Lesen in Antike und frühem Christentum

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1) Die LeseszeneLese-szene erstreckt sich zeitlich vom frühen Morgen bis zum Mittag (Neh 8,3Neh 8,3).

2) Der SchriftgelehrteSchrift-gelehrte Esra steht zusammen mit 13 Personen, die namentlich aufgezählt werden, erhöht auf einem Holzgerüst (Neh 8,4Neh 8,4), wodurch eine besondere, für alle visuellvisuell wahrnehmbare Inszenierung des Öffnens (פתח/ἀνοίγνυμι bzw. ἀνοίγω) der BuchrolleRolle (scroll) möglich wird (Neh 8,5a/bNeh 8,5).

3) Das VolkVolk reagiert auf das Öffnen des BuchesBuch damit, dass es sich erhebt (Neh 8,5c/dNeh 8,5); nach einem Lobpreis durch Esra spricht das Volk mit erhobenen ArmenArmut „Amen, Amen“, woraufhin es sich verneigt und zu Boden wirft (Neh 8,6Neh 8,6). Der Text ist dahingehend nicht ganz eindeutig, ob das Öffnen des Buches impliziert, dass Nehemia aus der ToraTora vorliest, was ja in Neh 8,3Neh 8,3 vorweggenommen worden ist; dann wären sowohl der Lobpreis JHWHs als auch die Reaktion des Volkes als Abschlussritual zu verstehen, wie G. J. Venema mit Verweis auf das „Amen, Amen“ als typical closing formular vermutete.36 Dass das Öffnen eines Schriftmediums metonymischMetonymie einen LeseaktLese-akt implizieren kann, haben die Ausführungen unter 3.5 gezeigt. Umgekehrt kann man die Formulierung‎ וּכְפִתְחוֹ עָמְדוּ כָל־הָעָם (Neh 8,5Neh 8,5) auch so verstehen, dass sich das Volk tatsächlich beim Öffnen des Buches erhebt – die Übersetzung in der LXXAT/HB/LXX mit dem Aorist ἤνοιξεν zeigt eine solche punktuelle Interpretation des Textes – und die geschilderte rituelle Handlung vor der Verlesung geschieht.

4) Der Text betont mehrfach das VerstehenVerstehen des Gelesenen (Neh 8,2 fNeh 8,2 f.8Neh 8,8.12Neh 8,12); es handelt sich also nicht um ein bloßes RitualRitual/ritualisiert, in dem der Text gleichsam als heiliges Objekt behandelt wird. In dieser Hinsicht ist auch die Gruppe von Beteiligten relevant. In Neh 8,7 fNeh 8,7 f werden 13 Personen namentlich genannt, die sich von den in Neh 8,4Neh 8,4 Genannten unterscheiden, und eine in ihrer Größe nicht näher spezifizierte Gruppe von Leviten. Die 13 Personen und die Leviten erklären dem VolkVolk die ToraTora, und zwar indem sie sie abschnittsweise vorlesen und diese Abschnitte dann so erläutern, dass das Volk verstehen kann. Dabei ist festzustellen, dass Esra hier namentlich nicht noch einmal genannt wird. Dadurch entsteht, auch wenn man das Öffnen des BuchesBuch in Neh 8,5Neh 8,5 nicht so versteht, als sei das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt impliziert, m. E. keine große Spannung im Text, da Esra durchaus als unter den Leviten subsummiert verstanden sein könnte bzw. die LeserLeser ja schon aus der expositorischen, „zusammenfassende[n] Vorwegnahme von Neh 8:4–12Neh 8,4–12“37 in Neh 8,3Neh 8,3 wissen, dass er selbst auch vorliest. Viel entscheidender für die Interpretation des Textes ist dagegen, dass es sich bei den namentlich Genannten gerade nicht um Funktionsträger handelt, sondern um „normale“ Menschen aus dem Volk, die hier nicht nur aus der Tora lesen, sondern selbst in die Rolle des Erklärers schlüpfen. Damit setzt sich der Text von Dtn 31,9–13Dtn 31,9–13 deutlich ab,38 wo Mose die Anweisung gibt, dass die Priester und Leviten alle sieben Jahre beim Laubhüttenfest dem Volk aus der Tora vorlesen sollen.39

