Lesen in Antike und frühem Christentum

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7.4 Lesen in der Synagoge bzw. am Sabbat

ZuletztSabbat istSynagoge nun die Frage zu diskutieren, in welcher Form und mit welcher Funktion im antiken JudentumJudentum in der „SynagogeSynagoge“ (zum Begriff s. u.) bzw. am SabbatSabbat gelesen wurde. In der Forschung wird diese Frage zumeist im Kontext der Geschichte bzw. Genese des Synagogengottesdienstes diskutiert, der allerdings nur aus späteren rabbinischenrabbinisch Zeugnissen bekannt ist.1 L. I. Levine formuliert in Bezug auf eine zeremonielle ToraTora-Lesung: „No Greek author of the Hellenistic period, nor any author of the apocryphal and pseudepigraphalPseudepigraphie books of the last centuries B.C.E., refers to such a practice.”2 Daher besteht die methodische Gefahr, vor allem angesichts der sehr spärlichen Zeugnisse aus vorrabbinischer Zeit, spätere Entwicklungen in den Befund zurückzuprojizieren und eine monolineare Entwicklungsgeschichte zu konstruieren. Dies führt dann z.B. zu Schlussfolgerungen wie:

„Der reine ‚Wortgottesdienst‘ des Protestantismus, der […] sich auf Gebet, Gesang, SchriftlesungSchrift-lesung und auslegende Predigt beschränkt, ist im Grunde bereits eine Schöpfung des antiken JudentumsJudentum; ähnliches gilt auch vom Versammlungshaus der GemeindeGemeinde, die sich zu einem solchen GottesdienstGottesdienst versammelt. Dieser jüdische WortgottesdienstGottesdienstWort- und der dazugehörige gottesdienstliche RaumRaum bildeten gegenüber den Kultformen aller antiken Religionen wie auch gegenüber dem eigenen traditionellen Tempelkultus eine revolutionäre Neuerung.“3

Inwiefern jedoch in der SynagogeSynagoge die Lesung der ToraTora oder anderer Schriften vor der rabbinischenrabbinisch Zeit institutionell fest verankert war bzw. gleichsam universell für jede bezeugte Synagoge vorausgesetzt werden darf, bzw. welchen Charakter das Lesen der Tora in Synagogen hatte, ist im Folgenden an den Quellen zu diskutieren, die auf das Lesen der Tora am SabbatSabbat bzw. in der Synagoge anspielen. Die Beantwortung dieser Frage wird erschwert durch die kontroverse Forschungslage zur Synagoge im vorrabbinischenrabbinischvor- JudentumJudentum und deren Entwicklung. Die kontroverse Diskussion bezieht sich u. a. auf die terminologische Vielfalt der Bezeichnungen und auf regionale Besonderheiten. Zudem wurde die Forschung insbesondere durch die Infragestellung der Existenz von spezifischen, institutionalisierten Synagogengebäuden bzw. der Infragestellung des SynagogengebäudesSynagoge als Ort des Gottesdienstes herausgefordert.4 Im Rahmen dieser Arbeit kann dies nicht ausführlich thematisiert werden.

