Die Belagerung von Krishnapur

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Unterdessen wandte sich der Doktor an Captain Hudson, um etwas zu fragen, was ihm seit einigen Tagen nicht aus dem Sinn ging, nämlich: Was eigentlich dran sei an dem Gerede über Schwierigkeiten mit den Sepoys, die es im Januar in Barrackpur gegeben habe? Ob er und die anderen Offiziere zu dieser Zeit dort gewesen seien?

»Nein, als wir hinkamen, hatte sich das alles schon gelegt. Aber was Größeres war das sowieso nicht … ein oder zwei Feuer in den Linien der Eingeborenentruppen und ein paar Gerüchte über Verunreinigung durch die neuen Patronen. General Hearsey ist sehr geschickt mit der Sache umgegangen, obwohl manche meinten, er hätte strenger durchgreifen sollen.«

Hier rief Mrs. Dunstaple gereizt dazwischen, sie wolle eine Erklärung, denn niemand würde ihr je solche Dinge wie Verunreinigung oder Patronen erklären; wen interessiere es schon, wenn sie so dumm bliebe wie ein Dienstmädchen, und sie lächelte, um anzudeuten, dass sie es eher kokett als böse meinte. Also begann Hudson freundlich zu erklären. »Wie Sie wissen, laden wir ein Gewehr, indem wir ein Maß Schießpulver durch den Lauf in die Ladekammer schütten und obendrauf eine Kugel hineinstopfen. Nun, das abgemessene Pulver wird in kleinen Papierhülsen geliefert, die wir Patronen nennen … um an das Pulver zu kommen, muss das Ende der Hülse abgerissen werden, und beim Truppendrill bringen wir den Männern bei, dies mit den Zähnen zu tun.«

»Und dadurch fühlen sich die Eingeborenen verunreinigt … ach du lieber Himmel!«

»Nein, nicht dadurch, Mrs. Dunstaple, sondern durch das Fett an den Patronen … das ist natürlich nur an den Kugelpatronen … das heißt, an solchen mit einer Kugel drin. Man entleert das Pulver in den Lauf, und dann, statt das Papier wegzuwerfen, schiebt man den Rest der Patrone nach. Aber weil sie so knapp ins Rohr passt, muss sie eingefettet sein, sonst bleibt die Kugel stecken. Bei den neuen Enfield Gewehren, die Nuten im Lauf haben, würden Kugelpatronen mit Sicherheit steckenbleiben, wenn sie nicht eingefettet wären.«

»Du meine Güte, dann war es also das Fett!«

»Sicher doch, ebendas hat Jack Sepoy ja so beunruhigt! Irgendwie kam er auf die Idee, das Fett stamme von Schweineoder Rindertalg, und es durfte seine Lippen nicht berühren, weil das gegen seine Religion verstößt. Das war der Grund für die Unruhen in Barrackpur. Aber inzwischen hat Major Bontein vorgeschlagen, den Drill zu ändern … in Zukunft soll das Ende, statt es abzubeißen, einfach abgerissen werden. Dann brauchen sich die Sepoys keine Sorgen mehr zu machen, woraus das Fett besteht. Wie es aussieht, riecht das Zeug ekelhaft genug, um eine Epidemie auszulösen, gar nicht zu reden von einer Meuterei.«

Hudson fügte hinzu, am 27. Februar habe es noch anderen Ärger gegeben, diesmal in Berhampur, hundert Meilen weiter nördlich, wo sich das 19. Eingeborenenregiment der bengalischen Infanterie geweigert hatte, vor einer Parade die Zündhütchen entgegenzunehmen. Die Abwesenheit jedes europäischen Regiments hatte es unmöglich gemacht, diesem Akt der Meuterei auf der Stelle entgegenzutreten … Jetzt befinde sich das aufrührerische Regiment auf dem langsamen Marsch nach Barrackpur, wo es aufgelöst werden solle. Aber es gebe keinen Grund zur Beunruhigung, und im Übrigen wurden nun, da alle mit dem Essen fertig waren, Rufe nach einem Blinde-Kuh-Spiel laut.