Daraus folgt: Der Text stellt das VerstehenVerstehen der ToraTora durch das VolkVolk ins Zentrum und hat den Charakter einer gleichsam ätiologischen Begründung eines „demokratisierten“ Zugangs zur Tora40 und deren immer neuer Lektüre.41 Wie diese Form der Toralektüre und -auslegung jedoch genau aussah, muss sozialgeschichtlichSozialgeschichte offenbleiben (und das gilt analog für die Szene in Neh 8,13 fNeh 8,13 f42). Denn erzählt ist ein retrospektiv konstruierter,43singulärerFrequenzsingulär LeseaktLese-akt,44 der Teil einer umfassenderen „Bundeserneuerung“ nach der Rückkehr aus dem Exil darstellt (vgl. Neh 7,72b–10,40Neh 7,72b–10,40)45 und identitätsstiftend wirkt.46 Es ist nicht belegbar, dass die geschilderten rituellen Elemente eine zur Abfassungszeit existente Form eines „Wortgottesdienst“GottesdienstWort- widerspiegelten, die in die erzählte Welt projiziert worden wäre.47 Dafür fehlen einfach sichere Anhaltspunkte.48 Zum einen sind die geschilderten Elemente in alttestamentlichenAT/HB/LXX Texten analogielos49 und können durchaus dahingehend gelesen werden, dass hier die „Lektüre der Tora als Medium der GottesbegegnungGott, näherhin als Aktualisierung des Sinaigeschehens“50 konzeptualisiert wird; zum anderen wissen wir nichts über die Gestalt eines vermeintlichen „Wortgottesdienstes“ (s. u. 7.4) zum mutmaßlichen Zeitpunkt der Abfassung in hellenistischer Zeit.51 Die These, dass Neh 8Neh 8 eine frühe Form des jüdischenJudentum „Wortgottesdienst“GottesdienstWort- zeige, basiert also auf einer petitio principii.

7.1.2 הגה und individuell-direkte Lektüre im AT

Individuell-direkteAT/HB/LXX LektüreLektüreindividuell-direkt kann im biblischen Hebräisch auch durch die Verwendung des Verbes הגה angezeigt werden. Diesbezüglich ist zunächst die Verwendung in Jos 1,8Jos 1,8 zu diskutieren; ein Vers, der üblicherweise als Teil eines Nachtrages durch die deuteronomistische RedaktionRedaktion/redaktionell interpretiert wird.1 JHWH fordert Josua hier zur täglichen Beschäftigung mit der ToraTora auf.

1 Nicht weichen soll dieses BuchBuch der Weisung aus Deinem Mund

2 und Du sollst murmeln darin/darüber (‎וְהָגִיתָ בּוֹ; LXXAT/HB/LXX: καὶ μελετήσεις ἐν αὐτῷ; Vul: sed meditaberis in eo) Tag und Nacht (יוֹמָם וָלַ֔יְלָה),

3 damit Du beachtest und tust alles, was darin geschriebenSchriftGeschriebenes steht.

Zunächst ist zu diskutieren, ob es sich hier um eine Aufforderung zum Lesen handelt, also dass das von JHWH Geforderte die Einsicht von Schriftrollen erfordert, oder ob es darum geht, schon bekannte und auswendiggelernte Verse zu meditieren, was einige moderne Übersetzungen voraussetzen, wenn sie die Formulierungen „(nach)sinnen über“2 oder to mediate on3 wählen. Die MetapherMetapher, das BuchBuch der Weisungen im Mund zu haben (Jos 1,8aJos 1,8), besagt zunächst, dass Josua Worte der ToraTora mit dem Stimmerzeugungsapparat realisieren soll. Das Verb הגה (Jos 1,8bJos 1,8) spezifiziert den Vorgang insofern, als seine Semantik vor allem mit nicht voll artikulierten Lauten konnotiert ist;4 also ein hörbarerLautstärkehörbar StimmeinsatzStimmeinsatz impliziert ist, bei dem Außenstehende aber nicht unbedingt wahrnehmen können, was genau stimmlich realisiert wird. Mit den eingangs eingeführten Kategorien kann dies treffend als Subvokalisierung beschrieben werden.5

