NOVA Science-Fiction 30

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4

»Hörst du das?«, fragte Maylin. Sie legte das Com auf den Boden, setzte die AR-Brille ab und lauschte mit schiefgelegtem Kopf.

»Ich höre nur den verdammten Bambus rauschen«, sagte Kenshou.

»Doch, da ist was. So ein Meckern.«

»Vielleicht ein Vogel.«

»Nein, ein großes Tier. Ich glaube ein Panda.«

»Pandas kommen nicht hierher. Die leben weiter drinnen.«

Sie befanden sich am Rande des größten Naturschutzgebietes von Shaanxi. Übernachtet hatten sie im Zelt. Der Anmarsch war mühsam gewesen, und ohne den Transportbot, der jetzt mit eingeknickten Beinen neben dem Zelt lag wie ein schlafendes Tier, hätten sie es nicht geschafft.

»Ich hör’s auch«, sagte Hong unvermittelt. Er war aufgestanden und blickte Richtung Westen, wo der Bambus sich lichtete. »Es kommt vom Felsen.«

»Dann sieh nach!«, zischte Kenshou. »Na los, geh schon! Und nimm das Pfefferspray mit.«

»Ich gehe auch«, sagte Maylin.

»Hast du die Daten schon überspielt?«, fragte Kenshou.

»Noch nicht.«

»Dann bleibst du hier.«

»Das ist ein Panda«, sagte Maylin, als wäre dies ein Argument, das alle Einwände ausstach. In ihren Augen war es das auch. Sie studierte Informatik an der Universität Peking, doch ihr Interesse galt vor allem der Ökologie und ihre Liebe den Pflanzen und Tieren. Deshalb war sie auch der Umweltschutzgruppierung Freunde des Planeten beigetreten. Von der geheimen Untergruppierung der Planetenkämpfer hatte sie erst vor drei Tagen gehört, als ein Mann sie gefragt hatte, ob sie bereit sei, an einer geheimen Aktion teilzunehmen, die dem Schutz des Planeten diene. Für ihre Teilnahme hatte er ihr eine beträchtliche Aufstockung ihres Sozialpunktekontos versprochen, im Falle einer Ablehnung indirekt mit einem Studienverbot gedroht. Sie hatte widerstrebend eingewilligt, und schließlich hatte sich Kenshou bei ihr gemeldet. Er erklärte, ein Mann sei ausgefallen, und aufgrund ihrer Programmierfähigkeiten sei sie der perfekte Ersatz. So war sie in dem Naturschutzgebiet gelandet.

»Einen Panda in freier Wildbahn sehen, das passiert mir vielleicht einmal im Leben«, sagte sie. »Nur fünf Minuten!« Die Angst, die sie während des Anmarsches verspürt hatte, war verflogen. Sie richtete sich auf und schlich hinter Hong her durch den Bambus. Es wurde immer heller, dann auf einmal hatte sie freie Sicht auf den Felsvorsprung. Sie kauerte sich neben Hong hinter einen Farn. Die Abschussvorrichtung mit der NH13 leuchtete in der Morgensonne wie ein Alienartefakt. Sie war ein Fremdkörper inmitten des grünen Bambuswalds. NH13 sei der kleinste Marschflugkörper der chinesischen Marine, hatte Kenshou erklärt, kaum zweieinhalb Meter lang. Die Reichweite betrage lediglich hundertzwanzig Kilometer, doch für ihre Zwecke sei das mehr als genug.

Das Fusionskraftwerk Goldener Drache, das heute in Betrieb gehen sollte, lag am Rand des Naturschutzgebiets und war etwa fünf Kilometer Luftlinie entfernt. NH13 würde es nicht vollständig zerstören, die Inbetriebnahme aber um mehrere Jahre verzögern. Die gewaltigen Elektromagnete, die das Plasma bändigen sollten, waren hochempfindliche Apparate. Die hohe Störanfälligkeit war neben dem anfallenden radioaktiven Abfall der Grund, weshalb die Planetenkämpfer die Zerstörung des Kraftwerks für notwendig hielten. Kenshou hatte angedeutet, der Entscheidung seien harte Diskussionen im innersten Führungskreis vorausgegangen. Eine Minderheit habe die Ansicht vertreten, Fusionskraftwerke seien CO2-neutral und ungefährlich, weshalb sie keine Gefahr für die Umwelt darstellten. Maylin war gegen Atomkraft, egal in welcher Form, weshalb sie durchaus Sympathien für die Planetenkämpfer hatte. Trotzdem war sie bereit, ihre Pflicht zu tun. Es musste sein.