Hinzuweisen ist aber v. a. auf die für die DiasporaDiaspora in Ägypten bezeugte Bezeichnung προσευχήπροσευχή (vgl. z.B. PhiloPhilon von Alexandria Flacc. 41.45 u. ö.; legat. 138.148 u. ö.; Ios.Josephus, Flavius c. Apion. 2,10; vita 277.280; Artem.Artemidor von Daldis on. 3,53; Iuv.Juvenal 3,296). Angesichts der Tatsache, dass Gebetspraxis in der SynagogeSynagoge für die Zeit vor dem jüdischenJudentum Krieg nur sehr spärlich bezeugt ist5 und sich diese Bezeichnung in Ägypten möglicherweise als Terminus für die Außendarstellung entwickelt hat, ist Vorsicht geboten, daraus weiterführende Schlussfolgerungen über die Funktion der προσευχήπροσευχή und über den Charakter der Veranstaltungen zu ziehen, die an diesem Ort stattfanden.6 Dass hingegen das Lexem συναγωγή zu einer Bezeichnung des Gebäudes werden konnte (vgl. neben den neutestamentlichen Belegstellen z.B. Philo prob. 81; somn. 2,127; Ios. bell. Iud. 2,287–292; 7,44–47; ant. 19,300–305), deutet in jedem Fall auf das SynagogengebäudeSynagoge als Ort des gemeinschaftlichen Zusammenkommens hin,7 das zahlreiche Funktionen hatte, um die „jeweiligen politischen, judikativen, religiösen und zum Teil auch sozialen Bedürfnisse der jüdischen Bevölkerung“8 zu erfüllen.9 Allerdings ist es für die frühen Belege nicht immer eindeutig, ob συναγωγή sich hier auf ein Synagogengebäude oder doch „nur“ auf eine soziale Größe bezieht. Aber auch wenn dies der Fall sein sollte oder auch die προσευχήπροσευχή-Belege nicht ein spezifisches Gebäude, sondern andere unspezifische Orte meinen oder auch Versammlungsorte in Privathäusern10 vorauszusetzen sind, behalten die folgenden Ausführungen ihre Richtigkeit. Denn in beiden Fällen würde es sich um das Lesen in einem gemeinschaftlichen Setting handeln. Aus pragmatischenPragmatik Gründen wird der Synagogenbegriff in dieser Studie als metasprachlicher Terminus, also in einem etwas weiteren Sinne verwendet, der nicht zwingend ein spezifisches Gebäude meinen muss.

a) Theodotus-Inschrift

AlsTheodotus-Inschrift wichtigstes Zeugnis für die Verknüpfung des VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt der ToraTora mit der SynagogeSynagoge in vorrabbinischer Zeit gilt die sog. Theodotus-InschriftTheodotus-Inschrift (CIJ 2 1404; CIIP 1.1 911), deren Datierung in die Zeit vor 70 n. Chr. jedoch umstritten ist.12 Die InschriftInschriften, die 1913–1914 bei Ausgrabungen durch R. Weill in der „Davidsstadt“ gefunden wurde, lautet folgendermaßen:


1 Theodotos, (Sohn) des Vettenus, Priester und
archisynagōgos, Sohn eines archisynagō-
gos, Enkel eines archisynagōgos, erbaute/
renovierte die synagōgē zum (Vor-)Le-
5
die Unterkunft für Gäste und die (anderen) Räume und die Wasser-
installationen zur Herberge für die-
jenigen aus der Fremde, die sie benötigen. Sie (sc. die synagōgē)
haben begründet seine Väter und die Äl-
10

Wie genau man sich den Komplex vorstellen soll, den diese InschriftInschriften voraussetzt, muss hier nicht weiter besprochen werden. Im Hinblick auf die hier diskutierte Frage ist die Zweckbestimmung der synagōgē mit den Syntagma εἰς ἀνάγνωσιν νόμου und εἰς διδαχὴν ἐντολῶν von Relevanz: Vom lexikologischen Befund her könnte ἀνάγνωσιςἀνάγνωσις hier theoretisch eine individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Form der Lektüre der ToraTora meinen. D. h. es ist zumindest nicht ausgeschlossen, dass die Tora in der SynagogeSynagoge zum privatenÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat Torastudium konsultiert werden konnte. In der Verbindung mit εἰς διδαχὴν ἐντολῶν und vor dem Hintergrund der noch zu diskutierenden Befunde bei PhilonPhilon von Alexandria und JosephusJosephus, Flavius erscheint es aber wahrscheinlicher, dass an eine Situation gedacht ist, bei der Texte aus der Tora vor PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum) vorgelesen werden. Aus der Inschrift gehen aber weder Zeitpunkt noch Umfang hervor. Auch gibt es keinen Hinweis darauf, dass man die Veranstaltung in der hier genannten Synagoge mit dem Adjektiv „gottesdienstlichGottesdienst“ oder das Lesen als „liturgisch“ charakterisieren könnte. Die Verwendung des Lexems διδαχή verweist dagegen eindeutig auf einen Lehrkontext. Diese Einbettung des Lesens der Tora in Lehr-/Lernkontexten wird auch in den folgenden Quellen deutlich, wodurch der Datierungsvorbehalt gegenüber der Inschrift weniger wiegt.15 Andere archäologische Zeugnisse, die mit dem Lesen in der Synagoge verbunden worden sind, müssen dagegen m. E. mit großer Vorsicht interpretiert werden.