N. Lohfink und G. Fischer leiten aus Dtn 6,6–9Dtn 6,6–9 und 11,18–21Dtn 11,18–21 ab, dass Jos 1,8Jos 1,8 die Praxis der täglichen RezitationRezitation und MeditationMeditation auswendiggelernterAuswendiglernen Toratexte in den Blick nimmt.6 Diese Texte seien, wie K. Finsterbusch in ihrer Habilitationsschrift ausführlich ausführt, nicht durch eigene Lektüre angeeignet worden, sondern durch ein Lehr-/Lernkonzept, das durch VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt und Nachsprechen gekennzeichnet ist.7 Dementsprechend deutet sie den Verweis auf den Mund in Dtn 30,14Dtn 30,14 als Verweis auf genau diesen Akt des Auswendiglernens durch Nachsprechen:8 Die mosaische PromulgationPromulgation und mündliche LehreLehre der ToraTora an die Wüstengeneration reflektiere eine solche Lernpraxis zur Abfassungszeit des Textes; Josua hätte in dieser Perspektive dann die Texte schon auswendig gekonnt und wäre nicht auf die Einsicht des Schriftmediums angewiesen gewesen, um die Tora täglich zu murmeln. Am Rand sei angemerkt, dass die LXXAT/HB/LXX in Dtn 30,14Dtn 30,14 ἐν ταῖς χερσίν σου liest und damit, wie 4QDeutb zeigt,9 eine schon in der Überlieferung des hebräischen Textes entstandene Lesart bezeugt, bei der gleichsam als proleptischer Verweis auf Dtn 31,9Dtn 31,9 schon hier die Vorstellung der schriftlichen Verfasstheit der Tora evoziert wird bzw. eine andere Lern- und Studiensituation in den Text eingetragen ist.

Aus den folgenden Gründen ist es aber auch möglich, dass Jos 1,8Jos 1,8 nicht die Rezitationspraxis auswendiggelernterAuswendiglernen ToratexteTora reflektiert, sondern in textpragmatischer Perspektive zur Zeit der Textentstehung einen anderen Modus der Aneignung: die studierendeStudium Lektüre des Textes, die auf das Medium der BuchrolleRolle (scroll) gestützt ist.

1) Jos 1,8cJos 1,8 weist explizit auf den schriftlichen Charakter dessen hin, was gemurmelt werden soll.

2) Auch im näheren Kontext wird in einer synchronen Perspektive auf den literarischen Zusammenhang zum BuchBuch Deuteronomium der schriftliche Charakter von סֵפֶר הַתּוֹרָה explizit hervorgehoben (vgl. Dtn 31,9Dtn 31,9.24Dtn 31,24.26Dtn 31,26), wobei Dtn 31,26 fDtn 31,26 f m.E. zeigt, dass die verschriftliche Form der ToraTora nicht nur für die zukünftigen Generationen, sondern auch schon für die Wüstengeneration eine Relevanz hat. Dabei ist es zudem in diachroner Perspektive durchaus möglich, dass die genannten Stellen in Dtn 31Dtn 31 und Jos 1,8Jos 1,8 (und andere Verse in Jos 1Jos 1) auf eine Ebene der deuteronomistischen RedaktionRedaktion/redaktionell gehören,10 wobei hier angesichts des kontroversen Forschungsstandes zu den redaktionskritischen Fragen in Bezug auf Jos 1Jos 1 und um Modelle zur Beschreibung der Wachstumsgeschichte des deuteronomistischen Geschichtswerkes insgesamt im Rahmen der hier verhandelten Frage kein abschließendes Urteil gebildet werden kann.11

3) Jos 1,8Jos 1,8 richtet sich explizit an Josua, also an eine Führungsfigur, sodass eine Parallelität zu den auf das gesamte VolkVolk bezogenen Aussagen in Dtn 6,6–9Dtn 6,6–9 und 11,18–21Dtn 11,18–21 – wie von N. Lohfink und G. Fischer gesehen (s. o.) –, nur schwerlich postuliert werden kann. Wie von den beiden richtig gesehen, können LeserLeser in synchroner Perspektive eine Verknüpfung zum KönigsgesetzKönig in Dtn 17,14–20Dtn 17,14–20 ziehen, da Josua „als Nachfolger Moses und im Vorblick auf Joschija […] zweifellos eine Art vorlaufende Königsgestalt“ ist.12 Allerdings spricht doch gerade Dtn 17,18 fDtn 17,8 f dafür, dass die Idee einer Beschäftigung der Führungsperson mit der ToraTora nicht eine MeditationMeditation auswendiggelernterAuswendiglernen Texte voraussetzt, sondern die Einsicht einer BuchrolleRolle (scroll).13

