Lesen in Antike und frühem Christentum

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7.1.5 Antizipation unterschiedlicher Rezeptionsgewohnheiten im 2Makk

Das zweite Makkabäerbuch, das den neutestamentlichen Texten nicht nur zeitlich nahe steht,1 sondern auch die EvangelienliteraturEvangelium beeinflusst hat2 und „einiges bei der Aufhellung des historischen, vorab des mentalitätsgeschichtlichen Hintergrundes des Neuen Testaments“3 beitragen kann, enthält zwei selbstreferenzielleselbstreferenziell Passagen (2Makk 2,19–322Makk 2,19–32; 15,37–392Makk 15,37–39), in denen sich der sog. „Epitomator“ zu Wort meldet und metadiegetisch über sein vorliegendes Werk reflektiert. Dieses Werk stellt gemäß seiner eigenen Aussage eine Zusammenfassung von fünf, sonst nicht bekannten BücherBuch des Kyrenäers Jason (2Makk 2,232Makk 2,23) dar. Im Folgenden verzichte ich jedoch auf die Bezeichnung „Epitomator“ für den extradiegetisch-heterodiegetischen ErzählerErzähler in den genannten Passagen und spreche stattdessen vom „VerfasserAutor/Verfasser“; und zwar deshalb, weil in neueren Forschungsbeiträgen herausgearbeitet wurde, dass dieser nicht einfach eine quantitative Modifikation seiner VorlageVorlage vorgenommen hat. Vielmehr tritt dem LeserLeser ein selbstbewusster SchriftstellerSchrift-steller gegenüber, der zwar mit einem gewissen rhetorisch zu erklärenden Understatement schreibt, seine Leistungen aber darin durchaus hervorhebt. Daraus ist abzuleiten, dass er sehr wohl qualitative Veränderungen vorgenommen und einen eigenständigen Erzählentwurf konzipiert hat.4 Im Rahmen dieser Studie wird die erste der beiden genannten Passagen näher zu untersuchen sein, weil in dieser ausführlich über die anvisierte Rezeption des Werkes reflektiert wird. Und zwar begründet der Verfasser in 2Makk 2,24 f2Makk 2,24 f, warum er das genannte fünfbändige Werk zu einem Buch5 zusammengefasst hat (2Makk 2,232Makk 2,23), folgendermaßen:


24
b und wie schwierig es für diejenigen ist, die sich in den Erzählungen der Historien hinein drehen wollen (εἰσκυκλέω),
c und zwar wegen der Fülle des Stoffes.
25
b
c

Der VerfasserAutor/Verfasser beschreibt zunächst in 2Makk 2,242Makk 2,24 die Defizite, welche er in der Darstellung der fünf BücherBuch des Kyrenäers Jason sieht.7 Dabei verwendet er in 2Makk 2,24b2Makk 2,24 das Verb εἰσκυκλέω m. E. analog zu einigen Beispielen, die ich unter 3.5 behandelt habe, metaphorischMetapher, vermutlich sogar metonymischMetonymie, um die lesende Auseinandersetzung mit den Büchern zu umschreiben. Denn man dreht sich (Medium) schließlich in den Erzählungen der Historien, indem man die fünf BuchrollenRolle (scroll) rollt. Die Formulierung „sich durchrollen“ setzt eine individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Form der Rezeption voraus, wobei die Kombination des Roll-Bildes mit der Metapher der Stofffülle (2Makk 2,24c2Makk 2,24),8 die auf die Unübersichtlichkeit des Dargestellten hinweist, implizieren kann, dass der Verfasser davon ausgeht, dass die Bücher diskontinuierlichKontinuitätdiskontinuierlich und womöglich auch selektivUmfangselektiv gelesen worden sind.