Zu hypothetisch, um weiterführende Schlussfolgerungen daraus zu ziehen,16 ist etwa der Vorschlag von M. Aviam, einen dekorierten Stein aus der ins 1. Jh. n. Chr. datierten SynagogeSynagoge in Migdal17 als Basis eines Lesepultes für die TorarollenTora zu interpretieren.18 Um diese Interpretation abzusichern, bräuchte es besser erhaltene Vergleichslesepulte. Die vier runden Abbruchstellen an den Ecken des Steins könnten auch beliebig andere Aufbauten getragen haben. Auch aus der Dekoration lassen sich keine sicheren Schlussfolgerungen bzgl. der Funktion ziehen.19

b) Philon

Die relativ überschaubare Anzahl der literarischen Belege für die eindeutige Verknüpfung des Lesens der ToraTora am SabbatSabbat mit der SynagogeSynagoge stammen überwiegend aus den Werken von PhilonPhilon von Alexandria. Die detailreichste Beschreibung findet sich im Kontext von Philons Besprechung der Essener (vgl. Philo prob. 75ff):

 

„80 In der Ethik jedoch üben sie sich sehr, indem sie als Lehrmeister (ἀλείπτης) ihre väterlichen Gesetze verwenden […]. 81 In diesen Gesetzen werden sie zwar immer wieder auch während der übrigen Zeit unterrichtet20 (τούτους ἀναδιδάσκονται μὲν), jedoch vornehmlich jeweils am siebten Wochentag. Denn der siebte Wochentag wird als heilig erachtet. An ihm enthalten sie sich der sonstigen Arbeiten und begeben sich zu geheiligten Orten, die SynagogenSynagoge genannt werden (εἰς ἱεροὺς ἀφικνούμενοι τόπους, οἳ καλοῦνται συναγωγαί). Dort pflegen sie sich entsprechend dem Lebensalter – die Jungen zu den Füßen der Älteren – in Reihen niederzusetzen (καθέζομαι), und mit der gebührenden Ordnung sind sie bereit zu hören (ἔχοντες ἀκροατικῶς). 82 Dann nimmt einer die BücherBuch und liest vor (… τὰς βίβλους ἀναγινώσκει λαβών), ein anderer aber aus den Reihen der Erfahrensten tritt auf und erklärt, was nicht verstandenVerstehen wurde (ἕτερος δὲ τῶν ἐμπειροτάτων ὅσα μὴ γνώριμα παρελθὼν ἀναδιδάσκει). Denn das neuste wird bei ihnen nach althergebrachtem Brauch durch die Nutzung von Symbolen philosophischPhilosophie untersucht“ (PhiloPhilon von Alexandria prob. 80f; Üb. R. V. BENDEMANN; leich mod. JH).

Das sabbatlicheSabbat Lesen der ToraTora in der SynagogeSynagoge steht bei den Essenern lautLautstärkelaut der Darstellung Philons eindeutig in einem philosophischPhilosophie-ethischen Lehr-/Lernkontext (vgl. die Lexeme φιλοσοφία, φιλοσοφέω, ἠθικός und ἀλείπτης in prob. 80; sowie ἀναδιδάσκω in prob. 81f). Die sabbatliche Veranstaltung unterscheidet sich deutlich von der sabbatlichen Veranstaltung der TherapeutenTherapeuten, die im LiegenHaltungliegen (vgl. κατακλίνω in PhiloPhilon von Alexandria cont. 75) vor dem MahlGemeinschaftsmahl einen Vortrag hören (s. o.). Bei den Essenern hingegen werden Texte tatsächlich kollektiv-indirektRezeptionkollektiv-indirekt rezipiert, und zwar im SitzenHaltungsitzen (καθέζομαι): Einer nimmt die BücherBuch – es ist nicht ganz eindeutig, ob der Plural von βίβλοςβίβλος sich auf die einzelnen Teile der Tora oder tatsächlich auf die einzelnen Schriftrollen bezieht – und liest vor, während die anderen zuhören. Philons Ausführungen können durchaus so verstanden werden, als läge der Schwerpunkt nicht allein auf dem Hören (vgl. das Lexem ἀκροατικῶς in prob. 81) des Vorgelesenen, sondern auch auf dem Hören der allegorischen Auslegung durch ein erfahrenes Mitglied der Gemeinschaft. Auch wenn die Verknüpfung zwischen Synagoge und dem VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt der Tora noch in anderen Quellen bezeugt ist, so ist dabei Vorsicht geboten, die einzelnen Aspekte (z.B. die Sitzordnung),21 die die essenische Vorlesepraxis prägen, zu stark zu generalisieren und für alle vorrabbinischenrabbinischvor- Synagogen vorauszusetzen. Und zwar weil hier die Essener explizit differenzierend und abgrenzend dargestellt werden (vgl. Philo prob. 75–79).

