sich zu vergewissern, wen er meinte. Als er keine Antwort erhielt, fuhr der Pfarrer fort und sprach Ernst direkt an. »Schämst du dich nicht, so über deine Schwägerin zu reden? Als Jakob noch lebte, warst du voll des Lobes und jetzt sprichst du von ihr wie von einer Aussätzigen oder Mörderin!«

Die anderen am Tisch sahen Ernst an und wussten, dass die Kritik auch sie meinte, aber sie waren nicht so dumm, sich dem Pfarrer entgegenzustellen. Der Angesprochene sah von einem zum anderen, blickte dann kurz zum Mann Gottes, senkte die Augen aber sofort wieder.

»Man weiß ja nie …«, begann Ernst, wusste aber nicht wirklich, was er damit sagen wollte.

»Was weiß man nicht? Wenn du jetzt auch davon anfangen willst, dass Eva Jakob umgebracht hat, möchte ich dir mal eine Frage stellen: Wenn du tatsächlich meinst, dass Eva eine Mörderin ist, warum lässt du dann deine Mutter bei ihr?«

Ernst wusste keine Antwort, aber der Pfarrer hatte bereits eine Erklärung: »Ich sage dir, warum: Weil du feige bist und faul dazu. Glaubst du, es weiß niemand, warum du noch immer zum Hof gehst? Doch nicht, um deine Mutter zu besuchen, und an Eva ist dir auch nichts gelegen, wenn man dich so reden hört.«

Die Runde wurde hellhörig, und Ernst sank noch etwas weiter in sich zusammen, er wollte nur, dass der Pfarrer endlich ging.

»Was?«, fragte Adi, dem jetzt klar war, dass nur noch Ernst und nicht mehr er und die anderen die Angeklagten waren, die Reden von vorhin waren vergessen, nun ging es um etwas viel Schlimmeres, Abgründigeres. Er hob entschuldigend die Hände, sah den Pfarrer an und erwartete eine Erklärung. Doch dieser hatte seine Augen nur auf Ernst gerichtet, sein Blick glühte vor Zorn.

»Ich sage dir eins, Ernst, ich wohne jetzt schon sehr lange hier, und ich höre viel. Wenn ich nur die Hälfte von dem glauben soll, was ich über dich gehört habe, dann gebe ich dir nur einen Rat mit: Wenn mir zu Ohren kommt, dass da oben irgendetwas passiert, dann wirst du dich nicht mehr nur vor Gott zu verantworten haben. Ich erwarte dich am Sonntag zur Beichte.«

So hatte den Pfarrer noch niemand erlebt, und es würde auch nie wieder vorkommen. Ernst blickte nicht hoch, als der Pfarrer den Tisch verließ und wieder zu seinem Abendessen herüberging. Auf dem Weg dorthin begegnete ihm einer der anderen Gäste, der gerade von der Toilette kam, er setzte zu einem Gruß an, aber der Blick des Geistlichen ließ ihn verstummen, noch bevor ein Wort seine Lippen verlassen konnte. Die anderen versuchten, zu erfahren, wovon die Rede gewesen war, aber aus Ernst war nichts herauszubringen. Er trank sein Glas aus, machte dem Wirt ein Zeichen, dass er anschreiben solle, verließ den Löwen und würde nicht mehr an den Stammtisch zurückkehren. Der Pfarrer saß an seinem Tisch, ärgerte sich über seinen Ausbruch, kaute verbissen und wusste nicht, was er tun sollte. Er konnte seinen Verdacht niemals äußern und hoffte, dass seine Ansprache die gewünschte Wirkung gezeigt hatte. Ein verirrtes Schaf konnte ihm mehr Sorge bereiten als die ganze versprengte Herde.

