Lesen in Antike und frühem Christentum

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Aus allgemeiner kulturgeschichtlicher Sicht bleibt also festzuhalten, dass Leserinnen und LeserLeser im frühen ChristentumChristentum nicht prinzipiell darauf angewiesen waren, ihre Literatur durch Vorlesungen in GemeindenGemeinde zu rezipieren, sondern dass eine Verfügbarkeit christlicher Literatur durch den antiken BuchmarktBuch-handel durchaus in den Bereich des Vorstellbaren gehört – neben der Möglichkeit der Beschaffung über „privateÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat“ Kanäle (sei es zur AbschriftAbschrift oder zur einfachen Ausleihe79), was wiederum „privaten“ BuchbesitzBuch-besitz voraussetzt. Die Möglichkeit der Partizipation am antiken Buchmarkt gehört umso mehr in den Bereich des Wahrscheinlichen, als das Paradigma des frühen Christentums als Unterschichtenphänomen nicht mehr aufrecht zu erhalten ist und man davon ausgehen kann, dass die frühchristlichen Gemeinden sich maßgeblich aus mittleren Gesellschaftsschichten zusammensetzte und z. T. auch mit Mitgliedern aus reicheren Gesellschaftsschichten zu rechnen ist.80 Auch die Tatsache, dass der Kämmerer in Act 8Act 8 einen Text des ProphetenProphet Jesaja liest (s. dazu u. 4.2.2), deutet auf die Bekanntheit des Konzepts käuflichen Erwerbs biblischer Schriften hin. Auch die TitelangabenTitel in den HandschriftenHandschrift/Manuskript81 deuten darauf hin, dass neutestamentliche Texte nicht bloß in privaten Netzwerkstrukturen zirkuliertenZirkulation.82 Diese Einsicht, dass literarische Schriften in der frühen Kaiserzeit keine absoluten LuxusprodukteLuxusprodukt darstellten, hat auch unmittelbare Relevanz für die oben schon erwähnte Debatte in der Judaistik um den „öffentlichenÖffentlichkeitöffentlich“ Zugang zur ToraTora und zur Frage nach der Tora im Privatbesitz – und zwar insofern, als es ein Indiz gegen die skeptische Position liefert, welche den „privaten“ Buchbesitz im antiken JudentumJudentum weitgehend negiert.

Die Debatte kann hier nicht ausführlich dargestellt werden. Im Hinblick auf die Frage nach LesepraktikenLese-praxis sei aber auf die Gefahr einseitiger Generalisierungen hingewiesen. Sowohl diejenigen, die eine eher positive Sicht auf den Zugang zur ToraTora im antiken JudentumJudentum vertreten,83 als auch die Vertreterinnen und Vertreter einer eher skeptischen Sicht sehenSehen richtige und wichtige Aspekte in den Quellen. Aber sowohl die Vorstellung, dass nahezu jeder jüdische Haushalt in der Antike eine Tora besaß, als auch die These, der Zugang zur Tora wäre lediglich auf eine sehr kleine EliteElite beschränkt gewesen, sind vermutlich extreme Überzeichnungen. Es sei hier noch einmal darauf hingewiesen, dass die Diskussion zuletzt maßgeblich an der Frage nach dem Grad der LiteralitätLiteralität/Illiteralität hängt und die Position der Vertreterinnen und Vertreter der skeptischen Sichtweise von äußerst unsicheren Schätzungen eines sehr geringen Literalitätsgrad abhängig sind (s. dazu o. 1.3.3, insb. Anm. 232–233). Hier ist noch einmal zu betonen, dass der Zusammenhang zwischen Illiteralität/fehlendem BuchbesitzBuch-besitz und dem VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt in Gruppen, also dass illiterate Bevölkerungsschichten als intendierte AdressatenAdressat und tatsächliche RezipientenRezipient der überlieferten literarischen Texte des frühen Judentums und ChristentumsChristentum zu verstehen wären, zunächst einmal zu erweisen wäre.

