Während sie durch die Straßen mit dem lebhaften Sonntagmorgenverkehr fuhren, war seine Aufmerksamkeit beständig den Pferden zugewandt, und mit einem plötzlichen Ruck warf er sie seitwärts, um zwei kleinen Knaben auszuweichen, die mit einem kleinen Wagen über die Straße fuhren. Saxon sah ihn von der Seite an. Es war, als offenbarte sich ihr die Tiefe seiner Seele, als sähe sie ihre intensive Kraft sich entladen, sähe Funken seiner ruhenden Gewalttätigkeiten, Boten aus dunklen Gegenden, kalt und fern wie Sterne, Wildheit, reißend wie die eines Wolfes und rein wie die eines Hengstes, Zorn, unversöhnlich wie der des Todesengels, und Jugend, die Feuer und Leben war und sich weder vor Zeit noch Raum beugte. So saß sie entrückt und bezaubert da, während ihr weibliches Sehnen Abgründe überbrückte, bereit, ihn mit ihrem ganzen Wesen zu lieben. »Du Lieber, du Lieber!« murmelte jede geheime Fiber ihrer Seele.
»Bei Gott, Saxon«, nahm er den Faden wieder auf. »Es gab Augenblicke, da ich sie hasste, da ich Lust gehabt hätte, über das Seil zu springen – den ganzen Haufen zusammenzuschlagen, sie herauszuzerren und ihnen zu zeigen, was kämpfen heißt. Wie zum Beispiel an dem Abend mit Billy Murphy. Billy Murphy! – Ich weiß nicht, ob du ihn kennst. Mein Freund. Ein so aufrechter, prächtiger Bursche, wie er nur je im Ring gestanden hat. Billy Murphy und ich waren zusammen zur Schule gegangen. Wir wuchsen miteinander auf und waren immer gute Kameraden. Sein Kampf war mein Kampf. War ich in der Klemme, so stand er mir zur Seite. Wir wurden beide Boxer. Ein Match wurde zwischen uns arrangiert. Es war nicht das erstemal. Zweimal hatten wir unentschieden gekämpft. Einmal siegte ich und einmal er. Es war unser fünfter Kampf. Zwei Männer, die Freunde waren, ja eben Freunde. Er ist drei Jahre älter als ich. Er hat eine Frau und zwei oder drei Kinder, die ich auch kenne. Und er ist mein Freund. Verstehst du?
Ich wiege zehn Pfund mehr als er, aber beim Schwergewicht hat das nichts zu sagen. In Zeit und Abstand ist er nicht so gut wie ich, und ich bin ausdauernder als er, aber er ist gewandter und schneller als ich. Ich kenne seine Schläge und er meine, und wir haben ehrlichen Respekt voreinander. Und wir standen gleich. Zweimal unentschieden und jeder einen Sieg. Aber nun der Kampf – du kannst es wohl ertragen, davon zu hören?«
»Ja, ja«, rief sie. »Ich möchte es gern hören. Du bist so prachtvoll.«
Er beantwortete das Kompliment mit einem offenen, festen Blick. Darüber hinaus aber verriet er nicht, dass es ihm Freude machte.
»Wir kämpfen sechs Runden – sieben Runden – acht Runden. Wir stehen gleich. Ich hatte mir das Tempo in seinen Angriffen gemerkt und ihn mit der Linken bearbeitet und seine Parade mit einem kleinen niedrigen Schlag durchstoßen, und er hatte mir einen Kinnhaken gegeben, dass es mir vor den Ohren sauste. Und das alles als zwei gute Freunde. Alles deutete auf einen unentschiedenen Kampf. Zwanzig Runden sind das höchste, weißt du.