Kapitel Sechs (innen)

Einige Zeit nach dem Tod unseres Vaters, ich war vielleicht fünf Jahre alt, spielten wir draußen auf dem Hof, im Blickfeld unserer Mutter, die uns vom Küchenfenster aus überwachen konnte. Wir rannten mit dem Hund um die Wette, schoben unsere Füße durch die Laubhaufen, die in großen Mengen herumlagen, schichteten Kastanien auf und bewarfen uns gegenseitig damit. Dabei erhielten wir von Zeit zu Zeit Ermahnungen aus dem Fenster, unsere Mutter beobachtete jeden unserer Schritte, sie verschwand immer wieder für nur eine kurze Weile in der Küche, schien aber jedes Mal zum richtigen Zeitpunkt wieder zurück zu sein, wenn wir gerade im Begriff waren, irgendetwas zu tun, was sie missbilligte. So war die Kontrolle fast lückenlos, denn bevor wir etwas taten, von dem wir wussten, dass sie es wahrscheinlich nicht gerne sehen würde, blickten wir kurz zum Fenster hinauf und hielten dann verdächtig in unserem Tun inne, wenn sie uns tatsächlich gerade sehen konnte. Es war ein ständiges Spiel mit der Versuchung, ob es uns gelingen würde, ihr für einen Moment zu entwischen. Irgendwann konnten wir sie eine ganze Weile nicht mehr sehen, wir erfuhren später, dass sie im Keller gewesen war, um irgendetwas zu holen, aber sie hatte es nicht sofort gefunden. Wir blickten argwöhnisch zum Fenster und erwarteten, dass ihr Gesicht jeden Moment wieder erscheinen müsste, aber die Überwachung blieb aus. Wir wurden mutiger, warfen die Kastanien härter und mit der Absicht, uns gegenseitig zu treffen, rannten schneller, schrien lauter. Als auch dann immer noch nichts passierte, überschritt ich eine Grenze und verschwand hinter der Scheune. Das war absolut verboten, denn hier gab es einen alten Wassertrog, völlig vermoost und mit allerlei Dreck und schmutzigem Wasser gefüllt, dann verrostete Geräte, die nicht mehr benutzt wurden, aber noch dazu gut sein konnten, Kinder zu verletzen, und ein altes Fallgitter, das über einem Schacht lag, durch den in früheren Zeiten Säcke in einen Kellerraum unter der Scheune befördert wurden. Ich lachte laut, rannte weiter und erwartete, dass Frieda mir folgen würde, aber nichts dergleichen geschah. Zuerst hörte ich nichts, mein Lachen übertönte alles, aber irgendwann vernahm ich ein hysterisches Kreischen. Ich blieb stehen, drehte mich um und sah meine Schwester auf dem Hof stehen und mir hinterherschreien. Ihr Blick sah unnatürlich starr aus, die Augen vor Angst weit geöffnet, ihr rechter Arm war ausgestreckt, sie zeigte auf mich, während sie den anderen Arm mit der geballten Faust dicht an ihren Körper gepresst hielt. Ich wusste nicht, was sie von mir wollte, aber dieser Anblick ließ mich erstarren, sie sah furchterregend aus, die Herbstsonne stand tief und ihr im Rücken, ihr Gesicht lag im Schatten, während die Haare, vom Wind gezaust, in einem leuchtenden, irren Heiligenschein um ihren Kopf fingerten. Ich sehe sie immer noch vor mir: Sie trug einen hellen, geblümten Rock, dazu eine dicke Strumpfhose, einen Wollpullover und Gummistiefel. Sie sah grotesk aus, und ihr Schrei machte die Situation nur noch gespenstischer, sodass ich umdrehte und langsam auf sie zuging. Kaum hatte ich sie erreicht, hörte der Schrei auf, sie atmete schwer und keuchte, in ihren Augen standen Tränen, sie zitterte am ganzen Körper.

 

»Was ist los?«, brachte ich hervor, ich hatte sie noch nie in meinem Leben so gesehen.

»Du darfst nicht …«, stieß sie hervor, aber ihre Tränen schnürten ihr die Stimme ab.