Sodann kontrastiert der VerfasserAutor/Verfasser in 2Makk 2,252Makk 2,25 diese Schwierigkeiten mit den Vorzügen, die er durch seine Kürzungsarbeit für seine LeserLeser vorgesehen hat. Es ist äußerst aufschlussreich, dass er in diesem Zusammenhang drei unterschiedliche Arten der Lektüre differenziert. Für die erste Gruppe, die seinen Text (nur) lesen wollen (ἀναγινώσκωἀναγιγνώσκω), hat er die Zusammenfassung so gestaltet, dass die Lektüre ihnen Vergnügen (ψυχαγωγία) bereiten kann, sie also unterhält.9 Das Lexem ψυχαγωγία ist im antiken literaturtheoretischenLiteraturtheorie Diskurs verknüpft mit der intendierten Wirkung, die Dichter mit ihren Texten erzeugen wollen.10 Der Verweis auf das Vergnügen korrespondiert zudem mit dem Bild in 2Makk 2,292Makk 2,29, wo er den Autoren des Textes mit einem Architekten vergleicht und sich selbst mit demjenigen, der für die Innengestaltung zuständig ist. Weil hier ästhetischesästhetischer Genuss/Vergnügen Vergnügen und UnterhaltungUnterhaltung in den Blick genommen werden, könnte man vermuten, dass eine stimmlicheStimme RealisierungStimmestimmliche Realisierung des Gelesenen impliziert ist.11 In diese Richtung könnte man auch einen Satz im Epilog des Verfassers (2Makk 15,37–392Makk 15,37–39) deuten,12 in dem er darauf verweist, dass die kunstvolle KompositionKomposition13 des Textes, die er mit Mischwein vergleicht, die OhrenOhr der Leser (τὰς ἀκοὰς τῶν ἐντυγχανόντων; 2Makk 15,392Makk 15,39) erfreue. Es ist allerdings auch denkbar – insbesondere weil ja eher die makrostrukturelle Komposition im Blick ist und weniger die Stilistik14 –, dass αἱ ἀκοαίἀκούω hier gleichsam im übertragenen Sinne den Gehörsinn bezeichnet bzw. noch allgemeiner das „geistige Wahrnehmungsvermögen“ meint.15 Zudem ist es im 2Makk – so wie sonst auch bei hellenistischer GeschichtsschreibungGeschichtsschreibung – das Inhaltliche, dass zur Unterhaltung der Leser beiträgt,16 das im Falle des 2Makk „die gesamte Spanne vom Erhabensten bis zum Schrecklichsten [umspannt], wobei das Schreckliche zweifelsohne stärkeren Eindruck hinterlässt.“17 Fest steht dagegen aber in jedem Fall, dass in den selbstreferenziellenselbstreferenziell Passagen, in denen sich der Verfasser zu Wort meldet, keine Evidenz zu finden ist, dass das 2Makk ein VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt vor einer Gruppe voraussetzt.

Der zweiten Gruppe, die der VerfasserAutor/Verfasser in 2Makk 2,25b2Makk 2,25 antizipiert, möchte er dabei helfen, dass sie besser auswendigAuswendiglernen lernenLernen können, wobei hier m. E. weniger an das Auswendiglernen des Wortlautes des Textes, sondern vielmehr an das Lernen der im Text dargestellten Sachverhalte gedacht ist. Bezüglich der zweiten Gruppe bleibt unklar, welchen genauen Zugang zum Text der Verfasser vor Augen hatte.

Zuletzt verweist er in 2Makk 2,25c2Makk 2,25 auf die übrigen LeserLeser, diejenigen, die dem Text begegnen (das PartizipPartizip von ἐντυγχάνω meint in unspezifischer Weise die potentielle, anonyme Leserschaft eines veröffentlichtenPublikation/Veröffentlichung BuchesBuch; in 2Makk 6,122Makk 6,12 spricht der VerfasserAutor/Verfasser sie noch einmal direkt an);18 für diese soll die Zusammenfassung nützlich sein. Das Lexem ὠφέλεια ist dabei semantisch so offen, dass hier die Nützlichkeit in Bezug auf ganz verschiedene LeseinteressenLese-interesse und -ziele und für ganz verschiedene Lesergruppen potentiell miteingeschlossen ist; und damit auch verschiedene LeseweisenLese-weise, wie diskontinuierlicheKontinuitätdiskontinuierlich Lektüren, selektiveUmfangselektiv sowie iterativeLektüreMehrfach-Frequenziterativ und singuläreFrequenzsingulär Zugriffe auf den Text usw. impliziert sein könnten.