Aber da hat er Pech. Wir rangen gerade miteinander. Es war das erstemal, und er zielt kurz auf mein Kinn – mit der Linken – eine Schlafpille von der rechten Art, wenn er trifft. Ich duckte mich, aber nicht schnell genug. Und er trifft mich, bums, gerade an den Kopf. Ich will nicht leugnen, dass ich Sterne sah. Aber es tat nicht weh und hatte nichts zu bedeuten, denn es war hier oben, wo der Knochen dick ist. Und gerade dabei bekommt er selber eins ab; denn sein schlechter Daumen, den ich kannte, seit er ihn kriegte, als wir uns als kleine Jungen im Sand bei Watts Trakt schlugen – den Daumen verstaucht er sich an meiner harten Birne. Ich hatte es mir gar nicht so gedacht! Ein dreckiger Trick, einen Mann sich die Hand am Kopf zerschlagen zu lassen, wenn es auch im Ring an sich ganz fair ist. Aber nicht unter Freunden – ich würde es nicht für eine Million Dollar mit Bill Murphy so gemacht haben. Es war Pech, weil ich so langsam bin, weil ich langsam geboren bin.
Ob es weh tut? Ich will dir etwas sagen, Saxon. Du weißt erst, was weh tut, wenn du dir einen solchen alten Schaden wieder aufgefrischt hast. Was kann Billy Murphy tun als aufgeben? Er ist fertig; er hat nur noch die eine Hand zum Kämpfen. Er weiß es, ich weiß es, der Richter weiß es, aber sonst keiner. Er schwingt weiter seinen armen linken Arm, als wäre alles in schönster Ordnung. Aber das ist es nicht. Es tut so weh, als stäche man ihn mit Messern. Er wagt nicht ein einziges Mal, mit seiner Linken richtig zuzustoßen. Aber weh tut es doch. Ob er nun stößt oder nicht, es tut weh. Und jeder kleine Schlag, den ich nicht einmal pariere, weil ich weiß, dass keine Wucht dahinter ist, jeder kleine Schlag mit dem Daumen geht ihm direkt ans Herz und schmerzt schlimmer als tausend Beulen und tausend Hiebe.
Er muss vorsichtig kämpfen, und ich forziere es auch nicht. Ich habe ganz den Kopf verloren. Ich weiß nicht, was tun. So lasse ich denn nach, und die Idioten beginnen zu brüllen. ›Warum schlägst du nicht?‹ heulen sie. ›Schiebung!‹ ›Schiebung!‹ ›Ihr solltet euch lieber küssen!‹ ›Ist er deine Liebste, Bill Roberts?‹ Und solchen Unsinn mehr.
›Kämpfe!‹ sagt der Richter leise und wütend zu mir. ›Kämpfe, oder ich disqualifiziere dich. Dich, Bill. Du bist es, den ich meine.‹ Das sagt er zu mir und berührt meine Schulter, sodass ein Irrtum unmöglich ist.
So etwas ist nicht schön. Es ist nicht recht. Um was, meinst du, kämpfen wir? Um hundert blanke Dollar. Denk dir! Und unsere Pflicht war, unser Äußerstes zu tun, um den anderen Knockout zu schlagen, weil die Teufel auf uns gewettet haben. Es war mein letzter Kampf. Nie wieder, sage ich dir.
›Gib auf‹, sage ich zu Billy Murphy in einem Clinch. ›Um Gotteswillen, Bill, gib auf.‹ Und er flüstert zurück: ›Ich kann nicht Bill, das weißt du ja gut.‹
Der Richter reißt uns auseinander, und die Teufel heulen und brüllen.
›Zum Teufel, schlag zu, Bill Roberts, tu ihn ab‹, sagt der Richter zu mir, und ich ersuche ihn, sich zur Hölle zu scheren, und Bill und ich gehen wieder in Clinch, und keiner von uns schlägt, und Bill stößt sich wieder den Daumen, und ich sehe, wie sein Gesicht sich vor Schmerz verzerrt. Sport? Bill ist so mutig wie nur einer. Aber einem mutigen Mann ins Auge zu sehen, wenn er vor Schmerzen krank ist – ihn lieb zu haben und in seinen Augen zu sehen, dass er einen lieb hat, und ihm dann weiter Schmerzen bereiten – ist das Sport? Ich kann es nicht sehen. Aber das Publikum hat sein Geld auf uns gesetzt. Wir hatten nichts zu sagen. Wir hatten uns für hundert blanke Dollar verkauft, und wir hatten nur zu parieren.