Ein weiterer Hinweis auf die Verknüpfung von kollektivem Lesen und der SynagogeSynagoge findet sich in Philons Wiedergabe der Außenperspektive eines höheren Beamten in Alexandrien in seinem BuchBuch De somniis. Dieser Beamte stellt in polemischer Absicht angesichts eines hypothetischen Schreckensszenarios einer Naturkatastrophe o. ä. (vgl. somn. 2,126) die rhetorische Frage:

„Und werdet ihr in euren SynagogenSynagoge sitzenHaltungsitzen (καὶ καθεδεῖσθε ἐν τοῖς συναγωγίοις ὑμῶν), die gewohnte Versammlung (θίασος) abhalten und sicher die heiligen BücherBuchHeilige Schrift(en) lesen (ἀσφαλῶς τὰς ἱερὰς βίβλους ἀναγινώσκοντες) und, wenn etwas nicht klar wäre, es erklären (κἂν εἴ τι μὴ τρανὲς εἴη διαπτύσσοντες) und euch mit der von den Vätern ererbten PhilosophiePhilosophie weitläufigst beschäftigen und mit Muße bei ihr verweilen?“ (PhiloPhilon von Alexandria somn. 2,127; Üb. ADLER; mod. JH).

Die Außenperspektive wäre freilich eine sehr wertvolle Quelle für die jüdischeJudentum LesepraxisLese-praxis. Es ist jedoch unklar, wie viel internes Wissen der Beamte wirklich hat bzw. wie zuverlässig PhilonPhilon von Alexandria dessen Aussagen wiedergibt, oder ob er doch mit einem bestimmten Darstellungsinteresse seine eigenen Vorstellungen konstruiert. Unabhängig davon, von wem die Information stammt, ist hier jedoch belegt, dass die „heiligen BücherBuch“ – also aller Wahrscheinlichkeit nach die ToraTora – kollektiv, wie bei den Essenern, im SitzenHaltungsitzen (καθέζομαι) und vermutlich in indirekter Form rezipiert wurde. Die Formulierung schließt zwar nicht sicher aus, dass es sich um eine Form kollektiv-direkteLektürekollektiv-direktr Lektüre handelt, bei der in Gemeinschaft individuell gelesen wird; dies ist aber eher eine hypothetische Möglichkeit, da ja explizit von einem Versammlungskontext (θίασος)22 gesprochen wird. Allerdings dient der Plural des PartizipsPartizip von ἀναγιγνώσκω hier nicht dazu, die hörende Rezeption zu beschreiben, sondern meint analog zum Pluralpartizip von διαπτύσσω den Akt des VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt durch eine Einzelperson. Neben dem Vorlesen und Erklären von ToratextenTora besteht die beschriebene Veranstaltung aber wohl schwerpunktmäßig (vgl. die Formulierung διὰ μακρηγορίας ἐνευκαιροῦντές τε καὶ ἐνσχολάζοντες) auch aus philosophischenPhilosophie Gesprächen und Diskussionen. Belegt ist also eine kollektiv-indirekteRezeptionkollektiv-indirekt Form des Lesens in einem Lehr- und Diskussionskontext, die in einem SynagogengebäudeSynagoge stattfindet;23 ein „gottesdienstlicher“ oder „liturgischer“ Charakter der beschriebenen Veranstaltung ist jedoch nicht zu erkennen. Eine Verknüpfung der Versammlung mit dem SabbatSabbat wird nicht hergestellt, ist aber auch nicht ausgeschlossen; der fehlende Hinweis auf den Sabbat mag der Perspektive und Aussageabsicht geschuldet sein.