Die Vielfalt der antizipierten Rezeptionsmodi wird sodann in der SymposienanalogieSymposion in 2Makk 2,26 f2Makk 2,26 f deutlich. Und zwar vergleicht der VerfasserAutor/Verfasser seine sorgfältige und anstrengende Kürzungsarbeit, die mit Schweiß und Schlaflosigkeit (ἀγρυπνία) verbunden war (2Makk 2,262Makk 2,26 f), mit der Arbeit, die man mit der Ausrichtung eines Symposions hat, bei dem man den einzelnen Gästen gerecht werden möchte (2Makk 2,272Makk 2,27). Mit dem Hinweis auf die Schlaflosigkeit (ἀγρυπνία) stilisiert sich der Verfasser, wie schon der Übersetzer von Sir, zudem als nächtlich arbeitender Gelehrter (s. o. zum Topos der lucubratiolucubratio).19

Der Hinweis auf Vergnügen und Nützlichkeit in 2Makk 2,252Makk 2,25 entspricht, wie L. Alexander es formuliert, dem „‚profit with delight‘ topos“,20 der in der griechisch-römischen LiteraturtheorieLiteraturtheorie weit verbreitet ist. Interessant ist dabei, dass in der Hauptquelle, die für diesen Topos herangezogen wird21 – eine Passage aus der ars poetica des HorazHoraz – ebenfalls ein, insbesondere bezüglich der Interessen, heterogenes, anonymes und überregionales, LesepublikumLese-publikum von Büchern explizit thematisiert wird; und zwar von Büchern, die mit ökonomischem Interesse über den BuchhandelBuch-handel vertrieben wurden (vgl. Hor. ars. 341–346). Wenn nun der VerfasserAutor/Verfasser einerseits unterschiedliche Rezeptionsmodi für sein Werk antizipiert (s.o. S. 123 schon Polyb.Polybios 11 prooem. 2) und sich andererseits an den Standards der hellenistischen GeschichtsschreibungGeschichtsschreibung orientiert22 und als selbstbewusster SchriftstellerSchrift-steller auftritt, kann man Folgendes schlussfolgern: Der Übersetzer hat sein BuchBuch, wie schon Jesus SirachSir, seinem anonymen PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum), das es in ganz unterschiedlicher Weise rezipieren konnte, über die antiken BuchhandelsstrukturenBuch-handel zur Verfügung gestellt. In Bezug auf das NT ist also festzuhalten, dass das antike, hellenistische JudentumJudentum keineswegs nur Literatur für auf lokale Räume beschränkte Gruppen produziert hat, sondern insgesamt an der hellenistisch-römischen Buch- und LesekulturLese-kultur partizipierte.

 

7.2 Philon

Das Œuvre PhilosPhilon von Alexandria bietet eine ganze Reihe von Stellen, die im Hinblick auf die Fragestellung dieser Studie relevant sind. Diese werden im Folgenden der Reihe nach summarisch zu besprechen sein. Darauf folgt die ausführlichere Auswertung von drei besonders wichtigen und aussagekräftigen Passagen, und zwar PhiloPhilon von Alexandria agr. 18; spec. 4,160–167; cont. 27–37; 75–89.