6 Zwischenertrag: Die Vielfalt antiker Lesepraktiken und -kontexte

DieLese-praxis Erschließung der LeseterminiLese-terminus und der materiellenMaterialität Dimension des Lesens in der Antike hat deutlich gemacht, dass die unter 1.5 vorgeschlagene differenzierte Beschreibungssprache angesichts des mannigfaltigen Quellenbefundes in heuristischer Hinsicht notwendig ist, um die Vielfalt und Multifunktionalität antiker LesepraktikenLese-praxis zu untersuchen. Zahlreiche der untersuchten Bildbereiche, aber insbesondere die weit verbreitete Konnotation des Lesens mit dem SehsinnSehen zeigen, dass die in der Einleitung angeführten Thesen zur primär auditivenauditiv Konnotation antiker Literatur und antiker Leseprozesse angesichts dieses Befundes eine grobe Verkürzung darstellt und die Wichtigkeit des Sehsinns für die griechische Kultur vernachlässigt.1 Diese Verkürzung ist darauf zurückzuführen, dass die Quellenauswahl der bisherigen Forschung durch Vorannahmen des oralen und gemeinschaftsbezogenen Charakters des Lesens in der Antike eingeengt ist. Die Vielfalt der Lexeme, MetaphernMetapher und MetonymienMetonymie, die Lesen konzeptualisieren, entspricht der Heterogenität und Multifunktionalität antiker Lesepraktiken. Insbesondere die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen den materiellen Grundlagen des Lesens und der physiologischen und kognitionspsychologischen Dimension des Lesevorgangs (4) hat aufschlussreiche Ergebnisse hervorgebracht. Dabei haben die vielfältigen Reflexionen antiker Lesepraxis, die durch die Untersuchung antiker Leseterminologie gefunden werden konnten (3), deutlich gezeigt, dass es sich bei den Beschreibungskategorien zur Physiologie und Kognitionsphysiologie des Lesens nicht um anachronistische Konzepte handelt. Vielmehr korrespondieren diese Kategorien, wie die Befunde in den Quellen und insbesondere die herausgearbeitete Beschreibungssprache des Lesens zeigen, mit der antiken Selbstwahrnehmung des Lesens.

Ein wichtiges Ergebnis der vorhergehenden Untersuchungsschritte besteht darin, dass es sich beim Lesen in der Antike nicht um einen bloßen Akt der Wiederhörbarmachung des im Text gespeicherten Klangs bzw. gesprochenen Wortes handelt, sondern dass Lesen auch in der Antike ein komplexer Vorgang semiotischer Dekodierungsprozesse in der physiologischen und kognitivenkognitiv InteraktionInteraktion mit Texten war, die sich in konkreter, kulturspezifischer Weise materiellMaterialität und darin vor allem visuellvisuell wahrnehmbar manifestiert haben.2 Es ist deutlich geworden, dass die kognitive Verarbeitung des GeschriebenenSchriftGeschriebenes sowohl beim VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt (vermutlich die kognitiv herausforderndere Form des Lesens) als auch bei der individuell-direkteLektüreindividuell-direktn Lektüre vor der lautlichen Realisierung mit der Lesestimme oder der inner reading voiceStimmeinnere (inner reading voice) abläuft. Der Einsatz der StimmeStimme ist sekundär und betrifft lediglich die Frage, ob die in unterschiedlichen Formen und komplexen Prozessabläufen von einem Individuum synthetisierten3 und kognitiv verarbeiteten BuchstabenBuch-stabe, Silben, Wörter, Sätze auch in Form von realiter gesprochenem Text weiterverarbeitet werden. Dies gilt im Übrigen auch, wenn jemand eine indirekte Rezeptionssituation mit einem LeseverbLese-terminus beschreibt – was in den Quellen selten vorkommt –, da hier von einer konzeptionellen Übertragung des Phänomens „Lesen“ auf die hörende Rezeption eines Textes auszugehen ist. Es wäre erst zu erweisen, dass jemand in der Antike, der des Lesens nicht mächtig war, eine indirekte Rezeption vorgelesener Texte z.B. mit dem Verb ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω oder legolego bezeichnete hätte.

Im Folgenden wird der Befund entlang der wichtigsten oben vorgeschlagenen Kategorien in systematisierender Hinsicht zusammengestellt und anhand aufschlussreicher Quellen illustriert, um davon ausgehend die LesepraxisLese-praxis im antiken JudentumJudentum und frühen ChristentumChristentum untersuchen zu können. Für einen besseren Überblick sind die folgenden Ausführungen entlang der Unterscheidung von kollektiver Rezeption und individueller Lektüre strukturiert. An dieser Stelle ist auch noch einmal auf das Schaubild auf S. 88 hinzuweisen, das die Lektüre der folgenden Ausführungen erleichtern kann.