 

4) Auch die Verwendung der Präposition בְּ, der hier die Funktion der Lokalisation zukommt,14 fügt sich in eine solche Interpretation: So wird בְּ auch an anderer Stelle zur Anzeige des LesemediumsLese-medium verwendet (vgl. Dtn 17,19Dtn 17,19[!]; Neh 8,3Neh 8,3[!].8Neh 8,8.14Neh 8,14[!]; 9,3Neh 9,3; 13,1Neh 13,1; 2Chr 34,182Chr 34,18; Jer 36,6Jer 36,6.8Jer 36,8.14Jer 36,14)15 bzw. bezeichnet, dass etwas in/auf etwas geschriebenSchriftGeschriebenes ist (vgl. aus der Vielzahl der Belege z.B. Ex 17,14Ex 17,14; Num 5,23Num 5,23; 1Kön 2,31Kön 2,3; 2Chr 13,222Chr 13,22; Neh 6,6Neh 6,6; 10,35Neh 10,35; Ps 40,8Ps 40,8; Dan 9,11Dan 9,11.13Dan 9,13; vgl. außerdem die Formulierung „es ist gesagt in dem BuchBuch“ in Num 21,14Num 21,14). Entsprechend übersetzen in Jos 1,8Jos 1,8 die ZB2007 die Präposition mit einem lokalen Sinn („du sollst sinnen über ihm“), die BigS macht ein Objekt daraus („murmle es [scil. das Buch]“), die verschiedenen Ausgaben der Lutherbibel verwenden ein Verb der visuellenvisuell Wahrnehmung („betrachte es“) und die Übersetzung von F. E. Schlachter übersetzt frei: „forsche darin“. Diese Übersetzungen setzen damit alle voraus, dass die hebräische Formulierung in Jos 1,8Jos 1,8 eine Konsultation des Schriftmediums impliziert, wobei allerdings sowohl in der Lutherbibel als auch in der Übersetzung von Schlachter die Assoziation des StimmeinsatzesStimmeinsatz verloren geht. Um diese Konnotation deutlich zu machen, ist hier in Anknüpfung an die Wendung „lesen in etwas“ die (im Deutschen zwar ungewöhnliche) Formulierung „darin murmeln“ gewählt worden.16 Der MerismusMerismus יוֹמָם וָל֔יְלָה und die Verben שׁמר und עשׂה verweisen sodann auf eine gewisse Parallelität zur LeseszeneLese-szene in Dtn 17,19Dtn 17,19, wo mit der Zeitangabe כָּל־יְמֵי חַיָּיו ein ähnlicher Zeithorizont im Blick ist, wo ebenfalls die beiden Verben vorkommen und wo es eindeutig um individuell-direkteLektüreindividuell-direkts Lesen mit dem Medium RolleRolle (scroll) in der Hand geht. Diese Interpretation wird ferner durch Belegstellen unterstützt, an denen μελετάω im Sinne eines mediengestützten Studierens verwendet wird,17 sowie durch die lateinische Übersetzung von הגה/μελετάω, und zwar insofern, als wir aus einem BriefBrief von SidoniusSidonius Apollinaris Apollinaris18 wissen, dass der mit meditor beschriebene Vorgang eine Beleuchtung mit Kerzen und Leuchtern erforderlich machte, also durchaus an ein Schriftmedium zurückgebunden sein konnte.