Mehrfach wird das Lesen bei PhilonPhilon von Alexandria explizit mit dem SehsinnSehen verknüpft (und nicht mit dem Hörsinn, was man angesichts der communis opinio zum Lesen in der Antike erwarten müsste). So charakterisiert er in spec. 1,214 intelligente LeserLeser, die Texte untersuchen (ἐπισκέπτομαιἐπισκέπτομαι), als solche, die „die heiligen SchriftHeilige Schrift(en)en mehr mit dem Verstand als mit den AugenAugen lesen (τῶν διανοίᾳ μᾶλλον ἢ ὀφθαλμοῖς ταῖς ἱεραῖς γραφαῖς ἐντυγχανόντων ἐπιζητήσειν).“ Diese Formulierung, durch die Philon ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der kognitivenkognitiv Verarbeitung erkennen lässt (s. dazu unten mehr), impliziert ganz eindeutig, dass diejenigen, die mit dem Verstand (διάνοιαδιάνοια) lesen, dies physiologisch mit dem Auge und nicht mit dem OhrOhr tun. In LA 1,83 fragt er rhetorisch, wie man ohne Augen lesen (ἐπεὶ πῶς ἀναγνώσεται χωρὶς ὀμμάτων), ohne Ohren ermahnende RedenRede hören und ohne Magen Nahrung und Getränke aufnehmen könne. Da im Kontext sowohl das Hören von Reden als auch das Essen und Trinken direktional auf die Aufnahme ins Innere eines Menschen ausgerichtet ist, muss man davon ausgehen, das Philon hier individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre meint und nicht das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt vor anderen. Ganz analog formuliert Philo in congr. 20, dass der Freund des Vielwissens mit einem irdischen und Ägyptischen Körper ausgestattet sei,1

„da er die AugenAugen braucht, um zu sehenSehen und zu lesen (χρῄζοντα καὶ ὀφθαλμῶν, ὡς ἰδεῖν καὶ ἀναγνῶναι), die OhrenOhr, um aufmerksam zu sein und zu hören (καὶ ὤτων, ὡς προσσχεῖν τε καὶ ἀκοῦσαι), und die anderen Sinneswerkzeuge, um alle Dinge der Sinneswelt aufzunehmen [wörtlich: zu entfalten]“ (PhiloPhilon von Alexandria congr. 20; Üb. LEWY; modifiziert JH).

Hier wird das Lesen exklusiv an den SehsinnSehen gebunden; die Verknüpfung des Hörsinns mit dem Aufmerksam-Sein (προσέχω) könnte ferner darauf hindeuten, dass er nicht nur das physische Hören von Schall im Blick hat, sondern auch die kognitivekognitiv Dimension andeutet. Ebenfalls eine visuellvisuell orientierte Lektüre wird bei PhilonPhilon von Alexandria vorauszusetzen sein, wenn er den Zweck des in Dtn 6,9Dtn 6,9 und 11,20Dtn 11,20 geforderten Aufschreibens der Worte in Dtn 5,4 fDtn 5,4 f, das sog. Sch’ma JisraelSch’ma Jisrael, darin sieht, dass

„Verreisende und in der Heimat Anwesende, Bürger und Fremde, die vorn am Tore eingeritzten Worte lesen und in steter ErinnerungErinnerung haben (τοῖς πρὸ τῶν πυλῶν γράμμασιν ἐστηλιτευμένοις ἐντυγχάνοντες ἄληκτον ἔχωσι τὴν τῶν λεκτέων καὶ πρακτέων μνήμη), was sie zu reden und zu tun haben“ (PhiloPhilon von Alexandria spec. 4,142; Üb. HEINEMANN; modifiziert JH).

Es geht hier um das Lesen eines bekannten Textes, der mit Sicherheit nur über das SchriftbildSchrift-bild von einem Großteil (auch weniger Gebildeter) mit einem Blick erfasst werden konnte. Interessant ist, dass die ErinnerungErinnerung nicht an das auswendiggelernte Wort, sondern an schriftlich fixierte Worte zurückgebunden wird, was bei PhilonPhilon von Alexandria noch an anderer Stelle deutlich wird (s. u.).

In seiner Schrift De vita Mosis beschreibt PhilonPhilon von Alexandria, dass jemand, der sowohl Chaldäisch als auch Griechisch gelernt habe, beim Lesen beider Schriften (ἀμφοτέραις ταῖς γραφαῖς ἐντύχωσι) deren Übereinstimmung feststellen kann (vgl. Philo Mos. 2,40). Philon meint hier die hebräische Fassung der ToraTora und ihre griechische Übersetzung, deren Zuverlässigkeit er zu legitimieren versucht.2 Das Verb ἐντυγχάνω verweist hier dementsprechend auf ein philologisch orientiertes, vergleichendes LesenLesenvergleichend. Interessant ist ferner eine Stelle (Philo virt. 17), an der er die LeserLeser auf seine früheren Schriften verweist und eine Lektüre (ἐντυγχάνω), die durch Sorgfalt/Gewissenhaftigkeit (σπουδή) geprägt und auf VerstehenVerstehen (νοέω) hin ausgerichtet ist, als Idealform voraussetzt.