Alles rief, das sei eine glänzende Idee, und im Nu hatten die Träger die Körbe beseitigt (ehe sie selbst beseitigt wurden), und das Spiel konnte beginnen. Einer der Ladies, einem pummligen Mädchen, das vom vielen Lachen schon ziemlich erhitzt war, wurde, wie es sich gehört, ein Tuch vor die Augen gebunden, und nun wurde es dreimal herumgedreht, während die anderen einen Reim sangen, den einer der Offiziere, der zum Zeitvertreib gern die Eingeborenen studierte, von den eingeborenen Kindern gelernt hatte:

Rosen Attar, Senfes Öl,

Die Katzen schrei’n, der Topf kocht fein,

Schau und flieg! Sonst hascht dich

Des Rajas* Dieb!

Damit stoben alle davon, und die junge Lady stolperte kreischend vor Lachen umher, bis sich ihr Bruder, der fürchtete, sie würde noch hysterisch, schließlich fangen ließ.

Dieser Bruder war kein anderer als Leutnant Cutter, fürwahr ein sehr amüsanter Bursche. Während er hier- und dorthin stürzte, machte er die ganze Zeit grobe, beängstigende Bemerkungen in dem Sinne, er sei ein großer Bär, und wenn er irgendein hübsches Mädel finge, würde er es ganz fürchterlich umarmen … und die Ladies waren so erschreckt und entzückt, dass sie sich, ob sie wollten oder nicht, durch ihr Kreischen ständig verrieten und immer erst im letzten Moment entwischten.

Aber bald wurde klar, dass Leutnant Cutters Umherstolpern etwas recht Merkwürdiges an sich hatte. Wie kam es, dass er, weit davon entfernt, wahllos durch die Gegend zu stolpern, wie man es von einem Mann mit verbunden Augen erwartet hätte, ein ums andere Mal mit seinen beängstigenden Sprüngen an den Offizierskameraden vorbei in Richtung einer Gruppe Ladies galoppierte? Vielleicht nur, weil er sie durch ihr Gekreische orten konnte. Aber wie kam es, dass er so oft auf die Hübscheste von allen zuhielt, nämlich auf Louise Dunstaple, und das arme, atemlos jammernde Geschöpf am Ende fing, um es, wie angedroht, fürchterlich bärenhaft zu umarmen? (Und wie kam es, fragte sich Fleury, dass er sich an diesem unschuldigen Spiel so tierisch wild berauschte?) Leutnant Cutter, der Schurke, hatte sie hereingelegt. Irgendwie war es ihm gelungen, einen kleinen Schlitz in den Falten des seidenen Tuchs vor seinen Augen zu öffnen, und er hatte die ganze Blindheit nur vorgetäuscht!

So ging es weiter mit den Belustigungen. Was für einen wunderbaren Tag sie alle verbrachten … sogar die zerlumpten Eingeborenen, die es vom Rand der Lichtung aus mit ansahen, dürften das Schauspiel genossen haben … und wie herrlich das Wetter war! Der indische Winter ist das perfekte Klima, sonnig und kühl. Erst später am Nachmittag fiel Fleury wieder ein, dass er Captain Hudson, der ein intelligenter Mann zu sein schien, hatte fragen wollen, ob er glaube, dass mit weiteren Unruhen zu rechnen sei … Denn natürlich wäre es töricht für ihn und Miriam, die Dunstaples wie beabsichtigt in Krishnapur zu besuchen, wenn ein Aufruhr im Land umging.

Der Collector hatte sich gewundert, als er von der Meuterei am 19. in Berhampur erfuhr, dass diese Entwicklung in offiziellen Kreisen keinen Alarm auslöste. Später hörte er, General Hearsey sei genötigt gewesen, sich mit einer Rede an die Sepoys in Barrackpur zu wenden, um ihnen zu versichern, niemand habe die Absicht, sie zwangsweise zum Christentum zu bekehren, wie sie vermuteten. Die Engländer, hatte Hearsey ihnen erklärt, seien »Christen der Heiligen Schrift«, was bedeute, dass niemand Christ werden könne, der nicht zuerst die Heilige Schrift gelesen und verstanden und sich freiwillig entschieden habe, Christ zu werden. In Kalkutta glaubte man, diese Rede, die den Sepoys in ihrer eigenen Sprache, in einem kräftigen, männlichen Ton von einem Offizier gehalten worden war, dem sie vertrauten, habe eine heilsame Wirkung gehabt. Der Collector war unterdessen zu einem schmerzhaften Entschluss gelangt. Trotz seiner Besorgnis, nach der Abreise seiner Frau unverzüglich nach Krishnapur zurückzukehren, hielt er es für seine Pflicht, ein paar Tage länger in Kalkutta zu bleiben, um die Leute vor der Gefahr zu warnen, derer er selbst zum ersten Mal durch jene ominösen Chapatis auf seinem Schreibtisch innegeworden war.