»Es sind zwei!«, flüsterte Maylin aufgeregt. »Ein Männchen und ein Weibchen!«

Das Weibchen hatte sich halb auf die NH13 gelegt und präsentierte dem Männchen ihr Hinterteil. Als er sich an ihr aufrichten wollte, fuhr sie herum und stieß ihn gegen die Brust, sodass er nach hinten purzelte. Sie fauchte ihn an und entfernte sich ein paar Meter.

»Sie ist interessiert«, sagte Maylin. »Aber das kann sich hinziehen. Die Paarung kann bis zu zwei Stunden dauern.«

»So viel Zeit haben wir nicht«, sagte Hong.

»Warum nicht?«

»Weil es bei einer politischen Aktion auf die Wirkung ankommt«, erwiderte Hong im Flüsterton. »Die Anlage soll zerstört werden, bevor die Regierung die Eröffnung bekannt geben kann.«

»Außerdem wurde es so beschlossen«, sagte Kenshou. Er war plötzlich hinter ihnen aufgetaucht und ging neben ihnen in die Hocke. Das Gewehr hatte er geschultert. »Und wir halten uns an die Beschlüsse.« Er blickte Maylin an. »Geh zurück, lade die Koordinaten und mach das Ding scharf.« Er nahm das Gewehr von der Schulter.

Maylin blickte zur Abschussvorrichtung. Sie bestand aus zwei zusammenklappbaren Dreibeinen, auf denen die Rakete ruhte. Das Pandaweibchen hatte anscheinend Gefallen daran gefunden. Sie rieb sich mit dem Hinterteil daran, während das Männchen begehrlich zuschaute. Die Tatzenhiebe des widerspenstigen Weibchens hatten ihn anscheinend eingeschüchtert. Die Ständer mit ihrer schweren Last schwankten bedrohlich.

»Wenn das Ding startet, wird sie womöglich verletzt oder sogar getötet«, sagte Maylin.

»Wir haben einen Auftrag«, beharrte Kenshou. »Das Atomkraftwerk muss zerstört werden. Und wenn die Rakete umkippt, halten wir den Zeitplan nicht ein. Also verschwinde. Sofort.«

»Ich mache das«, sagte Hong, bevor Maylin etwas sagen konnte. Beide Hände um die Pfefferspraydose gelegt, lief er auf den Felsvorsprung. Das Weibchen bemerkte ihn als Erste. Mit einem verdutzten Schnaufer richtete sie sich auf die Hinterbeine auf und bewegte die rechte Vordertatze auf und ab, als winke sie ihn zu sich heran. Der männliche Bär drehte sich um und ging, frustriert vom langwierigen Liebesvorspiel, sogleich in den Angriffsmodus über. Mit gebleckten Zähnen stieß er eine Art Bellen aus und stürmte Hong entgegen. Als er ihn beinahe erreicht hatte, knallte es. Maylin fauchte wie eine Raubkatze. Im letzten Moment hatte sie den Lauf der Waffe zur Seite gedrückt, sodass der Schuss danebengegangen war.

»Warum tust du das?«, brüllte Kenshou.

»Weil wir Tierschützer sind. Wir sind Planetenschützer!«

»Du nicht. Du bist ein Dummkopf, weiter nichts.« Er zielte erneut, doch der Bär hatte Hong zu Boden geworfen, und es bestand die Gefahr, ihn zu verletzen. Fluchend lief er hinüber und zielte auf den Kopf des Pandas, der beide Vordertatzen auf Hongs Brust gesetzt hatte. Mit der Schnauze machte er sich an seinem Gesicht zu schaffen. Seine Schreie hatten nichts Menschliches mehr. Kenshou richtete den Gewehrlauf auf den Kopf des Pandas.

»Neiiiin!«, kreischte Maylin und warf sich aus vollem Lauf gegen Kenshou. Sie prallten beide gegen den Bären, der von Hong abließ. Seine schwarz umrandeten Augen hatten nichts Niedliches mehr, seine Schnauze war blutig. Maylin und Kenshou rappelten sich hoch. Inzwischen war das Weibchen nähergekommen und blockierte den Weg zum Wald. Es winkte nicht mehr, sondern knurrte. Maylin und Kenshou wichen zum Rand der Klippe zurück. Das Gewehr hatte Khenshou fallen gelassen, die Spraydose lag neben dem gurgelnden, zuckenden Hong.