Plötzlich erschien unsere Mutter hinter ihr, ich erstarrte und blickte sie von unten her an, auch sie stand mit der Sonne im Rücken und zeigte ein düsteres, böses Gesicht, das mir zugewandt war und bereits mit einer Strafe zu drohen schien. Sie stemmte die Arme in die Hüften und fragte uns ungeduldig, was los sei und warum wir so schrien. Ich blickte Frieda angsterfüllt an, wir wussten, dass wir den Hof nicht verlassen sollten, aber ich hatte es trotzdem getan, in kindlichem Übermut und Sorglosigkeit. Als jetzt aber Mutter bei uns war, war das Verbot wieder präsent und es war klar, dass ich gegen etwas verstoßen hatte, was unbedingt beachtet werden musste. Der Tod unseres Vaters schwebte über uns wie ein drohendes Schicksal. War nicht auch er durch Unachtsamkeit umgekommen? Ich wusste es nicht bestimmt, aber der Geist des toten Vaters wurde ständig beschworen, wenn es darum ging, uns die Gefahren zu verdeutlichen, die auf dem Hof lauerten und uns nach dem Leben trachteten. Der Hof, das war kein neutrales Ding, keine unschuldigen Gebäude und kein Land, das uns freundlich gesonnen war. Es gehörte uns, aber wir hatten den Regeln zu gehorchen, die die Umgebung uns auferlegte, wir mussten Gesetze beachten, und wenn wir es nicht taten, drohte Bestrafung. Das war uns nie in diesen Worten gesagt worden, aber wir wussten, was gemeint war, wenn es hieß, dass wir achtzugeben hatten, dass wir aufpassen sollten und dass es Gefahren gebe, die uns überraschen würden. Es lag keine beständige Stimmung der Angst über unserem Spiel, solange es sich in Grenzen hielt, aber ich hatte eine dieser Grenzen überschritten, und die Angst hatte Frieda als Erste übermannt, weil ich in meinem Spiel einfach vergessen hatte, was unbedingt beachtet werden musste. Jetzt starrte ich Frieda an und hoffte, dass sie nichts sagen würde. Ich war wieder zurückgekehrt, stand am Rand des Hofes und nicht mehr in der verbotenen Zone, in Reichweite der Klauen der ständigen Gefahr, die von dem ausging, was sich hinter der Scheune und jenseits davon befand. Meine Schwester sagte zunächst nichts, bis meine Mutter ihre Frage wiederholte, dann hob Frieda langsam die Hand, zeigte zuerst auf mich, dann aber an mir vorbei und deutete mit ihrem zitternden Finger hinter die Scheune und auf die ansteigende Wiese. Diese mündete nach ein paar Hundert Metern in den Tannenwald, der so dicht war, dass das Sonnenlicht nach kurzer Zeit schlichtweg in ihm verschwand und den Blick versperrte.

»Ich …«, begann sie, »ich glaube, ich habe einen Fuchs gesehen.«

Meine Mutter ließ ihren Blick schweifen und suchte den Waldrand ab, konnte aber natürlich nichts entdecken. Ich war gerettet, meine Schwester hatte mich vor der unweigerlich drohenden Strafe bewahrt, und unsere Mutter erklärte uns, dass Frieda sich geirrt haben müsse und ein Fuchs nie so nahe an den Hof herankommen würde, vor allem nicht, weil Rex doch auf uns aufpasste. Wie um uns weiter von unserer Sicherheit zu überzeugen, ging sie in die Mitte des Hofes, auf dem Rex lag, streichelte ihm über den Kopf und redete ihm zu, dass er uns beschützen werde, laut genug, damit wir es hören mussten. Aber wir hatten keine Augen für den Hund, wir starrten uns nur gegenseitig an. Nach einer Weile wurde mir Friedas Blick unheimlich, ich drehte mich um und sah an der Bretterwand der Scheune entlang, die mir jetzt schon etwas gefährlicher vorkam im Vergleich zu vorhin, als ich daran entlanggerannt war. Der alte Pflug lag tatsächlich verrostet, drohend im Weg, einige der Klingen unter langem Gras verborgen, das Gitter über dem Schacht war alt und vom Wetter angegriffen, man konnte wirklich nicht wissen, ob es halten würde, wenn man darüber hinweglief. Ich blickte wieder zurück und sah Frieda an.