Die LeserLeser der Heiligen Schriften benennt PhilonPhilon von Alexandria entsprechend der weit verbreiteten Gewohnheit (s. o.) zumeist mit dem mit bestimmtem Artikel stehenden PartizipPartizip von ἐντυγχάνω3 oder (seltener) mit dem Partizip von ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω.4 In seiner Mose-Biographie spricht er von bestimmten Tugenden von Moses, von denen die Leser der Heiligen Schriften wüssten (συνίσασι δ᾽ οἱ ταῖς ἱεραῖς βίβλοις ἐντυγχάνοντες; Philo Mos. 2,11). Die hier sehr wahrscheinlich vorausgesetzte individuell-direkteLektüreindividuell-direkt Lektüre der Heiligen Schriften führt (im von Philon vorausgesetzten Idealfall) zum Ziel, ein spezifisches Wissen (σύνοιδα) über die Inhalte der Texte zu erlangen, an die Philon hier argumentativ anknüpfen kann. Thematisch verwandt formuliert er in seiner Schrift De Abrahamo, dass die in den Heiligen Schriften verewigten Tugenden der Figuren dort dazu dienen, „die Leser (τοὺς ἐντυγχάνοντας) anzuregen und zu gleichem Eifer hinzuleiten“ (Philo Abr. 4; Üb. COHN). An anderer Stelle in dieser Schrift beschreibt Philon seinen Eindruck über die Urteile der RezipientenRezipient von der Erzählung der Opferung Isaaks (Gen 22,1–19Gen 22,1–19):

„Dem Weisen wurde seine Tat, obwohl sie unvollendet blieb, als eine vollkommene und vollständigeUmfangvollständig angeschrieben und verewigt, nicht nur in den heiligen BüchernHeilige Schrift(en), sondern auch im Denkvermögen/Verstand ihrer LeserLeser (ἐν ταῖς τῶν ἀναγινωσκόντων διανοίαις)“ (PhiloPhilon von Alexandria Abr. 177; Üb. COHN, modifiziert JH).

Dass PhilonPhilon von Alexandria mit dem Substantiv διάνοια hier durchaus die kognitivekognitiv Verarbeitung des Gelesenen im Blick hat, wird unten noch deutlich werden. In seiner Auslegung der Schöpfungserzählungen vergleicht Philon die Schönheit der in der ToraTora beschriebenen Schöpfung der Welt mit kleinen Siegeln, die bei der Prägung die Abbilder kolossaler Größen aufnähmen (vgl. Philo opif. 6). Diese Schönheit der Darstellung würden in Form von Lichtstrahlen τὰς τῶν ἐντυγχανόντων ψυχὰςψυχή treffen.5 Der Vergleich der Schöpfungserzählungen in der Tora mit den Siegeln sowie die Bildlichkeit der Lichtstrahlen markieren das vorausgesetzte LektürekonzeptLektüre-konzept als eindeutig visuellvisuell und gerade nicht auditivauditiv konnotiert. Nach diesem überblicksartigen Durchgang durch leserelevante Stellen im Werk Philons folgen nun drei Fallstudien zu besonders aufschlussreichen Passagen, die im Hinblick auf die Fragestellung der Studie auszuwerten sein werden.

7.2.1 Lesesozialisation bei Philon am Beispiel von agr. 18

In PhilosPhilon von Alexandria SchriftLese-sozialisation (s. auch Schriftspracherwerb) De agricultura, die durch Gen 9,20aGen 9,20 inspiriert ist, findet sich am Anfang eine allegorische Übertragung der Bildwelt der Landwirtschaft auf die Erziehung und Bildung des Menschen bzw. die Pflege der menschlichen Seele (PhiloPhilon von Alexandria agr. 8–19). In diesem Kontext kommt er auch auf die „schulische“ Grundausbildung zu sprechen.