»Was hast du getan?«, zischte Kenshou.

»Panda darf nicht sterben«, murmelte sie mit piepsiger Kinderstimme. »Panda darf nicht sterben …«

Der Bärenmann kam näher.

5

Die Anspannung im Kongresszentrum von Brasilia war körperlich spürbar wie ein Hochspannungsfeld, es fehlten nur die Funken. Während im Hintergrund die Verhandlungen über die dreiundzwanzig vorliegenden Entwürfe zum Abschlusskommuniqué in die entscheidende Phase gingen, warteten die Delegierten im angenehm kühlen Saal auf die Rede des Sprechers der chinesischen Delegation. Als er aufs Podium trat, ging ein erwartungsvolles Raunen durchs Publikum. Der Kongress war nicht gut verlaufen. Die Teilnehmer waren zerstritten. Weder wurde Einigkeit bei der Beurteilung der globalen Lage erzielt, noch hatte sich ein zustimmungsfähiger Maßnahmenkatalog herauskristallisiert. Zahllose Redebeiträge und endlose Diskussionen hatten die Delegierten zermürbt. Jetzt ruhten hohe – vielleicht allzu hohe – Erwartungen auf der Erklärung des Chinesen. Nicht wenige sahen in ihm den Welterlöser, der einen Ausweg aus der Klimakatastrophe weisen könnte. Hätte er den Bau eines Generationenraumschiffs zur Besiedlung fremder Planeten vorgeschlagen, hätten die meisten sich vermutlich freiwillig für den Flug gemeldet.

Fangjie Li klopfte aufs Mikrofon und rückte den dicken schwarzen Rahmen seiner Brille zurecht. »Guten Abend!«, sagte er mit feierlicher Miene. »Heute ist ein historischer Tag, nicht mehr und nicht weniger als ein Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, all jenen zu danken, die am Gelingen beteiligt waren, insbesondere dem chinesischen Volk und dessen hervorragenden Wissenschaftlern und Technikern, aber auch der Europäischen Union, Neuseeland, Australien und Mexiko sowie zahlreichen Einzelpersonen und Stiftungen in aller Welt.« Er nahm die Brille ab und putzte umständlich die Gläser. Auf der riesigen Wandprojektion war zu erkennen, dass ihm ein Timer ins Sichtfeld eingeblendet wurde.

»In wenigen Sekunden«, fuhr er fort, »wenn es hier siebzehn Uhr wird, ist es in China fünf Uhr morgens. Dann gehen in der Provinz Shaanxi zwei Sonnen auf: die große Sonne, die wir alle kennen, und eine kleine Sonne, die von Menschenhand gezündet wird. Dann nimmt das Fusionskraftwerk Goldener Drache seine Arbeit auf.«

 

Hinter ihm wurde ein Livestream projiziert. Der Reaktorblock war quadratisch und sattgelb bemalt. Seine gewaltigen Dimensionen wurden sichtbar im Vergleich zu den winzigen Menschen, die sich davor versammelt hatten. Noch größer aber waren die sechzehn Trichter, die in einem halben Kilometer Abstand kreisförmig um den Reaktor angeordnet waren. Das waren keine Kühltürme, und das wurde auch den Delegierten im Saal rasch klar. Ihr Raunen schwoll zu einem lauten Summen an.

»Was Sie da sehen, meine Damen und Herren, sind CO2-Kollektoren, die ersten ihrer Art. Die angesaugte Luft wird komprimiert, das CO2 abgetrennt. Fünfzig Prozent der vom Reaktor produzierten Energie wird für die Umwandlung des schädlichen Treibhausgases in eine Art Öl verwendet. Das Öl können wir deponieren, um den CO2-Gehalt der Luft zu mindern, oder es als regenerativen Rohstoff verwenden.«

Der chinesische Ministerpräsident wurde gezeigt. Seine Hand schwebte über einem roten Knopf.

»Es ist fünf Uhr nachmittags in Brasilien, oder five p.m., wie unsere amerikanischen Freunde sagen«, fuhr Fangjie Li fort. »Heute, in diesem Moment, beginnt eine neue Zeit. Die Temperaturen werden wieder sinken, und unsere Kinder werden leben.«

Die Hand des Ministerpräsidenten wanderte zum roten Knopf. Die Delegierten schnellten von ihren Sitzen hoch und applaudierten. Sie trampelten auf den Boden, lachten und schrien. Nicht wenige weinten.