Ich sage dir, Saxon, bei Gott, es war einer der Augenblicke, da ich Lust gehabt hätte, über das Seil zu springen, auf die Teufel loszuschlagen, die nach Blut brüllten, und ihnen zu zeigen, was Blut ist.
›Um Gotteswillen, mach ein Ende, Bill‹, sagt Bill zu mir und sieht mir brüderlich in die Augen, als der Richter uns endlich auseinander gebracht hat.
Und die Wölfe und Teufel heulen: ›Schiebung! Schiebung! Schiebung!‹ Immerfort.
Schön, ich tat es. Es gab keine andere Möglichkeit. Ich tat es. Ich tat es. Ich musste es tun. Ich mache eine Finte, dass er mit der Linken auslangt, ducke mich ruhig, sodass er mir über die Schulter fährt, und dann hat er meine Rechte auf seinem Kinn. Und er kennt den Trick. Tausendmal hat er mich angeführt, indem er den Stoß mit der Schulter empfing. Diesmal aber tut er es nicht.
Absichtlich gibt er sich eine Blöße. Bums! Es trifft. Er ist sofort erledigt und fällt seitwärts um, das Gesicht zu Boden und bleibt ganz still liegen, den Kopf nach unten, sodass es aussieht, als hätte er sich den Hals gebrochen. Das tat ich für hundert Dollar und um eine ganze Pöbelbande zu amüsieren, die ich nicht mit der Feuerzange anrühren möchte. Und dann hob ich Bill in meine Arme, trug ihn in seine Ecke und half, ihn wieder zum Bewusstsein zu bringen. Schön, sie sind zufrieden. Sie bezahlten ihr Geld und kriegen das Blut, das sie haben wollen, und einen entschiedenen Kampf. Und auf der Matte liegt ein besserer Mann als jeder von ihnen – ein Mann, den ich liebe, liegt da wie tot mit zerschundenem Gesicht.«
Eine Weile sah er schweigend über die Pferde hinweg, mit einem harten und zornigen Gesichtsausdruck. Dann seufzte er, sah Saxon an und lächelte.
»Ich boxte nicht wieder. Und Billy Murphy lachte mich deshalb aus. Er blieb dabei – so als Nebengeschäft, weißt du, denn er hat eine gute Stellung. Aber hin und wieder einmal, wenn das Haus gestrichen und die Doktorrechnung bezahlt werden soll oder das älteste von den Kindern ein Fahrrad haben will, dann geht er für fünfzig oder hundert Dollar in einem Klub in den Ring. Ich möchte, du lerntest ihn einmal kennen. Ein ganzer Mann, versichere ich dir. Aber an dem Abend war mir scheußlich elend zumute.«
Sein Gesicht war wieder finster und zornig geworden, und Saxon ertappte sich dabei, dass sie unwillkürlich etwas tun wollte, was Frauen, die höher auf der sozialen Rangleiter stehen, zuweilen offen und bewusst tun. Mit einer impulsiven Bewegung streckte sie die Hand aus, legte sie auf die seine, die die Zügel hielt und ließ sie dort einen Augenblick mit einem schnellen, festen Druck ruhen. Ihr Lohn war ein Lächeln mit Lippen und Augen, und er wandte ihr das Gesicht zu.
»Komisch«, sagte er. »Ich habe nie mit einem anderen über so etwas gesprochen. Ich pflege sonst meine Gedanken für mich zu behalten. Aber was auch der Grund sein mag, so habe ich jedenfalls das Gefühl, dass wir gute Freunde werden müssen – ja, ist das nicht komisch? Und deshalb erzähle ich dir meine Gedanken. Tanzen kann jeder.«
Der Weg ging aufwärts, am Rathaus und an den Wolkenkratzern der vierzehnten Straße vorbei, den Broadway entlang, in der Richtung der Berge. Am Kirchhof bogen sie rechts ab, fuhren über die Piedmont-Berge nach dem Blair-Park und tauchten in den grünen kühlen Jack-Heyes-Canyon. Saxon vermochte ihre Überraschung und Freude über die Schnelligkeit, mit der sie vorwärts kamen, nicht zu verbergen.