Fleury war dem Collector nur bei einer einzigen Gelegenheit begegnet und hatte zu diesem Zeitpunkt unglücklicherweise nicht begriffen, dass er jemandem begegnete, der bald ein interessantes Gesprächsthema für verzweifelnde Gesellschaftszimmer abgeben würde. In den zwei Jahren, die der Collector am Anfang des Jahrzehnts in England verbracht hatte, war er ein aktives Mitglied zahlreicher Gremien und Gesellschaften gewesen: des Magdalen Hospital zur Rückführung von Prostituierten beispielsweise, oder der aristokratischen Mendicity Society zur Unterstützung von Bettlern, ganz zu schweigen von allen möglichen literarischen, zoologischen, antiquarischen und statistischen Gesellschaften. Das war natürlich ganz so, wie es sein sollte; jeder hätte mit seinen privaten Mitteln das Gleiche getan. Aber Hopkins war weiter gegangen. Nicht nur, dass er voller Ideen über Hygiene, Fruchtwechsel und Entwässerung nach Indien zurückgekehrt war, sondern er hatte in dem Glauben, das Gleiche zu tun, was die Römer einst in Britannien getan hatten, einen substanziellen Teil seines Vermögens darauf verwendet, Beispiele europäischer Kunst und Wissenschaft ins ferne Indien zu bringen. Diejenigen, die es gesehen hatten, sagten, die Residenz in Krishnapur sei voller Statuen, Gemälde und Maschinen. Vielleicht konnte man nichts anderes erwarten, als dass diese Bemühungen des Collectors, den Eingeborenen die Zivilisation zu bringen, in Kalkutta verspottet wurden; aber jetzt war er, fast ebenso unterhaltsam, in der Rolle des Unkenrufers wieder da.

Binnen kürzester Zeit wurde er, ständig durch Kalkutta eilend, um bei diversen Würdenträgern vorzusprechen, eine stadtbekannte Figur. Wer auch immer ihn zufällig die Chowringhee entlangschreiten sah, sagte zu sich selbst: »Da geht Hopkins. Fragt sich nur, wen er diesmal warnen will.« Seine Vorhersage des kommenden Unheils, die, wie die Leute sagten, größtenteils darauf beruhte, dass er die gefundenen Chapatis tatsächlich gegessen hatte, war bald eine sprudelnde Quelle der Belustigung. Fleury gehörte zu denen, die sein Treiben mit Erstaunen und Genuss verfolgten. In Regierungskreisen kam es sogar in Mode, vom Collector aufgesucht zu werden, und nicht selten unterhielt ein Gastgeber seine Tafelgesellschaft mit Erzählungen, wie der Collector diesen oder jenen in ein Gespräch verwickelt hatte, um die Katastrophe zu prophezeien. Und wenn er einen besuchte, stürzte er sich in wirre Reden über die Notwendigkeit, den Eingeborenen die Zivilisation näherzubringen oder etwas Ähnliches, gemischt mit den üblichen düsteren Vorhersagen. Doch während die Tage vergingen und die Leute in Kalkutta ihn weiter hierhin und dorthin fahren oder mit einsamer Würde über die nicht mehr sehr grüne Fläche des Maidan* stolzieren, wenn nicht gar tief in Gedanken versunken am Fluss stehen sahen, ungefähr an der Stelle, wo heute die große Howrah Bridge drohend über dem Wasser schwebt, kam die Zeit, da sie ihn kaum noch bemerkten.