6

Maylin hob den Kopf. Sie lag da, wohin der Bärenmann sie geschleudert hatte. Ihr brummte der Schädel, doch sie konnte ihre Gliedmaßen bewegen. Anscheinend hatte sie keine schweren Verletzungen davongetragen.

Hong lag ein paar Meter weiter. Sein Hemd war aufgerissen, seine Brust rot gefärbt. Er rührte sich nicht. Sie richtete sich in eine sitzende Haltung auf und schaute sich um. Die beiden Pandas waren verschwunden. Kenshou war nicht zu sehen. War er vom Felsen gestürzt? Sie musste nach ihm sehen und sich vergewissern, ob er noch lebte, doch sie schaffte es nicht, den Blick von den gewaltigen Trichtern abzuwenden, die den Goldenen Drachen umringten. Kenshou hatte ihr erklärt, was es damit auf sich hatte. Ein Schwirren ging von ihnen aus, das mit einem tiefen Summton unterlegt war. Der Sog war so stark, dass die tief hängenden Wolken Strudel bildeten und hineingezogen wurden. Es war ein großartiger Anblick, der bei ihr ein naives Staunen auslöste.

Verwirrt von ihren Empfindungen, betrachtete sie den gelben Kubus in der Mitte der Anlage. Hubschrauber schwebten in der Luft, Drohnen kreisten. Aus der Entfernung sah das Reaktorgebäude klein und harmlos aus. Sie dachte an das Millionen Grad heiße Sonnenfeuer, das darin brannte. Vielleicht war es ja doch ein guter Tag. Die beiden Pandas lebten, und dort unten wurde die Atmosphäre vom CO2 gereinigt. Die Leistung der sechzehn Trichter war vermutlich nur ein Klacks im globalen Maßstab, doch es war immerhin ein Anfang.

Auf einmal empfand sie Stolz auf die Leistung der Wissenschaftler und Ingenieure, die den Goldenen Drachen erdacht und erbaut hatte. Und ein klein wenig stolz war sie auch auf sich selbst.

Sie nahm den Rucksack ab, holte die kleine Waffe heraus, die der Fremde ihr gegeben hatte, und schleuderte sie in den Abgrund. Sie war froh, dass sie sie nicht hatte einsetzen müssen. Und sie war glücklich, dass sie die Pandas in freier Wildbahn gesehen hatte und dass sie ihr Studium würde fortsetzen können.

Als sie wieder zum Kraftwerk sah, lösten sich drei Hubschrauber aus dem Geschwader und flogen geradewegs in ihre Richtung. Sie wunderte sich, dass sie erst jetzt kamen, aber vielleicht war der GPS-Mikrochip, den der Fremde ihr unter die Haut injiziert hatte, ja defekt oder sendete so schwach, dass man Mühe gehabt hatte, das Signal auszuwerten. Sie winkte, um sich den Maschinen, die sie abholen kamen, bemerkbar zu machen. Dann waren sie da, der Windschwall ließ ihr Haar flattern. Das Stativ kippte um, der Marschflugkörper fiel zu Boden und rollte über den Rand der Klippe. Als er in die Tiefe stürzte, blitzte es an der Unterseite des mittleren Helikopters auf. Etwas raste ihr entgegen. Es war …

Eine Sonne explodierte und fraß sie auf.

Nachbemerkung des Autors

Greta und die streikenden Schüler, purzelnde Temperaturrekorde und der brennende Amazonas – 2019 war das Jahr des Klimas. Was eine schnelle Lösung der Klimakrise angeht, bin ich skeptisch. Deutschlands Anteil an der globalen CO2-Produktion beträgt 2,2 Prozent, deshalb wird unser Klima-Impact, egal was wir tun oder nicht mehr tun, eher gering ausfallen. Die größten CO2-Emittenten sind die USA, China und Indien. Und die Trumps und Bolsonaros sind überall. Je deutlicher die Kosten hervortreten, desto stärker dürften auch die Widerstände der Betroffenen werden – die Wut der Gelbwesten in Frankreich hat sich an einer Erhöhung der Benzinsteuer um ein paar Cent entzündet.