6.1 Kollektive Rezeption und Lesen beim Gemeinschaftsmahl

KategorienGemeinschaftsmahl wie public/communal readingcommunal reading oder performative readings sind zu grob, um den differenzierten Quellenbefund gemeinschaftlicher Lektüreszenen sinnvoll zu erfassen. Es ist deutlich geworden, dass bezüglich des Verhältnisses der Lesenden/RezipientenRezipient zum SchriftmediumLese-medium zwischen kollektiv-direkteLektürekollektiv-direktr Lektüre (aus einem oder mehreren Schriftmedien) und kollektiv-indirekteRezeptionkollektiv-indirektr Rezeption zu unterscheiden ist. Aufschlussreich war diesbezüglich eine kollektiv-direkte LeseszeneLese-szene bei Plut.Plutarch de Alex. fort. 1,11 (mor. 332e333a; s. o. S. 119). Alexander liest hier einen BriefBrief seiner Mutter nicht-vokalisierendStimmeinsatznicht-vokalisierend, während Hephaistos über seiner Schulter ebenfalls nicht-vokalisierendStimmeinsatzvokalisierend mitliest (συναναγιγνώσκωσυναναγιγνώσκω). Schon bei XenophonXenophon findet sich die Anekdote, dass Sokrates und Kristobulos beim Griechischunterricht Kopf an Kopf etwas in derselben BuchrolleRolle (scroll) suchen (vgl. Xen. symp. 4,27). CiceroCicero, Marcus Tullius beginnt sein Werk Topica mit einer Leseszene auf seinem tusculanischen Landgut, in der er und Gaius Trebatius in der PrivatbibliothekBibliothek gemeinsam, aber jeder für sich in einer eigenen Rolle lesen (s. o. Cic. top. 1,1). Kollektiv-direktes Lesen (hier in einer öffentlichenÖffentlichkeitöffentlich) Bibliothek ist darüber hinaus auch in den Noctes Atticae von GelliusGellius, Aulus bezeugt (vgl. Gell. 13,20,1). In Kyrills Katechesen ist belegt, dass Frauen bei ihren Treffen (σύλλογος) individuell-direktLektüreindividuell-direkt und nicht-vokalisierend lesen sollen (vgl. Kyr. Hier.Kyrill von Jerusalem Procatechesis 14, s.o. S. 49). In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass lesende Frauen in der griechisch-römischen Welt durchaus breit bezeugt sind.1 Eine kollektiv-direkte Rezeptionssituation setzt wohl auch Eus.Eusebios von Caesarea vita Const. 4,17 voraus. Euseb spricht von einer Versammlung im Palast – von Euseb als „KircheKirche GottesGott“ interpretiert. Bei dieser geht Konstantin eifrig allen voran, und zwar „nahm er die heiligen BücherBuchHeilige Schrift(en) in die Hand und widmet sich der Betrachtung der heiligen Aussprüche (μετὰ χεῖράς γέ τοι λαμβάνων τὰς βίβλουςβίβλος τῇ τῶν θεοπνεύστων λογίων θεωρίᾳ προσανεῖχε τὸν νοῦν)“ (Üb. PFÄTTISCH/BIGELMAIR), bevor er mit den Anwesenden betet. Die Formulierung impliziert eine individuelle Auseinandersetzung mit den Texten. Dieser Befund kollektiv-direkter Leseszenen ist insofern von großer methodischer Relevanz, als er bedeutet, dass, wenn in den Quellen auf kollektive Rezeption verwiesen wird, ohne sichere Kontextmarkierungen nicht entschieden werden kann, ob kollektiv-direkte Lektüre oder kollektiv-indirekte Rezeption vorliegt.2 Für die kollektiv-direkte Lektüre gelten ansonsten die meisten der untenstehenden Überlegungen zur individuell-direkten Lektüre.

 

Deutlich häufiger als kollektiv-direkteLektürekollektiv-direkt Formen der Lektüre finden sich in den Quellen dagegen Szenen kollektiv-indirekteRezeptionkollektiv-indirektr Rezeption. Dabei ist deutlich, dass das Vortragen von etwas AuswendiggelerntemAuswendiglernen vom schriftmediengebundenen VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt qualitativ unterschieden wurde3 und man – gegen die Annahmen des sog. Biblical Performance CriticismBiblical Performance Criticism (s. o. 1.1.2) – bei der Verwendung der gängigen LeseterminiLese-terminus ἀναγιγνώσκωἀναγιγνώσκω und legolego in Kontexten kollektiv-indirekter Rezeption auch von schriftmediengebundenem Vorlesen ausgehen sollte. Der Befund kollektiv-indirekter Formen der Rezeption von Texten ist allerdings so vielfältig, dass es sich verbietet, eine einheitliche griechisch-römische Vorlesekultur zu postulieren. So ist das vor allem funktional orientierte und mit politischen Institutionen verbundene Verlesen eines Textes etwas anderes als Vorlesen im Kontext der literarischen BuchkulturBuch-kultur.