 

Allmählich, als das Wetter heißer und die Liste jener Würdenträger, die ohne Warnung zu lassen er offensichtlich für unklug hielt, nicht kürzer wurde, begann der Collector eine heruntergekommene Erscheinung anzunehmen, obwohl sein Hemd immer noch genauso weiß und sein Cut genauso sorgfältig gebügelt war. Dann, im April, ging eine andere Geschichte über den Collector um, wenngleich es ein Geheimnis blieb, woher sie stammte. Es wurde gesagt, dass er, auch wenn man ihn noch kreuz und quer durch die Stadt ziehen sah, niemanden mehr besuche. In den ersten Tagen nach der Abreise seiner Frau hatte jeder, den Fleury traf, wenn nicht persönlich Besuch bekommen, so doch zumindest einen Freund oder einen Freund eines Freundes, der von dem Collector besucht worden war, »um ihn auf die ernstzunehmende Unruhe unter den Eingeborenen hinzuweisen«. Doch jetzt, wenn man in irgendeinem der Gesellschaftszimmer fragte, in denen man verkehrte, gab es jede Menge Leute, die den Collector auf der Straße gesehen hatten, aber niemand hatte gehört, dass er irgendwo an ein Ziel gelangt wäre.

Außerdem wurde der Collector jetzt, da die Sonne während der Mittagszeit vom Himmel brannte, oft am Straßenrand im Schatten eines Baumes gesehen (auch Sie hätten ihn dort stehen sehen, wenn Sie damals in Kalkutta gewesen wären), gedankenverloren stand er da (über eine Möglichkeit nachdenkend, kicherten die Leute, die Zivilisation mit der Eisenbahn ins Mofussil* zu bringen, um die Eingeborenen zu beruhigen), wie ein Mann, der auf das Ende eines Regenschauers wartete, obwohl natürlich keine Wolke in Sicht war. Aber welche Gründe auch immer zu den langen Pausen unter Bäumen führten, sie nährten mit Sicherheit den Glauben, der Collector habe seine warnenden Besuche aufgegeben. Nur warum er in diesem Fall nicht einfach zu Hause blieb, konnte keiner erklären.

Selbstverständlich gab es eine andere Erklärung, die niemand vermutete. Jetzt, da es nicht mehr der neuste Schrei war, vom Collector besucht und gewarnt zu werden (inzwischen fand man es in der Tat eher lächerlich, denn wenn er mit seinem Besuch so lange gewartet hatte, rangierte man offensichtlich nicht sehr weit oben auf seiner Liste einflussreicher Personen), wurde er zweifelsohne von vielen, die er besuchen wollte, mit der Ausrede abgewiesen, sie seien zu beschäftigt.

Und dann, eines Tages, ziemlich plötzlich, war er verschwunden. Offenbar hatte er beschlossen, Kalkutta seiner Unwissenheit zu überlassen, und war nach Krishnapur zurückgekehrt, um seinen Pflichten nachzugehen. Eine Zeitlang hörte man nichts mehr von ihm.

Der Friedhof, auf dem Fleurys Mutter begraben lag, ist in Kalkutta immer noch zu sehen, an der Park Street, nicht weit vom Maidan entfernt. Heutzutage ist es ein erstaunlicher, einsamer Ort, verwahrlost und verwildert. Viele der erhabensten viktorianischen Grabsteine stehen schief, andere sind umgefallen oder wurden absichtlich zertrümmert. Sehr oft sind auch die Bleibuchstaben aus den Inschriften geklaubt worden, eine kleine, den Toten von den Lebenden auferlegte Steuer. Nahe dem Tor drängen sich ein paar arme Familien unbehaglich in Hütten, die sie aus Stöcken und Lumpen errichtet haben; kein Wunder, dass sie sich so unwohl fühlen, denn sogar für einen Christen herrscht hier eine unheilvolle Atmosphäre.

Zu Fleurys Zeiten jedoch war das Gras geschnitten und die Gräber waren gut gepflegt. Abgesehen davon war er, wie man es erwarten mag, ein Liebhaber von Friedhöfen; er liebte es, dort zu sinnieren und seinen Herzensregungen zu lauschen, indem er die abgekürzten Biographien auf sich wirken ließ, die er in die Steine eingemeißelt fand … so beredt, so bündig! Gleichwohl, nachdem er ein oder zwei Stunden am Grab seiner Mutter gegrübelt hatte, beschloss er, es genug sein zu lassen, denn schließlich will man das Herumschleichen auf Friedhöfen ja auch nicht übertreiben.