Ich fürchte, dass alle globalen Klima-Vereinbarungen gebrochen werden. Trotzdem bin ich hoffnungsvoll. In Frankreich wird bald der Fusionsreaktor ITER den Betrieb aufnehmen. Die nächste Generation soll dann bereits Strom liefern. China plant, ab etwa 2050 mit der Kernfusion Energie zu gewinnen. Damit würde sich die Möglichkeit eröffnen, CO2 der Atmosphäre zu entnehmen und als Rohstoff zu verwenden. Das Verfahren wird bereits erprobt, ist derzeit allerdings für den Einsatz in großem Maßstab viel zu teuer. Das könnte sich durch die Kernfusion ändern, denn damit stünde eine schier unerschöpfliche Energiequelle bereit. Davon handelt meine kleine Story.

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Mark Derys 1996 erschienenes Buch Escape Velocity: Cyberculture at the End of the Century ist die bislang wohl gründlichste kritische Einführung in die sich immer weiter verzweigenden sozialen, künstlerischen, wissenschaftlichen und philosophischen Aktivitäten, die von der Computer- und Netzwerktechnik angeregt wurden. In einem Abschnitt schildert er die eigenartigen synkretischen Religionen, die in den Randbereichen der Cyberkultur wuchern und jenseitige Heilsversprechen, die früher mit Begriffen wie Paradies, Himmel oder Nirvana bezeichnet wurden, in einer zeitgemäßen Umdeutung in den Cyberspace projiziert haben. Eine ähnliche Mythisierung der Technik steht auch im Mittelpunkt von Markus Müllers Geschichte. Ihre Heldin ist Angehörige eines Ordens, der technische Fertigkeiten als spirituelle Erleuchtung verehrt, und wird bei einem ihrer kniffligsten Support-Aufträge mit einer ganz neuen Variante des »Geistes in der Maschine« konfrontiert. – Das Magazin Publishers Weekly führt seit Jahren eine regelmäßig aktualisierte Liste der »Writers to Watch«. Auf unserer internen Liste der »Writers to Watch«, die wir für Nova im Auge behalten, könnte Markus Müller, der mit der folgenden Story sein Debüt in unserem Magazin feiert, künftig eine wichtige Rolle spielen – ein eleganter und einfallsreicher Erzähler, der uns auf Anhieb überzeugt hat.

Markus Müller: Regenmädchen


»Leani im Blauen Stern. Komm und vertreib das Böse aus diesem Haus.«

Kara rekapitulierte die Nachricht noch einmal im Kopf, als sie auf dem Parkplatz vor dem Blauen Stern aus ihrem Flitzer stieg. Etwas kryptischer und blumiger als die Tickets, die der Tempel normalerweise erhielt. Aber es gab einen gültigen Account dazu, eine validierte Meatspace-Adresse und – am allerwichtigsten – eine bestätigte Vorauszahlung: fünf Coins, der traditionelle Obolus für die Hilfe einer Saari-Administratorin. Als auf die übliche erste Kontaktmail keine Antwort zurückgekommen war, hatte sie zwar bereits angefangen sich zu wundern, aber zu diesem Zeitpunkt war es ohnehin schon zu spät gewesen. Das Ticket war angenommen, der Obolus verbucht, also blieb ihr jetzt nichts anderes übrig als herauszufinden, was es damit auf sich hatte. Und das Problem zu lösen, egal wie. Immerhin hatte der Tempel einen Ruf zu verlieren.

Als sie jetzt allerdings sah, wohin ihre Neugier sie geführt hatte, konnte sie nicht anders, als sich für diesen spontanen Klick innerlich zu ohrfeigen.

Ich hätte das Geld nicht nehmen sollen. Das hier stinkt.

Der Blaue Stern war eines jener riesigen drittklassigen Hotels, die davon lebten, dass müde Reisende am Ende von Nirgendwo für gewöhnlich nicht viele Fragen stellten. Einst mochte es sogar halbwegs prachtvoll und einladend ausgesehen haben, ungeachtet des umliegenden grau-verwaschenen Gewerbekomplexes, in den man es achtlos hineingewürfelt hatte, doch inzwischen war es nur noch eine tote Hülle, vergessenes Abschreibungsgrab irgendeiner Betreibergesellschaft, und die Jahre der fehlenden Wartung und Renovierung hatten es nach und nach in eine Art postmodernes Spukschloss verwandelt, die ehemals spiegelnde Fassade von zahllosen blinden Flecken durchsetzt, während unablässig schmutziges Wasser vom Dach rieselte und die Flächen aus Moos und Flechten befeuchtete, die im flackernden Blau und Grün der wenigen noch funktionierenden Fassaden-LEDs wie zerfranste Gespensterfratzen wirkten. Altmodische Natriumlampen tauchten die ganze Gegend in ein ungesundes orangefarbenes Licht. Ungenutzte Lagerhäuser und Bürogebäude ringsum duckten sich stumm unter die Wolkenberge wie ausgeschlachtete Schiffswracks.