„Einpflanzen werde ich aber in die Kinderseele Schößlinge, deren Frucht [die Seele] erquicken wird; das ist die Kunst geläufigen SchreibensSchreiben und Lesens (ἡ τοῦ γράφειν καὶ ἀναγινώσκειν εὐτρόχως ἐπιτήδευσις), das sorgfältige Untersuchen der Werke weiser AutorenAutor/Verfasser (ἡ τῶν παρὰ σοφοῖς ποιηταῖς ἀκριβὴς ἔρευνα), die Geometrie und der Betrieb der RhetorikRhetorik, sowie das gesamte Curriculum der enkyklischen Bildung (ἡ σύμπασα τῆς ἐγκυκλίου παιδείας μουσική“ (PhiloPhilon von Alexandria agr. 18; Üb. COHN; modifiziert JH).1

Die einzeln aufgezählten Elemente dieses Bildungsschrittes im Kindesalter, den PhilonPhilon von Alexandria von der Ausbildung des jugendlichen Heranwachsenden und dem Erwachsenwerden (vgl. νεανιεύομαι und ἀνδρόω direkt im Anschluss an die zitierteZitat Stelle) unterscheidet, konzeptualisiert Philon metaphorischMetapher als Schößlinge (μοσχεύματα), die durch den UnterrichtUnterricht in die Kinder hineingepflanzt werden. Vier Schößlinge nennt Philon explizit: „die Kunst geläufigen SchreibensSchreiben und Lesens“, „die sorgfältige Untersuchung der Werke weiser AutorenAutor/Verfasser“, Geometrie und RhetorikRhetorik. Zusammenfassend verweist er zuletzt auf das zu Lebzeiten Philons fest etablierte Konzept der enkyklischen Bildung (ἐγκύκλιος παιδεία)2 als einen weiteren Schößling. Die Art und Weise der Aufzählung und insbesondere die Tatsache, dass die Geometrie als fester Bestandteil der Bildung der freien Männer galt,3 zeigen, dass Philon die vier explizit genannten Schößlinge zur enkyklischen Bildung rechnet.4 Das heißt, es geht ihm mit dem ersten Schößling vermutlich nicht einfach nur um eine elementare Alphabetisierung (wie z.B. Sen. ep.Seneca, Lucius Annaeus (d. J.) 88,20, der die litteratura als Elementarbildung von der Vermittlung der liberales artes unterscheidet), sondern auch um elaboriertere Formen des Schreibens und Lesens, die er zur enkyklischen Bildung zählt.5 Dies macht er an einer anderen Stelle noch expliziter, an der er Lesen und SchreibenSchreiben in Bezug auf die enkyklische Bildung dem Bereich der Grammatik zuordnet (vgl. somn. 1,205).6 Die enkyklische, i. e. „allgemeine“, „übliche“ Bildung7 gilt für Philon wie für andere Zeitgenossen als Propädeutik für das StudiumStudium der PhilosophiePhilosophie.8 So vergleicht er sie z.B. mit der gängigen Metapher der Milchnahrung für Kinder, die der festen Nahrung der Philosophie vorausginge (vgl. Philo agr. 9; congr. 19; prob. 160),9 oder bezeichnet sie als „Vorhalle am Anfang eines Hauses“ (οἰκίας ἀρχαὶ πυλῶνες; Philo fug. 183) bzw. als Vororte (τὰ προάστεια) von Städten, durch die man hindurch müsse, wenn man in die Stadt wolle (Philo congr. 10).10

 