Der Entschluss war kein sehr plötzlicher. Seit dem Alter von sechzehn Jahren, als er erstmals begann, sich für Bücher zu interessieren, hatte er, sehr zur Betrübnis seines Vaters, körperliche und sportliche Dinge gering geschätzt. Er war von einer melancholischen und lustlosen Gemütsverfassung gewesen, ein Opfer der Schönheit und Traurigkeit der Welt. Im Lauf der letzten zwei oder drei Jahre jedoch hatte er bemerkt, dass seine düstere und schwindsüchtige Art nicht mehr ganz so wirkte, wie sie einmal gewirkt hatte, insbesondere auf junge Ladies. Sie fanden seine Blässe nicht mehr so interessant, sie wurden ungeduldig mit seiner Melancholie. Die Wirkung, oder die verfehlte Wirkung, die man auf das andere Geschlecht ausübt, ist insofern wichtig, als sie einem verrät, ob man in Fühlung mit dem Zeitgeist steht, dessen Hüter unveränderlich das andere Geschlecht ist. Um die Wahrheit zu sagen, war die Welle der Empfindsamkeit für das Schöne, für Sanftmut und Melancholie allmählich abgeflaut und hatte Fleury zappelnd auf einer Sandbank zurückgelassen. Dieser Tage waren junge Ladies mehr an den Vorzügen von Tennysons »großem, breitschultrigem, leutseligem Engländer« denn an bleichen Dichtern interessiert, dämmerte es Fleury. Louise Dunstaples Vorliebe, mit lustigen Offizieren herumzutollen, die ihn am Tag des Picknicks bestürzt hatte, war keineswegs die erste Abfuhr dieser Art gewesen. Sogar Miriam fragte ihn manchmal laut, warum er so »hündisch« blicke, wo sie einst geschwiegen und »seelenvoll« gedacht hätte.

Trotzdem, man ändert seinen Charakter nicht über Nacht, nur um ihn der Mode anzupassen, auch nicht, wenn man will. Manche eigensinnige Menschen in Fleurys Dilemma bleiben lieber so, wie sie angefangen haben, und geben sich damit zufrieden, ihre Epoche als philisterhaft oder verweiblicht oder was auch immer sie selbst nicht sind zu betrachten. Ein wirkliches Problem wird es erst, wenn man sich verliebt, wie Fleury, und attraktiv sein will.

Einen oder zwei Tage lang wurde Fleury ziemlich aktiv. Er musste sein Buch über den Fortschritt der Zivilisation in Indien voranbringen, und das war auch ein Grund, warum er Interesse am Verhalten des Collectors entwickelte. Er stellte viele Fragen und kaufte sich sogar ein Notizbuch, um einschlägige Informationen festzuhalten.

»Wenn die indischen Völker unter Ihrer Herrschaft glücklicher sind«, fragte er einen Beamten der Schatzkammer, »warum bleiben sie dann in einheimischen Staaten wie Hyderabad, die so miserabel regiert werden, und wandern nicht aus, um hierherzukommen und in Britisch-Indien zu leben?«

»Die Apathie des Eingeborenen ist allgemein bekannt«, erwiderte der Beamte steif. »Er ist nicht unternehmerisch.« Fleury schrieb »Apathie« in schnörkeliger Handschrift nieder, und dann, nach kurzem Zögern, fügte er »nicht unternehmerisch« hinzu. Unglücklicherweise überlebte dieser Energieausbruch die bleiernen Fakten nicht, die ihm genannt wurden, um die segensreichen Wirkungen der Company zu illustrieren. Als er von den spektakulären Steigerungen der Zoll-, Opium- und Salzeinnahmen hörte, verfiel er in einen Stupor, und nicht lange danach sah man ihn wieder lustlos auf einem Sofa liegen, in einen Gedichtband vertieft.