Explizit mit dem SabbatSabbat – hier aber ohne Verweis auf die SynagogeSynagoge – verknüpft PhilonPhilon von Alexandria das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt der ToraTora in seinem nur in Fragmenten durch Euseb bezeugten Werkes Apologia pro Iudaeis/Hypothetica (Eus.Eusebios von Caesarea praep. ev. 8,5,11–7,21). Es sei den Juden durch die Tora von Mose aufgetragen (vgl. Philo apol. 7,12), sich an jedem siebten Tag zu versammeln (συνάγω), sich gemeinsam zusammenzusetzen mit Achtung und Ordnung (καθεζομένους μετ᾽ ἀλλήλων σὺν αἰδοῖ καὶ κόσμῳ) und die Gesetze zu hören (ἀκροάομαι).

„Und in der Tat versammeln sie24 sich beständig und sitzenHaltungsitzen gemeinsam zusammen (συνεδρεύουσι μετ᾽ ἀλλήλων), die Mehrzahl in Stille (οἱ μὲν πολλοὶ σιωπῇ), außer wenn jemand meint, zum Vorgelesenen etwas Gutes hinzuzufügen. Ein Anwesender der Priester oder einer der Alten liest ihnen die heiligen Weisungen vor und erklärt sie der Reihe nach (καθ’ ἕκαστον ἐξηγεῖται) bis zum späten Nachmittag (μέχρι σχεδὸν δείλης ὀψίας); danach werden sie entlassen, erfahren in den heiligen Weisungen und deutlich in ihrer Gottesfurcht gestärkt“ (PhiloPhilon von Alexandria apol. 7,13).

PhilonPhilon von Alexandria fasst hier die wöchentliche Versammlung mit Lesung als mosaische Weisung auf (s. u. auch Ios.Josephus, Flavius c. Ap. 2,175), obwohl Dtn 31,10Dtn 31,10 (s. o.) nur eine Verlesung der ToraTora alle sieben Jahre vorsieht.25 Er beschreibt in generalisierender Weise eine aus seiner Sicht prototypische LeseszeneLese-szene kollektiv-indirekteRezeptionkollektiv-indirektr Rezeption der Tora wiederum im SitzenHaltungsitzen (συνεδρεύω), wobei die Rezeption durch das Verb ἀκροάομαι angezeigt wird; ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω bezieht sich hingegen auf den Akt des VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt durch eine Person, die qua Herkunft dazu bestimmt ist (Priester; vgl. Dtn 31,9–13Dtn 31,9–13; Neh 8Neh 8) oder durch jemanden, der sich durch die Erfahrung seines Alters qualifiziert hat. Wie schon bei den zuvor besprochenen Stellen wird das Verlesen durch Erklärungen komplementiert (hier aber unter Verwendung des Verbes ἐξηγέομαι), wobei vorausgesetzt ist, dass das Vorgelesene vollständigUmfangvollständig und sequentiellKontinuitätsequentiell besprochen wird (καθ᾽ ἕκαστον), während die Erklärungen sich oben auf das bezog, was nicht verstandenVerstehen wurde bzw. unklar geblieben ist. Auch wenn nicht ganz deutlich ist, wann die Veranstaltung beginnt, wird durch die Zeitangabe μέχρι σχεδὸν δείλης ὀψίας der besondere zeitliche Umfang hervorgehoben. Im Unterschied zur liegenden Vortragsrezeption bei den TherapeutenTherapeuten vor dem GemeinschaftsmahlGemeinschaftsmahl (s. o.) handelt es sich bei der Vorlese- und Lehrveranstaltung hier allerdings nicht um ein Mahl.26 Dass Philon betont, die ZuhörerHörer seien (bis auf qualitätsvolle Wortbeiträge) stillLautstärkestill gewesen, ist m. E. nicht Ausdruck eines besonderen gottesdienstlichenGottesdienst Charakters o. ä. der Veranstaltung. Vielmehr ist dies – durchaus mit einem apologetischen Impetus – in sozialer Hinsicht zu verstehen, bringt also eine besondere Disziplin der Zuhörer zum Ausdruck und fügt sich in die positive Charakterisierung des gemeinschaftlichen Zusammenseins, das Philon schon zuvor hervorgehoben hat (vgl. das Syntagma καθεζομένους μετ᾽ ἀλλήλων σὺν αἰδοῖ καὶ κόσμῳ in Philo apol. 7,12).