Kollektiv-indirekten Formen der Rezeption von Texten stehen in den Quellen – abgesehen von wenigen Ausnahmen – im Kontext politischer Versammlungen (auch Versammlungen von MilitärsSoldat) und in GerichtskontextenGericht, ferner im Schulkontext und der RhetorikausbildungRhetorik.4 Dabei handelt es sich aber um funktionale und (wie auch im modernen politischen System) mit der jeweiligen Institution fest verbundene Formen des Verlesens von Dekreten, Beschlüssen, Gesetzen etc. bzw. Urteilen bzw. Texten aus dem Bildungskanon auf der einen Seite und um Briefkommunikation zwischen (politischen) Institutionen auf der anderen Seite. Die kollektiv-indirekte Rezeption literarischer Texte ist dagegen eindeutig unterrepräsentiert in den Quellen und beschränkt sich weitestgehend auf recitationesrecitatio, auf die in Kürze zurückzukommen sein wird. Auch Leseakte im Rahmen von religiösen Ritualen (die wissenschaftliche Diskussion bezieht sich v. a. auf Initiationsrituale) sind in den Quellen unterrepräsentiert,5 sollten aber der Vollständigkeit halber und angesichts archäologischer Zeugnisse (dabei handelt es sich freilich meist um recht kurze Texte) erwähnt werden.6 Es ist allerdings äußerst fraglich, inwiefern LesepraktikenLese-praxis, die mit diesen Zeugnissen in Verbindung stehen – die sicherlich einer eingehenderen Untersuchung lohnen – in Analogie zum Lesen biblischer Texte im frühen ChristentumChristentum gesetzt werden könnten (damit ist nicht der Wert dieser kleinen schriftlichen Zeugnisse für die Rekonstruktion der antiken Lebenswelt gemeint!).

Bezüglich der literarischen BuchkulturBuch-kultur ist zunächst noch einmal zu betonen, dass es sich bei der vielfach belegten recitatiorecitatio (s. auch Publikation/Veröffentlichung) nicht um die Normalform der Rezeption von Literatur handelt, sondern um eine untrennbar mit der Präsenz des Autors verknüpfte Institution, die im Rahmen des Redaktionsprozesses eine Korrektivfunktion einnahm, also eine Art Probelauf vor PublikumPublikum (s. auch Lesepublikum) ermöglichte, bevor ein Text endgültig publiziert wurde (s. o. 5). Davon zu unterscheiden ist das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt weitgehend finalisierter und schon für ein größeres Publikum bestimmter (publizierter) Texte, bei dem es dann vor allem in Wettbewerbskontexten als auch in Unterhaltungssituationen auf eine besondere Performanz ankam. Dabei handelt es sich also um eine Form stark inszenierter LesepraxisLese-praxis. Während künstlerische WettbewerbeWettbewerb im klassischen Griechenland durch das DramaDrama geprägt waren (also durch die Inszenierung auf der Bühne und nicht durch das Vorlesen) und auch sonst in der hellenistisch-römischen Welt der rhetorische Wettbewerb dominierte, finden sich im kaiserzeitlichen Rom insbesondere im Kontext der durch Domitian begründeten Kapitolinischen Spiele auch Vorlesewettbewerbe, die allerdings auf poetische Texte beschränkt waren.7 „[S]taged public performance by professionals, people other than the author” war eine absolute Ausnahme.8

Während es sich bei den bisher genannten Kontexten weitgehend um Leseanlässe im öffentlichenÖffentlichkeitöffentlich Raum handelt, ist mit dem antiken GemeinschaftsmahlGemeinschaftsmahl ein weiterer Ort belegt, an dem (insb. literarische) Texte kollektiv-indirektRezeptionkollektiv-indirekt rezipiert wurden und der grundsätzlich eher einen nicht-öffentlichen Charakter hatte. Vorab ist jedoch zu betonen, dass auch recitationesrecitatio im Rahmen des Gemeinschaftsmahls stattfinden konnten9 und auch einige der im Folgenden zu besprechenden Quellen als recitationes verstanden werden können. Allerdings geht aus einem BriefBrief von Plinius an Arrianus hervor, dass recitationes eigentlich in einen anderen Kontext gehören und die ZuhörerHörer für gewöhnlich sitzenHaltungsitzen.10 So wird in den Quellen zuweilen ein auditoriumauditorium als Austragungsort einer recitatiorecitatio (s. auch Publikation/Veröffentlichung) angegeben.11