Kein Zweifel, der Blaue Stern hatte seine besten Zeiten schon eine Weile hinter sich. Die Grenze war dicht, und ansonsten gab es hier nicht viel, was eine so lange Fahrt gelohnt hätte. Das Einzige, was sich gehalten hatte, war ein im Flackern sterbender Leuchtdioden verhallendes Echo jener Zeiten, als hier selbst Absteigen wie der Blaue Stern brummende Geschäfte gemacht hatten; genug zumindest, dass sich die Betreiber dereinst einen vom Tempel konfektionierten Mainframe mit unbegrenzter Garantie hatten leisten können, was auch erklärte, warum der Account trotz allem noch immer gültig war. Der Tempel stand zu seinem Wort.

Noch bevor sie die Eingangstür erreicht hatte, begann ihr Deck bereits, sich mit den Haussystemen zu verbinden. Die hochwertige Nanopartikel-Matrix in ihrem Großhirn – nicht das billige Zeug, mit dem sich die Gamer-Kids noch vor dem Schulabschluss den visuellen Cortex zerballerten, sondern Premiumqualität aus den Hardware-Labors des Tempels – synchronisierte sich mit ihren Schläfen-Implantaten und begann, erste Informationen in ihr Sichtfeld einzuspielen.

Schon bei den ersten Klicks bemerkte sie, wie träge und unpräzise das Interface reagierte, als hätte man den Kern mit Gelee ausgegossen. Die Firmware war hoffnungslos veraltet, Prozessoren und Speicherauslastung auf Anschlag, und auch sonst war alles in ziemlich schlechtem Zustand. Anscheinend hatten die Besitzer sich schon ewig keine offiziellen Upgrades mehr leisten können, dafür wucherten an sämtlichen APIs Zusatzmodule und Erweiterungs-Kits von Drittherstellern übereinander wie Muscheln an einem Schiffsrumpf. Es gab einen externen Cloud-Proxy mit vollgelaufenem Speicher, ein Spezialmodul für interaktive Pornografie, das nur noch drei Programme listete; selbst die hochintelligente, aber leider auch sehr wartungsintensive Firewall des Kerns hatte man irgendwann durch eine direkt in die Zuleitung eingeschleifte AdWare-Appliance ersetzt, die umsonst die gleiche Aufgabe erledigte, solange man damit leben konnte, dass sie nach Gutdünken des Herstellers ihre eigene unblockierbare Werbung in die Bitstreams der Benutzer einspeiste. Alles in allem eine ziemliche Katastrophe.

Mit einem resoluten Zwinkern leerte Kara ihr Display – man hatte sie gelehrt, sich nicht ausschließlich auf technische Angaben zu verlassen, daher machte sie sich gerne auf gute altmodische Art selbst ein Bild von den Dingen, und es wurde Zeit damit anzufangen. Mit einer schnellen, eleganten Bewegung schüttelte sie sich den Nieselregen aus den Haaren und stieß die Glastür auf, deren elektrischer Öffner wohl schon vor Jahren das Zeitliche gesegnet hatte. Einen Moment später stand sie in der schummerig beleuchteten Eingangshalle.

Der Architekt hatte sich sichtlich genötigt gefühlt, das klinische Äußere des Gebäudes durch einen übertrieben plüschigen Retrostil im Inneren etwas abzumildern: jede Menge dunkel gebeizte Holzpaneele, Messingkübel voller kränklicher Palmgewächse und gefühlt eine Quadratmeile hochfloriger Teppich in der Farbe alten Blutes. Die Luft roch muffig, geschwängert von einer unauslöschlichen Reminiszenz an menschliche Ausdünstungen, Nikotinrauch und Heerscharen feuchter Mäntel. Es gab ein paar Infodisplays an den Wänden, von denen die meisten auf Störung standen oder unkoordiniert vor sich hin flackerten. Die wenigen, die noch funktionierten, zeigten aus irgendeinem Grund immer wieder dieselben Bilder von unscharf gefilmten Großstadtansichten, bei denen permanent Regenschleier vor der Kamera vorbeitrieben und schillernde Tropfen auf der Linse zurückließen. In einem verborgenen Winkel röchelte das Kühlaggregat eines Getränkeautomaten, und über allem hing das leise Summen unzähliger Niedervolt-Trafos wie die schäbige elektrische Kopie einer Meeresbrandung.