Jos 1,8Jos 1,8 kann also als Hinweis auf eine individuell-direkteLektüreindividuell-direkt, subvokalisierendeStimmeinsatzsubvokalisierend Studienlektüre der ToraTora zum Zwecke des LernensLernen gelesen werden, die historisch zurückprojiziert wird. Josua wird damit redaktionellRedaktion/redaktionell als normativer ModellleserModellleser figuriert, an dem sich die LeserLeser des Textes orientieren sollen.19 Jos 1,8Jos 1,8 hat eine gewisse Ähnlichkeit zur Forderung HorazHoraz, man solle die griechischen Vorbilder bei Tag und bei Nacht drehen (Hor. ars. 268f; s. o. S. 175), also sich intensivAufmerksamkeitvertieft durch individuell-direkte Lektüre aneignen. Der Unterschied liegt allerdings darin, dass das vorgesehene StudiumStudium der Tora eine iterativeLektüreMehrfach-Frequenziterativ Lektüre eines eng umgrenzten Textumfangs voraussetzt (klassischerweise als intensive Lektüre bezeichnet) und die griechischen Vorbilder bei Horaz einen viel größeren KorpusKorpus an Texten voraussetzen, wobei nicht sicher gesagt werden kann, wie oft die jeweiligen Einzeltexte konsultiert werden sollen. Zudem ist das Ziel der Lektüre leicht anders gelagert, Horaz geht es um die Verbesserung der poetischen Ausdruckskraft – also um ein ästhetischesästhetischer Genuss/Vergnügen Studienziel –, während die Lektüre der Tora ein die Ethik betreffendes Studienziel adressiertAdressat. Dass es sich bei der Aufforderung im Hinblick auf „Josua als politischen Verantwortungsträger“ um einen normativ-utopischen Anspruch (des kontinuierlichen Tora-Studiums durch eine Leitungsperson) handelt,20 ist im Hinblick auf die Fragestellung der Studie irrelevant, da das herausgearbeitete Lesekonzept, das eine – redaktionell eingetragene – Projektion darstellt, also vom Text für die Zeit der Redaktion historisch bezeugt wird.

Es gibt noch weitere Belegstellen von הגה, an denen ein solches LektürekonzeptLektüre-konzept noch eindeutiger vorauszusetzen ist. So wird das Verb in Ps 1,2Ps 1,2 ebenfalls im Blick auf die ToraTora verwendet: Selig ist derjenige, der nicht …, sondern der Freude an der Tora hat und in der Tora murmelt (וּבְתוֹרָתוֹ יֶהְגֶּה) am Tag und in der Nacht“ (Ps 1,1 fPs 1,1 f). Die Formulierung gleicht derjenigen in Jos 1,8Jos 1,8 (הגה + בְּ + Tora + Tag und Nacht) und viele moderne deutsche Übersetzungen interpretieren die Formulierung als individuell-direkteLektüreindividuell-direktn LeseaktLese-akt.21 Die ebenfalls zu findende Übersetzung mit „(nach)sinnen über“22 und mit to mediate on23 verschleiert dagegen die mögliche Assoziation eines individuell-direkten Leseaktes, die der hebräische Text erlaubt.24 Die Deutung von Jos 1,8Jos 1,8 als Verweis auf individuell-direkte Lektüre findet eine rezeptionsgeschichtliche Bestätigung. So formuliert HieronymusHieronymus in seinen Excerpta de Psalterio, die „MeditationMeditation des Gesetz GottesGott besteht nicht nur im Lesen der Schrift (in legendislego scripturisscriptura), sondern auch im Ausüben dessen, was geschriebenSchriftGeschriebenes ist“ (Hier. com. in Psal. 2,2). Auch TestLev 13,2 f, wo zum Unterrichten der Kinder aufgefordert wird, damit sie durch das beständige Lesen der Tora (ἀναγινώσκοντεςἀναγιγνώσκω ἀδιαλείπτως τὸν νόμον τοῦ θεοῦ) zu Verständnis gelangen können, reflektiert das Ideal eines dauerhaften (individuell-direkten) Studiums der Tora im Sinne von Jos 1,8Jos 1,8 und Ps 1,2Ps 1,2. Regelmäßiges Lesen – allerdings ohne direkten Bezug auf die genannten Stellen und ausgedrückt mit der aus der griechisch-römischen Welt bekannten Konzept des haptischen Umgangs mit dem LesemediumLese-medium – ist ferner auch in 1Makk 12,91Makk 12,9 im Blick: die heiligen BücherBuchHeilige Schrift(en) in den Händen zu halten, d. h. zu lesen, spendet Trost (παράκλησις).