»Danke«, sagte ich so leise, dass sie es gerade noch verstehen konnte, aber unsere Mutter war nach einem kurzen Blick schon wieder auf dem Weg ins Haus und hatte nichts gehört.

»Mach das nicht noch mal«, zischte Frieda mir drohend zu, drehte sich weg und ging zu Rex hinüber, um sich bei ihm zu vergewissern, dass er tatsächlich auf uns aufpassen würde, wenn der Fuchs, den sie gesehen hatte, dem Hof zu nahe käme.

Man mag sich fragen, wie es ist, mit drei Frauen auf einem Hof zu leben, relativ abgeschottet von der Außenwelt und jeglichem männlichen Einfluss entzogen. Die wahrscheinlich gar nicht so erstaunliche Antwort auf diese Frage ist ganz einfach: Ich weiß es nicht, denn ich habe den Unterschied nie erlebt. Ich bin unter dem Einfluss von drei Frauen aufgewachsen (später vier, aber dazu an anderer Stelle mehr) und kann nicht sagen, was passiert wäre, wenn mein Vater oder eine andere männliche Hauptperson zugegen gewesen wäre. Ich hätte mich in einigen Dingen bestimmt anders entwickelt, dafür wären bestimmt auch Seiten, die ich jetzt an mir entdecke, nie so ausgebildet worden, wie es der Fall war. Was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass ich den Umgang mit den Menschen, die mich umgaben, sehr genau gelernt habe. Ich wusste zu jedem Zeitpunkt, zu wem ich gehen konnte, wenn ich ein bestimmtes Anliegen hatte, oder vielmehr: zu wem ich auf keinen Fall gehen durfte, wenn ich etwas Bestimmtes erreichen wollte. Ich weiß nicht, ob ich den Umstand bedauern sollte, aber es stellte sich im Laufe der Zeit heraus, dass ich meistens zu meiner Großmutter ging, mich dann meiner Schwester anvertraute und erst an letzter Stelle meine Mutter kam, wenn ich mit jemandem reden wollte. Dabei war sie diejenige, die am häufigsten beteuerte und uns sogar darauf einschwor, dass wir eine Familie seien, uns bedingungslos vertrauen könnten und müssten und dass danach ganz lange niemand mehr komme. Aber vielleicht war es genau dieses Abschotten von den anderen, dieses Ziehen einer Grenze, die mich davon abhielt, meiner Mutter alles anzuvertrauen. Es schien, als hätte ihr Bestreben, uns von den Einflüssen anderer fernzuhalten, viel eher dazu geführt, dass ich die Nähe genau dieser Personen suchte, und sei es nur, um festzustellen, ob meine Mutter recht hatte oder nicht. Bei meiner Schwester schien der Mechanismus anders zu funktionieren, sie lebte für die Familie als geschlossene Einheit, in die nichts Fremdes eindringen konnte, obwohl es zunächst den Anschein hatte, als wäre sie diejenige, die gegen die Regeln meiner Mutter am ehesten aufbegehren würde. Sie war es, die irgendwann sagte, sie sei in Ketten gelegt worden, aber irgendetwas war passiert, dass sie diese Ketten als etwas Gutes ansehen ließ. Ich habe sie nie direkt darauf angesprochen, aber irgendwann gab es einen Streit zwischen ihr und meiner Mutter, die bei angelehnter Tür in der Küche saßen, während ich im Flur spielte. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, was geredet wurde, jedoch ging es darum, dass Frieda nicht mehr wollte, dass Onkel Ernst uns besuchen käme, aber sie wollte meiner Mutter nicht sagen, woher diese plötzliche Ablehnung kam. Die ließ sich jedoch nicht abwimmeln und drang weiter und weiter und immer heftiger auf sie ein, bis meine Schwester tatsächlich zusammenbrach. Ich weiß nicht, was in der Folge passiert ist, denn plötzlich stand meine Mutter im Flur vor mir, herrschte mich an, es sei nicht statthaft, zu lauschen, schickte mich auf mein Zimmer im Obergeschoss und knallte die Küchentür hinter sich zu. Später kam Frieda die Treppe hoch, auf deren Absatz ich oben wartete, ihr Gesicht war rot und verquollen, sie hatte geweint und ging ohne ein Wort an mir vorbei, um in ihrem Zimmer zu verschwinden. Ich folgte ihr, klopfte zaghaft an ihre Tür und fragte, ob ich ihr helfen könne, erhielt aber keine Antwort. Währenddessen vernahm ich meine Mutter, die jetzt mit Großmutter stritt. Sie waren beide in der Küche, ich verstand kein Wort und schlich mich langsam nach unten. Was ich hingegen durch die geschlossene Tür hörte, ergab für mich keinen Sinn. Konsequenz dieser Auseinandersetzungen war jedoch, dass Onkel Ernst nie mehr auf den Hof kam, unsere Großmutter aber in der Folge häufiger den Hof verließ, um in das Dorf zu gehen, was meine Mutter sehr missbilligte. Auch in den folgenden Wochen kam es immer wieder zu Streitigkeiten hinter verschlossenen Türen, die meine Großmutter einmal nur dadurch beenden konnte, dass sie das Zimmer verließ und meiner Mutter seelenruhig entgegnete, wenn sie nicht mehr erwünscht sei, könne sie auch gehen. Zu dieser Zeit konnte unsere Großmutter allerdings noch auf dem Hof helfen, deswegen wäre es dumm gewesen, sie wegzuschicken. Als sie später nicht mehr in der Lage war, mit anzufassen, war es zu spät und meine Mutter zu sehr gute Christin, um sie vor die Tür gesetzt zu haben.