 

Die Lobby war menschenleer, doch als Kara nach ein paar Schritten den Bereich vor der Rezeption erreicht hatte, aktivierte sich direkt vor ihr eine AR-Anwendung in Form eines billig gerenderten Avatars in dunklem Anzug, der sie im typisch abgehackten Tonfall einer schlecht programmierten Sprachsynthese begrüßte: »Willkommen im. Blauen Stern. Möchten Sie. Ein Zimmer?« Ein einfaches automatisches Empfangsprogramm für Häuser, die sich keinen echten Concierge leisten konnten. Kara beschloss, sich das entwürdigende kleine Schauspiel zu ersparen, das sich zwangsläufig entfalten würde, sobald sie den Dialog annahm. Sie hasste diese Dinger. Vor allem die billigen sahen immer so aus, als wären sie aus Knetmasse modelliert, ähnlich wie die Püppchen in einem merkwürdigen Film, den Kara als Kind einmal gesehen hatte, über absolut perfekte kleine Menschenfiguren aus Ton, die irgendwann zum Leben erwachten und am Schluss ihren Schöpfer umbrachten. Sie hatte nächtelang Albträume davon gehabt, und noch heute verursachte ihr der Anblick digitaler Menschenimitationen regelmäßig eine Gänsehaut. Und es machte ohnehin nicht wirklich einen Unterschied. Sie war schließlich nicht einfach nur irgendein Gast. Sie war eine Saari-Priesterin mit einem Auftrag. Sämtliche Formalitäten waren praktisch in dem Moment erledigt gewesen, als ihr Deck sich in das Haussystem eingeloggt hatte. Folglich machte sie nun mit aller nur denkbaren Gelassenheit von ihren traditionellen Rechten Gebrauch: Mit einer knappen Geste beendete sie das Programm und marschierte einfach weiter, als wäre sie hier zu Hause.

Sie musste natürlich früher oder später mit einem echten Menschen sprechen, im Idealfall mit derjenigen, die das Ticket aufgegeben hatte, aber ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass das möglicherweise nicht ganz so einfach sein würde. Ihr erster Eindruck, dass an dieser Sache etwas ganz entschieden merkwürdig war, verstärkte sich mit jeder Sekunde ihres Spaziergangs durch das verwahrloste Hotel mit seinen menschenleeren Fluren.

Der riesige Raum, den sie als nächstes betrat, musste das Hotelrestaurant sein. Natürlich war es ebenfalls menschenleer. Nicht nur leer wie »heute geschlossen«, sondern leer wie »mach einen Bogen um diesen Ort«.

Von einem kaum sichtbaren Geflecht aus Drähten an der Decke hingen nikotinvergilbte LED-Strahler herab und schufen kleine Inseln aus bläulichem Licht, das sich auf der Oberfläche zerkratzter Aluminiumtische brach und matte Glanzlichter auf abgewetzte algengrüne Mikrofaserbezüge setzte. Allein bei dem halbherzigen Versuch sich vorzustellen, hier einen ganzen Abend zu verbringen, legte sich Karas Hirn protestierend in ein paar zusätzliche Falten. Praktisch alles hier wirkte unglaublich deprimierend. Abgenutzt und verblichen von zu vielen Jahren, die wie eine unsichtbare Brandung unermüdlich den Lack abgeschmirgelt und die farblose Grundierung eines Ortes freigelegt hatten, der niemals dafür geschaffen gewesen war, irgendjemandem wirklich ein Zuhause zu sein.

Ihr erster Impuls war, sich einfach wieder umzudrehen und schnurstracks zurück zum Parkplatz zu gehen. Aber das war natürlich Unsinn. Sie würde sich ihre bislang makellose Ticket-Statistik nicht mit einem »Ungelöst geschlossen« versauen. Nein, sie musste versuchen, ein Gefühl für diesen Ort zu bekommen. Da sie nach wie vor praktisch keine Anhaltspunkte hatte, was hier eigentlich los war, konnte sich so ziemlich alles irgendwie als nützlich erweisen.