Die Quellen lassen weiterführende Schlussfolgerungen zur antiken symposialen LesepraxisLese-praxis zu. Während zunächst einige Stellen, an denen es um das Lesen von BriefenBrief beim SymposionSymposion geht, warnen, dass die kollektiv-direkteLektürekollektiv-direkt Rezeption von Briefen als etwas Ungewöhnliches verstanden werden konnte12 und nicht jede LeseszeneLese-szene im symposialen Kontext kollektiv-indirekteRezeptionkollektiv-indirekt Rezeption meint,13 sind diejenigen Stellen aufschlussreich, an denen die Länge der vorgelesenen Texte thematisiert wird. Explizit hebt Martial die Kürze seines zweiten Buches der Epigrammata hervor und formuliert in diesem Kontext:

„Lesen wird dich der Gast beim Wein, wenn man ihm fünf Schöpfkellen gemischt hat, und zwar noch bevor der Becher, den man ihm vorsetzte, lauwarm zu werden beginnt (te conviva legetlego mixto quincunce, sed ante incipiat positus quam tepuisse calix)“ (Mart.Martial 2,1, Üb. BARIÉ/ SCHINDLER).

An zwei weiteren Stellen klagt Martial über zwei Hörerfahrungen beim GemeinschaftsmahlGemeinschaftsmahl, weil der Gastgeber die Situation dazu ausnutzt, seinen Gästen beim Essen schlechte selbstgeschriebene Texte zu servieren (vgl. Mart.Martial 3,45.50), wobei in 3,50 explizit die unzumutbare Länge hervorgehoben wird. Eine ähnliche Situation schildert DiodorDiodorus Siculus, in welcher der sizilianische Tyrann Dionysios I. von Syrakus das SymposionSymposion dazu ausnutzt, seine eigenen, künstlerisch fragwürdigen literarischen Ergüsse vorlesen zu lassen (vgl. Diod. 15,6,2 f). Diese Stellen zeigen exemplarisch, dass Belästigung mit schlechten oder zu langen Texten beim Gemeinschaftsmahl eine sozial unerwünschte Praxis darstellte, was von PlutarchPlutarch explizit reflektiert und dem Verantwortungsbereich des Symposiarchen zugewiesen wird (vgl. Plut. symp. 1,4,3 [mor. 621b d]).14 Ein guter Symposiarch dulde beim Symposion nur solche Beiträge,

„welche dem Zwecke des Gelages entsprechen, und dieser besteht darin, unter den Gästen mittels des Vergnügens Freundschaften zu erzeugen und zu befördern. Denn das Gelage ist eine UnterhaltungUnterhaltung beim Wein, welche durch die Gefälligkeit zur Freundschaft führt“ (Plut.Plutarch symp. 1,4,3 [mor. 621c], Üb. OSIANDER/SCHWAB).

Diese Stellen belegen, dass beim GemeinschaftsmahlGemeinschaftsmahl eigentlich keine längeren Ganzschriften gelesen wurden.15 Dass dies auch für das Gelehrtenmahl zutraf, wird sodann bei Aulus GelliusGellius, Aulus deutlich.

„Im vertraulichen Zusammensein bei Favorin wurde über Tisch entweder ein altes Gedicht von einem lyrischen Dichter gelesen, oder ein Historien-Abschnitt, in griechischer, ein anderes Mal in lateinischer Sprache (apud mensam Favorini in convivio familiari legilego solitum erat aut vetus carmen melici poetae aut historia partim Graecae linguae, alias Latinae)“ (Gell.Gellius, Aulus 2,22,1 [Üb. WEISS, mod. JH]).