Die Folge dessen, dass unser Onkel nicht mehr auf den Hof kam, schien sich bei meiner Schwester erst langsam abzuzeichnen. Sie war unserer Mutter offenbar überaus dankbar dafür, dass sie etwas dagegen getan hatte, sich fürchten zu müssen. Ich habe Frieda viel später oft vorgeworfen, dass sie nur noch die jüngere Version unserer Mutter sei, darüber hinaus aber keinen Deut besser, was sie immer sehr verletzte. Jetzt bin ich mir sicher, dass sie einfach nicht anders konnte, dass sie gefangen war in der Welt, die unsere Mutter errichtet hatte und die sie bewohnte, mit allen Annehmlichkeiten aber auch allen Einschränkungen, die der Glaube an gewisse Dinge und das Festhalten an bestimmten Ritualen, Gesetzen und Regeln mit sich brachte. Ich für meinen Teil fühlte mich immer mehr zu unserer Großmutter hingezogen, zum einen, weil sie unserer Mutter todesmutig die Stirn geboten hatte, zum anderen, weil sie ins Dorf ging und mir freier zu leben schien, als unsere Mutter es jemals erlaubt hätte. Ich bin nie mit ins Dorf gekommen, aber manche Äußerung, manches Stirnrunzeln oder Verdrehen ihrer Augen, wenn meine Mutter etwas sagte, bedeuteten für mich mehr Rebellion und mehr Freiheit, als es das tatsächliche Verlassen des Hofes jemals hätte ausmachen können. Es zeigte mir, dass die allumfassende Macht, die meine Mutter innehatte und auch ausübte, gebrochen werden konnte, und sei es nur dadurch, dass man ein wenig zweifelte, dass man nicht jedes Wort genau so befolgte, wie es gesagt wurde, und dass man auch einmal etwas spontan entscheiden konnte, ohne erst ein ganzes Universum von Einschränkungen nach etwas zu durchsuchen, was dem Entschluss vielleicht entgegenstehen würde.