An zwei anderen Stellen thematisiert PhilonPhilon von Alexandria zwar Veranstaltungen in der SynagogeSynagoge am SabbatSabbat, vom Verlesen der ToraTora findet sich dort jedoch nichts. So schreibt er in Philo legat. 156, es sei Augustus bekannt, dass die Juden „Gebetsplätze/Synagogen (προσευχη) haben und sich in ihnen versammelten, besonders am heiligen Sabbat, wenn sie öffentlichÖffentlichkeitöffentlich in der PhilosophiePhilosophie ihrer Väter unterwiesen werden (ὅτε δημοσίᾳ τὴν πάτριον παιδεύονται φιλοσοφίαν)“ (Üb. KOHNKE, mod. JH). Diese Stelle ist insofern aufschlussreich, als sie belegt, dass die Synagogen nicht ausschließlich für Versammlungen am Sabbat genutzt wurden. Außerdem seien sie Orte des öffentlichen philosophischen Unterrichtens.

Eine gewisse Deutungsoffenheit enthält das Adjektiv δημόσιος. Vor dem Hintergrund der vereinsrechtlichen Ausnahmeregelungen in PhiloPhilon von Alexandria legat. 311–313 kann man es möglicherweise so verstehen, als meine Philon, dass die Juden sich mit offizieller Erlaubnis von Seiten des Staates versammelten.27 Daneben ist aber auch möglich, dass Philon einfach in apologetischer Hinsicht meint, dass die LehreLehre nicht im Geheimen gegeben wird und öffentlichÖffentlichkeitöffentlich nachvollziehbar ist (d. h. kein Menschenhass o. ä., also nichts Justiziables gelehrt würde). In dieser Hinsicht könnte man die Stelle sogar so lesen, dass Philon hier darauf hinweist, dass die Veranstaltungen tatsächlich „öffentlich“, d. h. für externes PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum) zugänglich gewesen wären. Ob Philon damit dann auch eine sozialgeschichtlicheSozialgeschichte Realität beschreibt oder es rein rhetorisch-apologetisch zu verstehen ist, kann schwer nachgeprüft werden.

Das Verb παιδεύω mag das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt von Texten der ToraTora implizieren. Dass die Verlesung jedoch den Schwerpunkt der Veranstaltung gebildet hätte, geht aus der Darstellung gerade nicht hervor; der Schwerpunkt liegt dagegen doch eher im Lehrcharakter der Veranstaltung. Entsprechend nennt PhilonPhilon von Alexandria an anderer Stelle die zahllosen (μυρίος) Gebäude, die „offen stehen (ἀναπετάννυμι) an den SabbatenSabbat in allen Städten“ (Philo spec. 2,62) auch διδασκαλεῖον. Auch hebt Philon mit dem Verb ἀναπετάννυμι wieder den nicht-verborgenen Charakter der Sabbatveranstaltungen hervor; dass vorgelesen wird, geht jedoch aus der Darstellung nicht hervor. Vielmehr sitzenHaltungsitzen (καθέζομαι) die Teilnehmer in geordneter Weise (s.o. schon Philo apol. 7,13) und

„mit gespannter AufmerksamkeitAufmerksamkeitvertieft, weil sie nach dem frischen Worte dürsten (μετὰ προσοχῆς πάσης ἕνεκα τοῦ διψῆν λόγων ποτίμων); einer der Erfahrensten aber erhebt sich und erteilt ihnen Belehrung (ἀναστὰς δέ τις τῶν ἐμπειροτάτων ὑφηγεῖται) über die guten und nützlichen Dinge, durch die das ganze Leben veredelt werden kann“ (PhiloPhilon von Alexandria spec. 2,62, Üb. HEINEMANN, mod. JH).