Dr. Dunstaple war von Louise und von Mrs. Dunstaple bedrängt worden, ihre Abreise nach Krishnapur zu verschieben, bis der letzte Ball der kühlen Jahreszeit stattgefunden habe. Dann könne Louise noch am selben Nachmittag Brautjungfer bei der Hochzeit einer Freundin in der St Paul’s Cathedral sein. Der Doktor seufzte. Wieder waren ein paar glückliche Schweine seinem Spieß entgangen. Er tanzte nicht gern.

In der Festhalle war die Temperatur weit über neunzig Grad Fahrenheit, die hohen Fenster standen offen und punkahs flatterten wie verwundete Vögel über den Köpfen der Tanzenden. Obwohl Fleury sich nicht vorstellen konnte, wie man bei einer solchen Hitze tanzen sollte, hatte Louise ihre Tanzkarte im Nu gefüllt; als er kam, um sich zu bewerben, war zu seinem Leidwesen nur noch der galloppe frei. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und zog ihn schimmernd, wie mit Olivenöl bestrichen zurück. Auch die Ladies konnten nicht kühl aussehen; noch so viel Reispuder konnte den Glanz ihrer Gesichtszüge nicht mattieren, noch so viel Polsterung konnte feuchte Flecken nicht daran hindern, sich unter ihren Achselhöhlen auszubreiten.

Ein Wunderwerk nach dem anderen hervorhebend, die Musiker, die prachtvoll livrierten Diener, das köstliche Buffet inmitten der Blumen und Lüster und Topfpalmen, empfahl der Doktor Fleury dringend, diese elegante Szene nicht zu vergessen, wenn es darum ging, Beispiele zivilisierten Verhaltens für sein Buch auszuwählen. Fürwahr, stimmte Fleury zu, dies sei sicher eine Art von Zivilisation, aber irgendwie glaube er, eigentlich werde ein ganz anderer Aspekt gebraucht … ihre spirituelle, ihre mystische Seite, die Seite des Herzens! »Zivilisation, wie sie derzeit ist, denaturiert den Menschen. Denken Sie nur an die Mühlen und die Schmelzöfen … Im Übrigen, Doktor, empfiehlt mir jeder, dem ich in Kalkutta von meinem Buch erzähle, auf dies oder jenes zu achten … einen Kanal, der gebaut worden ist, oder irgendeine grausame Sitte wie Kindstötung oder Witwenverbrennung, die abgeschafft wurde … Das sind natürlich Verbesserungen, gewiss, aber so, wie die Dinge liegen, sind es nur Symptome von etwas, was eine große, heilsame Krankheit sein sollte … Das Problem ist, wissen Sie, dass die Symptome zwar da sind, die Krankheit als solche aber fehlt!«

»Eine heilsame Krankheit!«, dachte der Doktor, während er einen entsetzten Blick auf Fleurys errötetes Antlitz warf.

»Hm, das ist alles schön und gut, aber … Hier, nehmen Sie eine von diesen.« Der Doktor bot Fleury sein Zigarrenetui an, wobei er als subtiles Kompliment hinzufügte: »Ich fürchte allerdings, dass sie nicht so gut sind wie Lord Cannings.« Er beobachtete Fleury besorgt. Er hatte gehört, auch wenn es nur ein Gerücht sein mochte, Fleury habe sich im Bengal Club irgendeinen armen Teufel geschnappt und ihm ein langes Gedicht über die Besteigung eines symbolischen Berges vorgelesen.

Überrascht von der Anspielung auf Lord Canning, nahm Fleury eine Zigarre und fuhr nachdenklich mit der Nase daran entlang. Sein Blick fiel auf zwei hübsche, schwitzende Mädchen in der Nähe, als eines von ihnen ausrief: »Ich hasse Männer, die bei der Polka hopsen!« Auf jedem Londoner Ball hätte ihm dieselbe Bemerkung zu Ohren kommen können. Obendrein hatte er gehört, dass in Kalkutta auch reiche indische Gentlemen zu Bällen im zivilisierten europäischen Stil luden, obwohl sie die englischen Ladies zugleich dafür verachteten, mit Männern zu tanzen, als wären sie »nautch girls«*, etwas, was sie ihren eigenen Frauen niemals gestatten würden. Darin schien ein Widerspruch zu liegen. Es war alles sehr kompliziert.