 

Eines Tages gab es eine Gelegenheit, die Welt der Regeln meiner Mutter auf die Probe zu stellen, und ich ergriff sie ohne Unrechtsbewusstsein, sondern einfach intuitiv, das Empfinden von Schuld kam erst viel später. Ich spielte draußen auf dem Hof und hatte ein Eichhörnchen entdeckt, das in den Bäumen hinter dem Stall hin und her sprang. Ich folgte ihm und betrat die Wiese, die schon seit langer Zeit nicht mehr gemäht worden war, wodurch mir die Halme fast bis zur Brust reichten. Ich wusste, dass die Wiese von einem Bachlauf durchzogen wurde, hörte auch das Plätschern des Wassers, konnte aber durch das hohe Gras das Ufer nicht mehr ausmachen. Für den Moment dachte ich auch gar nicht daran, sondern nur an das Eichhörnchen, das ich beobachten wollte. Ich bildete mir sogar ein, ich könnte es vielleicht mit ein paar Nüssen anlocken, es fangen und als Haustier in meinem Zimmer halten. Ich schlich also durch das Gras, den Blick fest auf den Baum gerichtet, in dem ich das Tier zuletzt gesehen hatte, ich bewegte mich langsam wie eine Katze, wild entschlossen, mich nicht entdecken zu lassen, und näherte mich vorsichtig den Bäumen. Ich bemerkte nicht, dass ich hinter den Stall geriet und vom Wohnhaus nicht mehr zu sehen war, was natürlich strengsten Verboten unterlag. Ich befand mich sozusagen schon in der Todeszone abseits der wachenden Augen meiner Mutter, und ein Unfall war nur noch eine Frage der Zeit. Mir wurde die Gefahr, in der ich offensichtlich schweben musste, erst bewusst, als ich über einen Stein stolperte, der Länge nach hinfiel und mit dem Oberkörper im Bach landete. Ich spürte einen dumpfen Schlag in meinem Gesicht und dann die jähe Kälte des Wassers, das über meine Arme lief. Ich richtete mich langsam auf, meine Lippe schmerzte, ich berührte sie mit meinen eiskalten Fingern und sah sich Blut mit den Wassertropfen vermischen, die meine Unterarme hinabrannen. Mit einem Mal stürzte alles über mir zusammen, ich richtete mich auf, blickte umher und fand mich jenseits des Stalles wieder, in einem Bereich, den man auf keinen Fall betreten durfte! Noch hörte ich nichts als das Rauschen des Wassers und den Wind, der durch die Bäume strich, in denen das Eichhörnchen schon lange meinem Blick entschwunden war, aber ich erwartete gleichsam ein Gewitter, das in der Sekunde über mich hereinbrechen würde, in der meine Mutter nach mir rief. Ich sprang schnell auf, denn in der kauernden Haltung, die ich innehatte, hätte man mich im hohen Gras nie entdecken können, blickte zum Haus und konnte das Fenster nicht sehen, von dem ich überwacht wurde. Ich rannte um den Stall und erreichte gerade den Hof, als meine Mutter am Fenster auftauchte. Sie blickte in meine Richtung, verschwand und trat kurz darauf aus der Tür. Sie kam zu mir herüber, es fühlte sich an, als bebte die Erde unter ihren stampfenden Schritten. Als sie mich erreichte, schien mir, als würde sich ein Anflug von Furcht in ihr vor Wut verzerrtes Gesicht mischen. Sie sah mich an und fragte beinahe drohend, was ich gemacht habe. Ich stammelte etwas von einem Eichhörnchen, aber sie wollte es nicht hören.

»Du blutest«, sagte sie. »Wie oft habe ich dir gesagt, dass du da bleiben musst, wo ich dich sehen kann? Was hätte passieren können!«