Sie suchte sich die am wenigsten schmuddelig wirkende Sitzgruppe aus und ließ sich auf das Polster sinken. Kaum hatte ihr Hintern den Sitz berührt, schaltete ihr Deck erneut in den AR-Modus, und in ihrem Sichtfeld tauchte ein weiterer Avatar in Gestalt einer üppigen Blondine auf. Sie trug eine Art Gymnastikanzug, der ihr ungefähr zwei Nummern zu klein sein musste, und drohte aufgrund ihrer allzu üppigen 90-D-Ausstattung jeden Moment vornüber zu kippen. Ja, der Laden hatte wirklich Klasse.

Das Püppchengesicht des Avatars nahm fast so etwas wie einen betrübten Ausdruck an, als es sagte: »Bitte entschuldigen Sie. Aber Ihre Bestellung. Kann derzeit nicht entgegen. Genommen werden. Die Öffnungszeiten des Restaurants …«

»Halt die Klappe«, fiel Kara der synthetischen Stimme ins Wort. »Die Öffnungszeiten interessieren mich nicht. Ich bin geschäftlich hier. Sag dem Operator, ich möchte gerne mit einem richtigen Menschen sprechen. Jetzt gleich.« Mit einem Klick schaltete sie ihr Display komplett auf Stand-by, noch bevor das System versuchen konnte, sie in eine Diskussion zu verwickeln, streckte dann ihre Beine von sich und verschränkte mit einem grimmigen Blick in Richtung der nächsten Raumfeldkamera demonstrativ die Arme hinter dem Kopf. Alles an ihr sagte überdeutlich: »Ich kann warten. Bis ans Ende aller Tage, wenn es sein muss. Aber rechnet damit, dass ich dann womöglich etwas schlecht gelaunt sein könnte …«

In diesem Moment nahm sie am Rande ihres Gesichtsfeldes ein leichtes Zittern war und bemerkte, wie ihr Display unvermittelt wieder zum Leben erwachte. Ein flackernder dünner Strich am oberen Rand deutete darauf hin, dass irgendein Fenster versuchte, sich anzuzeigen und in einer rigorosen Dauerschleife von der Software ihres Decks daran gehindert wurde. Meistens bedeutete dies, dass irgendeine Werbung versuchte, sich an den diversen Sicherheitsblockaden vorbei in den Vordergrund zu schieben. Doch Saari-Decks verfügten über eine praktisch undurchdringliche Firewall, darauf spezialisiert, wirklich alles Erdenkliche und auch das meiste Unerdenkliche von den empfindlichen inneren Schnittstellen der Userin fernzuhalten. Das Blocken angeblich unblockierbarer Werbung in einem lokalen Netz war in dieser Hinsicht absoluter Kinderkram. Dass es irgendein Signal trotzdem geschafft hatte, weit genug vorzudringen, um ihr Display aus dem Stand-by zu holen, war demzufolge gelinde gesagt bemerkenswert.

Karas Neugier war geweckt. Sie aktivierte eine Sandbox für den neuen Bitstrom und gab dann das Display frei. Sie hatte eigentlich damit gerechnet, irgendein vulgär buntes Video für Potenzpillen oder das neueste rein biologische Wundermittel gegen Kopfhautkrebs zu sehen, doch stattdessen kam nur eine Messagebox mit einer einfachen Textnachricht:

Dreizehn Stufen zur roten Tür. Geh hindurch und spiel mit mir.

oyhfgne.pber.ine.fragvary.fho.rkrp.jvyqrearff.cynljvguzr

Was zum …???

Ein Geräusch hinter ihr ließ sie herumfahren.

Ein verhuschtes, hohlwangiges Männlein mit schwarzen Ringen unter den Augen sprang erschrocken zurück und starrte auf das Blitzen des halb gezogenen Saari-Messers, das ebenso zur Standardausrüstung gehörte wie ihr Deck. Es gab jede Menge Freaks und Möchtegernhacker mit großen Träumen und leeren Bankkonten, die kein Problem damit gehabt hätten, eine Saari-Priesterin in der Mitte durchzusägen, nur um an ihre Hardware zu kommen. Deshalb hatten die Instruktorinnen dafür gesorgt, dass sie notfalls sogar mit bloßen Händen ein paar Dinge anstellen konnte, die selbst die Fans von Kettensägenfilmen hätten zusammenzucken lassen.

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