Hier ist explizit belegt, dass aus den zumeist längeren Werken der antiken GeschichtsschreibungGeschichtsschreibung beim Gelehrtenmahl nur Abschnitte vorgelesen wurden. Dies erklärt sich freilich auch dadurch, dass das VorlesenRezeptionkollektiv-indirekt nur als Impuls für das eigentlich wichtige Tischgespräch fungierte,16 wie nicht nur im Anschluss an die zitierteZitat Stelle, sondern auch anderswo zu sehenSehen ist.17 Aus Gell.Gellius, Aulus 3,19 geht hervor, dass ein SklaveSklave (servus, d. h. nicht zwingend ein ausgebildeter Lesesklave!) beim ersten Gang einen Abschnitt aus lateinischer oder griechischer Literatur vortrug, über den dann angeregt diskutiert wird. Diese Stelle ist insofern wichtig, als sie, wie schon die Stellen bei Martial, zeigt, dass nicht erst beim SymposionSymposion,18 sondern schon beim Essen selbst gelesen werden konnte.19 Diese Zusammenstellung von Quellen sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Lesen im Vergleich zu anderen Formen der UnterhaltungUnterhaltung beim antiken GemeinschaftsmahlGemeinschaftsmahl nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat.20 Neben MusikMusik, Tanz und Spielen ist vor allem die Bedeutung des Tischgesprächs nicht hoch genug einzuschätzen.21 Die Symposienliteratur zeigt eindeutig, dass BücherBuch und LesefrüchteLese-frucht häufig Gegenstand des Gespräches sind, aber dort selbst nicht gelesen wurden.22

Für die neutestamentliche Wissenschaft bedeutet dies, dass ein Modell, das den frühchristlichen GottesdienstGottesdienst als GemeinschaftsmahlGemeinschaftsmahl konzeptualisiert und annimmt, dass die Schriften, die zum NT geworden sind, in diesem Rahmen rezipiert worden seien, mit einigen Schwierigkeiten behaftet ist. Dass im frühen ChristentumChristentum beim Gemeinschaftsmahl (auch) gelesen wurde, könnte aus Gründen der kulturellen Plausibilität sehr gut möglich sein. Auf der Grundlage unserer Quellen lässt sich aber konkret für das frühchristliche Gemeinschaftsmahl nicht sehr viel mehr sagen. Welche Texte und in welchem Umfang diese vorgelesen wurden und zu welchem Zweck, all dies lässt sich nur sehr schwer rekonstruieren. Und wenn man davon ausgeht, dass beim frühchristlichen Mahl etwas vorgelesen wurde, dann muss man angesichts der Analogien in den Quellen zum antiken Gemeinschaftsmahl davon ausgehen, dass die Initiative von einem der Mahlteilnehmer ausging; er es also für angebracht hielt, der TischunterhaltungUnterhaltung eine Vorlesung beizusteuern (vgl. 1Kor 14,261Kor 14,26) – womöglich eine LesefruchtLese-frucht, die er in einem anderen Kontext (vermutlich bei individuell-direkteLektüreindividuell-direktr Lektüre) geerntet hat.

 

Dass dies etwas anderes ist als geordnetes liturgisches Lesen im GottesdienstGottesdienst, erscheint evident. Die sozialen Konventionen, die in der Symposienliteratur reflektiert werden, verbieten es eigentlich, dass jemand bei einem solchen Anlass einen Text wie etwa den Römerbrief, die EvangelienEvangelium, die Apostelgeschichte oder die Apokalypse im Ganzen vorgetragen haben könnte. Grob geschätzt hätte eine Verlesung dieser Schriften bei einer VortragsgeschwindigkeitLese-geschwindigkeit von 100 Wörtern/Minute folgendermaßen lang gedauert: die Vorlesung des RömerbriefsRöm (gut 7000 W.) hätte knapp 90 Minuten gedauert, die Vorlesung des MkEvMk (ca. 11.000 W.) hätte gut 2 Stunden gedauert, die Vorlesung des LkEvLk (fast 20.000 W.), des MtEvMt (gut 18.000 W.), der ApostelgeschichteAct (gut 18.000 W.)23 hätte jeweils etwa 3 Stunden gedauert, wobei Unterbrechungen zur Erläuterung und Diskussion etc. hier noch nicht eingerechnet sind. Dies übersteigt bei weitem die Zeit, die ein einzelner Beitragender zugestanden bekommen hätte; und selbst wenn man sich gemeinsam zur Lektüre des Textes entschlossen hätte, würde ein Text solcher Länge die kognitivenkognitiv Aufnahmekapazitäten der ZuhörerHörer bei weitem überschreiten. Für die folgenden Überlegungen ist festzuhalten, dass das frühchristliche MahlGemeinschaftsmahl als sozialer Ort nicht monosituativ als Raum für die Rezeption aller schriftlichen Erzeugnisse im frühen ChristentumChristentum modelliert werden kann.24