Der Doktor hatte Fleury am Ellbogen gefasst und führte ihn zum Buffet. Wo Mrs. Lang denn heute Abend sei? Fleury erklärte, Miriam habe es abgelehnt, mitzugehen, nicht, weil sie noch trauere, sondern weil sie es zu heiß fand, um zu tanzen. Miriam habe ihren eigenen Kopf, brummte er.

»Was für eine vernünftige junge Frau!«, rief der Doktor neidisch, wünschte er sich doch auch für seine Ladies einen eigenen Kopf, der ihnen sagte, wann es zu heiß zum Tanzen war.

Sie kamen an einer Reihe erhitzter Anstandsdamen am Rand der Tanzfläche vorbei; die ununterbrochene Bewegung ihrer Fächer verlieh diesen Ladies etwas Flatteriges, etwas von Vögeln, die sich ihr Gefieder putzen. Die aus der Blässe schwer gepuderter Gesichter hervortretenden Augen folgten Fleury ausdruckslos, als er vorbeiflanierte. Er dachte: »Wie wahr, dass englische Frauen im indischen Klima nicht gedeihen! Ihr Fleisch fällt ein, es schmilzt dahin und hinterlässt nur Sehnen, Fasern und Falten.«

Plötzlich herrschte Aufregung im Ballsaal, wie ein Lauffeuer ging die Nachricht um: General Hearsey war eingetroffen! Das Gedränge im vorderen Bereich der Tanzfläche war so groß, dass der Doktor und Fleury nichts sehen konnten, und so stiegen sie ein paar Stufen der weißen Marmortreppe hinauf. Von dort aus gelang es ihnen, einen Blick auf den General zu erhaschen, und der Doktor konnte nicht anders, er wünschte sich, unwillkürlich zu Fleury hinüberschielend, sein Sohn Harry wäre an dessen Stelle da. Harry hätte alles gegeben, um des tapferen Generals ansichtig zu werden, während Fleury mit seinem von Zivilisationstheorien aufgeweichten Gehirn sicher nicht den Wert des Mannes schätzen konnte, der jetzt langsam durch die Menge der Gäste schritt, von denen viele vortraten, um ihn zu begrüßen; andere, die keine Gelegenheit gehabt hatten, seine Bekanntschaft zu machen, erhoben sich aus Respekt und verbeugten sich, als er vorüberging.

 

Aber der Doktor tat Fleury Unrecht, denn Fleury war nicht weniger aufgeregt als er. Fleury hatte sich selbst im Verdacht, ein Feigling zu sein, und hier sah er sich dem Mann gegenüber, der vor dem Zeughaus eines zum Aufruhr bereiten Sepoy-Regiments furchtlos auf den Rebellen, der soeben den Adjutanten erschossen hatte, zugeritten war. Auf die Warnung eines Offizierskameraden, die Muskete des Rebellen sei geladen, hatte der General geantwortet, was in ganz Kalkutta schon zum geflügelten Wort geworden war: »Zum Teufel mit seiner Muskete!« Und der Sepoy, überwältigt von der moralischen Präsenz des Generals, war unfähig gewesen, den Abzug zu drücken. Kein Wunder, dass Fleury seine Theorien im Moment vergaß und sich an dem älteren Soldaten weidete, an dem vollen weißen Haar und Schnauzbart des Generals, an dessen mannhaftem Gebaren, das sein Alter von sechsundsechzig Jahren vergessen ließ. Und als der General, der sich ruhig mit einem Freund unterhielt, aber doch einen müden und angestrengten Ausdruck im Gesicht hatte, seine Augen hob und kurz auf Fleury ruhen ließ, schlug Fleurys Herz, als wäre er kein Dichter, sondern ein Husar.