Bezüglich der Fragestellung dieser Studie ist nun der erste Schößling, der wohl bewusst am Beginn der Aufzählung steht, die Kulturtechnik11 des SchreibensSchreiben und Lesens, näher zu betrachten. PhilonPhilon von Alexandria spezifiziert das Lesen (ἀναγιγνώσκω) mit dem Adverb εὔτροχος, das wörtlich übersetzt so viel heißt wie „mit gutem Rad versehen“, modern „gut bereift“, und im übertragenen Sinne etwa „schnellLese-geschwindigkeit laufend“, „leicht laufend“ oder „gut gerundet“ bedeuten kann. Die Semantik des Lexems lässt es also zunächst offen, ob die Schnelligkeit oder Konstanz des Lesens gemeint ist, also eine Bewegungsmetaphorik im Hintergrund steht, oder ob Philon eine rein ästhetischeästhetischer Genuss/Vergnügen Wertung über die phonologischePhonologie Wohlformung des vokalisierendenStimmeinsatzvokalisierend, inszenierten Lesens in den Blick nimmt. Angesichts der weiten Verbreitung von Bewegungsmetaphern, die Lesen konzeptualisieren (s. o. 3.7), sowie der Zuordnung zur enkyklischen Bildung (s. o.) ist meines Erachtens die erste Option plausibler. Das Adverb εὔτροχος referenziert also die Schnelligkeit und Konstanz des Lesens.Lese-geschwindigkeit Dabei kann aber die ästhetische Dimension eines „gut laufenden“ VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt einerseits oder eine auf effiziente und schnelle Erfassung des Textinhalts ausgerichtete Lektüre andererseits gemeint sein. Wahrscheinlicher ist m. E. allerdings Letzteres, wie die Verwendung von εὐτρόχως an anderen Stellen bei Philon zeigt. In seiner Schrift De vita contemplativa diskutiert er das Perzeptionsvermögen von Vortragszuhörern in Relation zur Art und Weise des Vortrags. Im Hintergrund der Ausführungen stehen mutmaßlich Philons eigene Erfahrungen im Hören von Vorträgen. Philon formuliert, dass im Vergleich zu einem guten Lehrvortrag, der sich durch Verweilen, Langsamkeit und Repetition auszeichnet, eine Vortragsweise, die durch Schnelligkeit und atemloses Aneinanderreihen von Wörtern (vgl. die Formulierung εὐτρόχως καὶ ἀπνευστὶ συνείροντος συνείρω) geprägt ist, die ZuhörerHörer abhängt und das VerstehenVerstehen verhindert (vgl. Philo cont. 76). Hier wird εὐτρόχως also in Bezug auf mündliche Äußerungen mit eindeutig negativer Konnotation verwendet.12 Umgekehrt verwendet Philon εὐτρόχως in Mos. 1,48 mit eindeutig positiver Konnotation, um die schnelle kognitivekognitiv Auffassungsgabe von Mose zu charakterisieren.

Als nächstes Element nennt PhilonPhilon von Alexandria „die sorgfältige Untersuchung der Werke weiser AutorenAutor/Verfasser“. Da Philon das Verb ἐρευνάωἐρευνάω als LeseterminusLese-terminus für eine durch ein bestimmtes Erkenntnisinteresse gesteuerte LesepraxisLese-praxis verwenden kann,13 erscheint es plausibel, unter der ἔρευνα eine spezifische Lektürepraxis zu Studienzwecken zu verstehen. Dafür spricht zusätzlich, dass ἔρευνα mit dem an anderer Stelle zur näheren Bestimmung von LeseaktenLese-akt verwendeten Adjektiv ἀκριβήςἀκριβής spezifiziert wird.14 Einige Paragraphen später verweist Philon seine LeserLeser mit der Formulierung „wie wir nachforschend fanden“ (ἀναζητοῦντες εὕρομεν; (Philo agr. 26) auf lexikalische Untersuchungen, die er bezüglich landwirtschaftlicher Termini eingeführt hat. Da er hierfür mutmaßlich Agrarliteratur o. ä. lesen musste, könnte man dies als eine Konkretisierung der durch ein bestimmtes Erkenntnisinteresse gesteuerten Lesepraxis verstehen, die Philon mit dem zweiten Element in agr. 18 im Blick hat. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass auch das erste Element in agr. 18 eine auf effiziente und schnelle Erfassung des TextinhaltsLese-geschwindigkeit ausgerichtete Lektüre meint. Dazu passt, dass Philon selbst eine große Menge von Literatur rezipiert haben muss.15