Der letzte Satz war keine Frage, sondern eine Aussage, eine Ankündigung des Unvermeidlichen. Aber ich hörte nicht mehr zu und sah betreten zu Boden, ein einsamer Tropfen fiel von meiner aufgeschlagenen Lippe, ich beobachtete ihn und sah, wie er zwischen meinen Füßen auf dem Pflaster zerplatzte. Meine Mutter war noch nicht fertig und herrschte mich an, ich werde sie noch ins Grab bringen, ob es das sei, was ich wolle, aber ich konnte nicht antworten, verstand die Worte nicht, mir war nur klar, dass ich sie bitter enttäuscht hatte, dass es meine Schuld war, dass sie sich so aufregen musste. Schließlich schleppte sie mich ins Haus und schickte mich auf mein Zimmer. Sie verhängte Arrest für den Rest der Woche und gab mir noch mit, dass ich am Sonntag in der Kirche dafür beten müsse, dass mir meine Sünden vergeben werden. Ich schlich nach oben und dachte über die Begriffe Sünde und Vergebung nach, konnte aber nichts damit anfangen, ich wusste nur, dass Sünde etwas sehr Schlimmes war, aber warum ich für Vergebung beten sollte, war mir nicht begreiflich. Meine Mutter hatte mir erklärt, dass Gott über uns im Himmel wohnte und alles sehen konnte, was wir taten, und dass Gebete Gespräche mit Gott seien, in denen wir ihn bitten würden, uns unsere Sünden zu vergeben. Aber ich hatte doch meine Mutter enttäuscht und nicht Gott, konnte ich mich nicht einfach bei ihr entschuldigen, so wie ich es bei meiner Schwester tat? Und warum war von ihm immer als der »Liebe Gott« die Rede, wenn man ihn immer nur um Dinge bitten und sich bei ihm entschuldigen musste? Aber vielleicht war das, was ich getan hatte, einfach so schlimm, dass es mit einer Entschuldigung bei meiner Mutter nicht getan war, vielleicht musste man sich bei Verfehlungen dieser Schwere an eine höhere Stelle wenden. Verwirrt ging ich durch den Flur und hörte, wie meine Großmutter aus ihrem Zimmer gekommen war und sich meiner Mutter zuwendete.

»Du kannst ihn nicht sein ganzes Leben einsperren. Kinder fallen nun mal hin und müssen selbst lernen, wie sie wieder aufstehen«, sagte sie, und es war keine Spur von Ärger in ihrer Stimme, aber meine Mutter fuhr sie wütend an, sie solle sich aus Dingen heraushalten, die sich nichts angingen.

»Es sind meine Kinder, und ich erziehe sie so, wie ich es für richtig halte. Was deine Erziehung angerichtet hat, hat man ja gesehen, gib du mir also keine Ratschläge!«

Meine Großmutter entgegnete daraufhin nichts mehr, aber als ich sie später beim Essen sah, wusste ich, dass sie geweint hatte. Sie lächelte mir zu, aber es war eine so unsägliche Bitterkeit in ihrem Ausdruck, dass sie mich nicht aufmunterte, sondern im Gegenteil nur noch trauriger machte. Und es war meine Schuld, dass sie geweint hatte, auch dafür musste ich am Sonntag um Verzeihung bitten. Meine Schwester hatte von der Aufregung nichts mitbekommen, aber sie kannte die Stimmungen in unserer Familie nur zu gut, sie wusste, wann es besser war, nicht nachzufragen, also starrte sie angestrengt auf ihren Teller, flüsterte das Tischgebet vor sich hin und begann dann zu essen. Während der Mahlzeit sprach niemand ein Wort.

Es war aber jedes Mal erstaunlich, wie schnell so ein Streit beigelegt schien. Natürlich wurde nichts beigelegt, nichts aufgearbeitet, sich nicht entschuldigt, aber ein Streit galt als unschicklich, und so ging man einfach darüber hinweg, so als wäre nichts geschehen. Selten wurde eine Floskel gebraucht wie »Jetzt vertragen wir uns wieder«, aber das war auch schon das höchste der Gefühle, normalerweise wurde einfach zur Tagesordnung übergegangen, die Verletzungen überdeckt mit einem Verband aus erzwungenem Lachen und überhöhter aber falscher Fröhlichkeit. Für mich war das als Kind Trost genug, die Hauptsache war, dass der Streit beigelegt, dass nicht mehr geschrien wurde, dass es keine bösen Blicke mehr gab. Dass der Mensch eine schier unerschöpfliche Kondition hat, wenn es darum geht, sich die kleinen alltäglichen Verletzungen zu merken, die sich im Laufe der Jahre zu klaffenden, schwärenden Wunden addieren, wusste ich damals noch nicht.