 

Die SabbatveranstaltungSabbat ist in dieser Darstellung ganz eindeutig eine Lehrveranstaltung, in der VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt, wenn überhaupt, nur eine SupplementfunktionSupplementfunktion hatte.28 Denn die MetapherMetapher vom „Dürsten nach dem frischen Worte“ bezieht sich auf mündlich konzeptualisierteMündlichkeit konzeptuell, „neue“ LehreLehre – die hier durch ein erfahrenes Mitglied der Gruppe erteilt wird und deren Inhalt explizit im letzten Teil des zitierten Auszuges bestimmt wird – und nicht auf etwas schon Bekanntes, das vorgelesen wird.29

c) Josephus

JosephusJosephus, Flavius thematisiert die sabbatlicheSabbat Lesung der ToraTora durchgängig, ohne einen konkreten Ort zu nennen. In seinem apologetischen Werk Contra Apionem schreibt er:

„Denn nicht einmal den Vorwand der Unkenntnis hat er [scil. Mose] uns gelassen, sondern als schönste und nötigste LehreLehre (παίδευμα) die Weisung hingestellt – uns, die wir es nicht nur einmal hören (ἀκροάομαι) sollten oder zweimal oder vielmals; sondern er hieß uns jede Woche nach dem Ablassen von (allen) anderen Arbeiten zur ‚Anhörung‘ (ἀκρόασις) der Weisung zusammenkommen und dieses genau zu erlernen (ἐπὶ τὴν ἀκρόασιν ἐκέλευσε τοῦ νόμου συλλέγεσθαι καὶ τοῦτον ἀκριβῶς ἐκμανθάνειν·): dies scheinen ja alle (sonstigen) Gesetzgeber zu übergehen“ (Ios.Josephus, Flavius Ap. 2,175; Üb. SIEGERT; mod. JH).

Wie schon PhilonPhilon von Alexandria versteht JosephusJosephus, Flavius die wöchentliche Lesung der ToraTora als Weisung von Mose.30 Anders als Philon schreibt er allerdings in der 1. Pers. Pl. und rein aus der Perspektive der hörenden RezipientenRezipient. Das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt selbst wird nicht näher thematisiert. Außerdem weist Josephus darauf hin, dass Mose nicht nur das wöchentliche Lesen angeordnet habe, sondern auch, dass die Tora genau erlernt bzw. genau erforscht31 werden solle. Dabei ist es keinesfalls eindeutig, dass die wöchentliche Lesung auch die Grundlage für das genaue Erlernen oder Erforschen bildet. Da sich das maskuline Demonstrativpronomen οὗτος eindeutig auf νόμοςνόμος und nicht auf die ἀκρόασις bezieht, ist es durchaus plausibel, dass Josephus zwei zu unterscheidende Momente der Auseinandersetzung mit der Tora meint: AuswendiglernenAuswendiglernen und Erforschen der Tora kann auch bzw. kann viel effektiver in der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Auseinandersetzung mit dem Text passieren. Dies liegt zumindest vor dem Hintergrund des oben Diskutierten nahe.32 Es gibt auch noch eine andere Stelle bei Josephus, an der möglicherweise eine individuell-direkte Auseinandersetzung mit der Tora gemeint sein könnte. Und zwar gibt er in ant. 16,2,4 [31ff] eine RedeRede eines gewissen Nikolaos wieder, die jener vor Agrippa hält und in der die Formulierung zu finden ist: τήν τε ἑβδόμην τῶν ἡμερῶν ἀνίεμεν τῇ μαθήσει τῶν ἡμετέρων ἐθῶν καὶ νόμου μελέτην ὥσπερ ἄλλου τινὸς καὶ τούτων ἀξιοῦντες εἶναι δι᾽ ὧν οὐχ ἁμαρτησόμεθα (Ios. ant. 16,2,4 [43]).