Erfrischt durch diesen Anblick personifizierten Muts, stiegen Fleury und der Doktor die Marmortreppe weiter hinauf, zu den Galerien. Hier saßen etliche Leute bequem in Nischen, durch Farne und rote Plüschwände voneinander getrennt, mit einem guten Überblick über die Tanzfläche unten. Es herrschte ein reges Kommen und Gehen von Höflichkeitsbesuchen zwischen diesen Nischen, und hier war der Ort, wo man die nüchternen Tatsachen der Ehe diskutieren konnte, während sich die jungen Leute unten um die gefühlsmäßigen Aspekte kümmerten. Mrs. Dunstaple hatte einen Platz auf einem Sofa unter einer punkah gefunden und redete mit einer anderen Lady, die ebenfalls eine heiratsfähige Tochter hatte, wenngleich um einiges gewöhnlicher als Louise. Als Mrs. Dunstaple Fleury mit ihrem Ehemann näherkommen sah, konnte sie einen Freudenlaut nicht unterdrücken, denn sie hatte ihrer Gefährtin gerade vorgeschwärmt, welche Aufmerksamkeiten Fleury Louise zuteilwerden ließ, und den unangenehmen Eindruck gehabt, dass ihr nicht ganz geglaubt wurde.

Fleury verbeugte sich, als er vorgestellt wurde, und setzte sich dann, benommen von der Hitze. Die roten Plüschwände um ihn herum vermittelten ihm das Gefühl, in einem Ofen zu sitzen. Er nahm ein Taschentuch heraus und tupfte sich die ölige Stirn ab. Auf der Tanzfläche unten ging ein Walzer zu Ende, und bald würde es Zeit für den galloppe sein. Soeben tauchte Louise auf, eskortiert von den Leutnants Cutter und Stapleton, die Fleury beide unverschämt anstarrten und sich der Aufgabe, ihn wiederzuerkennen, offensichtlich nicht gewachsen fühlten.

Fleury blickte bewundernd zu Louise auf; er wusste, dass sie nachmittags Brautjungfer bei der Hochzeit einer Freundin aus ihrer Kindheit gewesen war. Die beiden Mädchen waren zusammen aufgewachsen, und nun, nachdem sie einander so oft gesagt hatten: »O nein, du wirst die Erste sein!«, war die Freundin die Erste gewesen, weil Louise so lange brauchte, um sich zu entschließen.

Fleury sah, dass Louise bewegt war von der Erfahrung, Brautjungfer ihrer Freundin gewesen zu sein; ihr Gesicht war verletzlich geworden, wie zwischen Lachen und Weinen. Er fand diese Verletzlichkeit seltsam entwaffnend.

Und nun, da Louise in dieser Weise aufgebrochen war, kein Wunder, dass sie, zumindest für ein paar Stunden, jeden Mann anschaute, den sie traf, sogar Fleury, und ihn momentan als ihren zukünftigen Ehemann sah. Mrs. Dunstaple sah erst ihre Tochter an und dann Fleury, der insgeheim mit den Zähnen knirschte und sich an den Knöcheln kratzte, wo er gerade von einer Mücke gestochen worden war. Wie schnell das Leben vergeht! Sie seufzte. Die eher gewöhnliche Tochter ihrer Gefährtin litt unter »Hitzepickeln«, wurde ihr anvertraut. Was für eine Schande! Sie redete mitfühlend daher.

Es war Zeit für den galloppe. Als sie auf der Tanzfläche ihre Haltung einnahmen, blickte Louise auf und sah Fleury forschend an. Aber Fleury träumte vor sich hin, er dachte selbstzufrieden, dass man in London keine Gentlemen mehr in braunen Fräcken gesehen hätte, wie sie hier getragen wurden, und er dachte an die Zivilisation, dass sie mehr sein müsse, als von einem Land ins andere importierte Moden und Gebräuche, dass sie eine höhere Sicht der Menschheit sein müsse, und wie er in seinem schwarzen Frack erstickte, und was für ein strenger Schweißgeruch den Saal hier unten erfüllte, und ob er den bevorstehenden Tanz wohl überleben würde. Dann, endlich, spielte das Orchester mit einer flotten Melodie auf und setzte die Füße der Tänzer in Bewegung, darunter Louises weiße Satinschühchen und Fleurys Lackstiefel, rhythmisch stürmend und drängend, als fände all dies nicht in Indien statt, sondern irgendwo in einem gemäßigten fernen Land.

Other books by this author