7.1.3 Lesepraktiken in der Henochliteratur

TrotzLese-praxis der fragmentarischen Überlieferung finden sich im äthiopischen Henochbuch einige, für die Fragestellung dieser Studie relevante Stellen. Da das BuchBuch allerdings in kompletter Form nur in äthiopischer Übersetzung einer griechischen Übersetzung aus dem Hebräischen oder Aramäischen (ca. 500 n. Chr.) erhalten ist,1 stehen einige der Überlegungen im Folgenden notwendigerweise unter dem methodischen Vorbehalt der Grenzen der Rückübersetzbarkeit.

Im BuchBuch der Wächter, das auf das 3. Jh. v. Chr. zurückgeht,2 ist eine Passage im Griechischen erhalten, in der die gefallenen Wächter (vgl. äthHen 12,4–6äthHen 12,4–6) Henoch bitten, eine Bittschrift (ὑπόμνημα τῆς ἐρωτήσεως) für sie zu schreibenSchreiben, die dieser vor (ἐνώπιον) GottGott vorlesen (ἀναγινώσκωἀναγιγνώσκω)3 möge (äthHen 13,4äthHen 13,4). Henoch kommt dieser Bitte nach und verfasst die Bittschrift (äthHen 13,6äthHen 13,6äthHen 13,7).


13,7 a Und ich ging hin und setzte mich (καθίζω) an die Wasser Dan im [Lande] Dan,
b welches rechts [südlich] von der Westseite des Hermon liegt,
c

Henoch liest die Bittschrift nicht etwa im Himmel, sondern an einem Platz auf der Erde – an einem Fluss. Der Kontext impliziert, dass diese LeseszeneLese-szene, auch wenn der AdressatAdressat des Lesens nicht noch einmal explizit genannt wird, das in äthHen 13,4 gemeinte VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt vor GottGott meint, ἀναγινώσκωἀναγιγνώσκω hier also im Sinne von einer anderen Person vorlesen verwendet wird. Allerdings wird das Vorlesen vor Gott in einem Modus präsentiert, der nicht dem kulturell erwartbaren Kontext eines Vorlesens einer Petition vor einem HerrscherHerrscher entspricht, sondern eher einem individuell-direkteLektüreindividuell-direktn LeseaktLese-akt. Henoch sitztHaltungsitzen (eine häufig bezeugte LesehaltungLese-haltung (s. auch Haltung); s. o. 6.2) draußen in der NaturNatur an einem Fluss und liest die Bittschrift, wobei deutlich wird, dass die Kommunikation nicht direkt im Angesicht Gottes stattfindet, sondern dass er allein ist. Auch wenn es sich um eine fiktive Szene handelt, so kann man davon ausgehen, dass kulturell geprägte Lesererfahrungen in die Darstellung eingeflossen sind, möglicherweise sogar Formen individuell-religiöser LektüreerfahrungLektüre-erfahrung, die als Kommunikation mit Gott verstanden wurden.

Nur im Äthiopischen erhalten ist eine LeseszeneLese-szene in einer frühen Hinzufügung zum Astronomischen BuchBuch, das ebenfalls auf das 3. Jh. zurückgeht,4 in der Lesen eindeutig mit der visuellenvisuell Wahrnehmung verknüpft wird.


81,1
b
c und merke dir alles einzelne (Üb. FLEMMING/RADEMACHER).

Der Engel Uriel fordert Henoch auf, TafelnTafel/Täfelchen als Vorbereitung für das bevorstehende GerichtGericht (äthHen 79,8äthHen 79,8; 81,4äthHen 81,4) zu lesen und sich alles zu merken, was Henoch dann auch tut:


a
b
c und merkte mir alles
d
auf Erden bis in die fernsten Geschlechter (Üb. FLEMMING/RADEMACHER).