Da die syntaktischen Bezüge in diesem Satz nicht ganz eindeutig sind, wie schon die divergierenden modernen Übersetzungen zeigen, gibt es mindestens drei verschiedene Verstehensmöglichkeiten. Fasst man τήν τε ἑβδόμην τῶν ἡμερῶν als Akkusativ-Objekt zu ἀνίεμεν auf, ergeben sich folgende Möglichkeiten: 1a) Der Akkusativ μελέτην könnte in einem doppelten Bezugsverhältnis stehen; und zwar könnte μελέτην als weiteres Objekt des Widmens gemeint sein und zugleich das bezeichnen, was für würdig erachtet wird (ἀξιοῦντες): „Wir widmen dem LernenLernen unserer Sitten den siebten Tag und das Nachsinnen über die Weisung gleichwie über [etwas] anderes und diese [Dinge], weil wir es [scil. das Nachsinnen über …] für würdig erachten, wodurch wir nicht sündigen werden.“ 1b) Möglich wäre aber auch, dass μελέτην nur zu ἀξιοῦντες gehört und eine τῇ μαθήσει τῶν ἡμετέρων ἐθῶν καὶ νόμου Phrase bildet: „Den siebten Tag widmen wir dem Lernen unserer Sitten und der Weisung, weil wir Nachsinnen gleichwie über [etwas] anderes und diese [Dinge] für würdig erachten,…“ 2) Das Syntagma τήν τε ἑβδόμην τῶν ἡμερῶν könnte aber auch ein Akkusativ der zeitlichen Ausdehnung sein, woraus sich folgende Bedeutung ergäbe: „Den siebten Tag lang widmen wir das Nachsinnen dem Lernen unserer Sitten und der Weisung, weil wir dieses [scil. das Nachsinnen über …] gleichwie auch andere [Dinge] für würdig erachten, …

Weder der Kontext noch die Formulierung selbst implizieren, dass LernenLernen und Nachsinnen hier mit der SynagogeSynagoge verbunden ist oder in einer Versammlung geschieht. Aufschlussreich ist die Verwendung des Lexems μελέτη, da ja, wie oben zu sehenSehen war, das zugehörige Verb μελετάω in der LXXAT/HB/LXX v. a. in Jos 1,8Jos 1,8 und Ps 1,2Ps 1,2 als Übersetzung für הגה verwendet wird und dort mutmaßlich individuell-direkteLektüreindividuell-direkt, subvokalisierendeStimmeinsatzsubvokalisierend Lektüre der ToraTora meint, die dem (v. a. auf die Ethik ausgerichteten) Lernen dient. Es ist also durchaus möglich, dass in der von JosephusJosephus, Flavius wiedergegebenen RedeRede des Nikolaos diese Bedeutungsdimension zumindest in den Varianten 1a) und 2) mitzuverstehen sein könnte. Nur in Variante 1b), in der νόμος nicht direkt auf μελέτη bezogen ist, sondern auf das Lernen (μάθησις), liegt eine solche Bedeutungsdimension weniger nahe. Interessant ist ferner, dass in Variante 1a) das Nachsinnen nicht zwingend mit dem SabbatSabbat verknüpft ist, sondern auch an anderen Tagen passieren kann. Eindeutiger ist sein Hinweis im 10. Buch der Antiquitates. Dort weist er die LeserLeser darauf hin:

„Wer aber aus Liebe zur Wahrheit nicht die Mühe scheut, etwas eingehender nachzuforschen (πολυπραγμονέωπολυπραγμονέω), um über die ungewisse Zukunft sich zu unterrichten (μανθάνω), der bemühe sich das BuchBuch Daniel zu lesen (σπουδασάτω τὸ βιβλίον ἀναγνῶναι τὸ Δανιήλου), das er in unseren heiligen SchriftHeilige Schrift(en)en findet“ (Ios.Josephus, Flavius ant. 10,10,4 [210]; Üb. CLEMENTZ, mod. JH).

Diese Stelle impliziert eine individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Studienlektüre (πολυπραγμονέωπολυπραγμονέω, μανθάνω) des Danielbuches und setzt, wenn JosephusJosephus, Flavius es nicht nur rhetorisch meint, den potentiellen Zugang zu den Schriften für die intendierten RezipientenRezipient der Antiquitates voraus.33