Bei den himmlischen TafelnTafel/Täfelchen handelt es sich um ein traditionsgeschichtlichTradition bekanntes weit verbreitetes literarisches Motiv, das schon für sumerische Texte belegt ist8 und sich variantenreich in der frühjüdischen Literatur9 sowie im NT10 findet. Eine Besonderheit des äthHen ist nun aber die große Rolle, die es in der Erzählung einnimmt und die Ausführlichkeit, mit der dessen Rezeption durch Henoch beschrieben wird. Vor dem Hintergrund des Konzepts, dass schriftlich Fixiertes fest steht (insbesondere in Form von InschriftenInschriften, s. u.), dokumentieren die Tafeln im äthHen die Unausweichlichkeit des GerichtsGericht. Da die von himmlischen Wesen geschriebenen Tafeln die Taten der Menschen sowie die Namen von Rechtschaffenden und Sündern enthalten, mussten sich die antiken RezipientenRezipient eine große Textmenge vorstellen, die Henoch hier zu lesen hatte.11 Auch wenn es sich um fiktive Tafeln und um eine literarisch gestaltete LeseszeneLese-szene im Kontext eines apokalyptischen Textes handelt, so ist auch hier davon auszugehen, dass die Erfahrung realer Medialität und konkreter LesepraxisLese-praxis in die Darstellung eingeflossen sind.

 

Es handelt sich hier eindeutig um eine Szene individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Lektüre der TafelnTafel/Täfelchen mit dem Ziel der Informationsentnahme, auf die Henoch noch mehrfach im folgenden Erzählverlauf zu sprechen kommt (äthHen 93,1 fäthHen 93,1 f; 103,2 fäthHen 103,2 f; 106,19–107,1äthHen 106,19–107,1). Da für diese Stellen der Text auch fragmentarisch im Griechischen und Aramäischen bezeugt ist, sind genauere Aussagen über die verwendete Terminologie möglich.12 Als LesemediumLese-medium sind wohl InschriftenInschriften in Stein vorauszusetzen, worauf die Verwendung des Lexems לוּח/πλάξ hindeutet.13 Das Motiv des Sehens der Tafeln (äthHen 81,1aäthHen 81,1 f/81,2a) zeigt, dass das Lesen hier primär mit der visuellenvisuell Wahrnehmung verknüpft wird, was für Inschriften vielfach in den Quellen bezeugt ist (s. o. 3.8). Freilich sind die Verben visueller Wahrnehmung in Visionserzählungen apokalyptischer Literatur semantisch reichhaltiger als in Bezug auf die Wahrnehmung von Inschriften, da sie der literarischen Darstellung der Visionsinhalte dienen.14 Dennoch ist die Wahl in Bezug auf Texte aufschlussreich. Denn im Lichte der traditionellen Annahme der engen Verbindung von antiken Texten mit dem gesprochenen Wort hätte man die Wahl eines Verbs der akustischen Wahrnehmung erwarten können – die auditiveauditiv Anschaulichkeit ist in Visionserzählungen der apokalyptischen Literatur nicht minder wichtig.15 In äthHen 106,19–107,1äthHen 106,19–107,1 wird die Verknüpfung des Lesens mit der visuellen Wahrnehmung dann noch deutlicher hervorgehoben, wenn Henoch (auf äthHen 81,2 rückverweisend) formuliert:


106,19 a denn ich kenne die Geheimnisse der Heiligen,
b weil er, der Herr, sie mir gezeigt und kundgetan hat,
c
107,1 a
b dass Geschlecht für Geschlecht freveln wird,
c bis ein gerechtes Geschlecht aufsteht
d und der Frevel ausgetilgt wird,
e und die Sünde von der Erde verschwindet
f und alles Gute auf ihr (hervor)kommen wird. (Üb. FLEMMING/RADEMACHER)

Als Einleitungsformel (äthHen 107,1a) für die Zusammenfassung des Inhalts des Gelesenen wird hier explizit formuliert, dass etwas GeschriebenesSchriftGeschriebenes gesehen wurde, wodurch m. E. ausgeschlossen ist, dass sich das SehenSehen hier im äthHen lediglich auf die innere Repräsentation des Inhalts des Gelesenen bezieht. Zudem wird deutlich, dass das „Merken“ (an dieser Stelle lässt sich das Aramäische und Griechische nicht aus anderen Stellen erschließen) in äthHen 81,1cäthHen 81,1 f und 81,2c vermutlich nicht ein wortwörtliches AuswendiglernenAuswendiglernen meint, sondern sich auf ein inhaltsbezogenes LernenLernen bezieht.17

Es bleibt festzuhalten: Das äthiopische Henochbuch reflektiert einerseits das Konzept individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Lektüre im SitzenHaltungsitzen draußen in der NaturNatur und andererseits eine primär auf Rezeption, Verständnis und Merken des Inhalts ausgerichtete Form visuellvisuell orientierter Lektüre.