»Wie schön sie sind!« sagte sie. »Ich habe mir nie träumen lassen, dass ich je mit solchen Pferden fahren würde. Ich fürchte, gleich aufzuwachen und zu merken, dass es ein Traum ist. Weißt du, dass ich immer von Pferden träume! Ich weiß nicht, was ich tun würde, um einmal eines zu besitzen.«
»Das ist auch komisch«, antwortete Billy. »Aber ich liebe Pferde genau wie du. Mein Chef sagt, ich sei Pferdekenner. Und ich weiß, dass er selbst ein Esel ist. Er versteht nichts davon. Und dabei hat er doch zweihundert große, schwere Arbeitspferde außer den zwei leichten Kutschpferden, und ich habe nicht ein einziges. Ist das nicht zum Tollwerden?«
»Ja, das ist es«, lachte Saxon verständnisvoll. »Wenn es etwas gibt, das ich liebe, so sind es feine Blusen, und ich verbringe meine Tage damit, die schönsten Blusen von der Welt zu plätten. Das ist schwer, und es ist nicht, wie es sein sollte.«
Billy knirschte in einem neuen Wutanfall mit den Zähnen.
»Es macht mich krank, wenn ich daran denke, dass du sie plättest. Es wäre eine verfluchte Welt, wenn Männer und Frauen nicht hin und wieder einmal darüber reden könnten.« Es klang wie eine halbe Entschuldigung, und doch war ein gewisser selbstsicherer Trotz darin zu hören. »Ich rede nicht mit anderen Mädchen darüber. Die würden nur glauben, dass ich Hintergedanken dabei hätte. Ihre Angst, dass man immer Hintergedanken hat, kann einen krank machen. Aber du bist nicht so. Mit dir kann ich reden. Du bist wie Billy Murphy oder sonst irgendein Mann, mit dem man reden kann.«
Sie seufzte glückselig und sah ihn, ohne es zu wissen, mit Augen an, die vor Verliebtheit strahlten.
»Mir geht es ebenso«, sagte sie. »Mit den jungen Leuten, mit denen ich spazierenging, wagte ich nie, über so etwas zu reden aus lauter Angst, dass sie es missbrauchen würden. Ja, eigentlich habe ich immer, wenn ich mit ihnen zusammen war, das Gefühl gehabt, dass wir uns narrten und anlogen und Komödie spielten, als wäre man auf einem Maskenball.« Sie schwieg, wie um sich zu bedenken, und fuhr dann mit seltsam leiser Stimme fort: »Ich bin nicht schlafend durch die Welt gegangen – ich habe gesehen und gehört. Ich habe meine Chancen gehabt, und ich bin des Plättens so müde gewesen, dass ich alles hätte tun können. Ich hätte die feinen Blusen haben können – und alles andere – und Pferd und Wagen dazu, wer weiß? Da war ein Bankkassierer – ein verheirateter Mann noch dazu, warum nicht? Er redete ganz offen mit mir. Mit mir wurde nicht gerechnet, verstehst du? Ich war kein junges Mädchen mit den Gefühlen eines jungen Mädchens. Ich war eine Null. Es war eine reine Geschäftssache. Er –«
Ihre Stimme senkte sich wie in Kummer, und in dem eingetretenen Schweigen konnte sie hören, wie Billy mit den Zähnen knirschte.
»Du brauchst mir nichts weiter zu erzählen«, rief er. »Ich kenne das. Es ist eine dreckige Welt, eine gemeine, lausige Welt. Ich verstehe sie nicht. Es gibt keine Gerechtigkeit in ihr. Die Frau wird wie ein Pferd gekauft und verkauft, mit dem Besten, das in ihr ist. Ich verstehe die Frauen nicht. Ich verstehe die Männer nicht. Meiner Ansicht nach muss ein Mann betrogen werden, wenn er so kauft. Wie zum Beispiel mein Chef und seine Pferde. Er hat auch Frauen. Er hätte dich mithaben können, nur weil er reich ist. Und du, Saxon, du bist für feine Blusen und dergleichen geschaffen. Aber bei Gott, ich würde es nicht ertragen, dass du den Preis dafür bezahltest. Das wäre ein Verbrechen –«
Er schwieg plötzlich und straffte die Zügel. Bei einer scharfen Biegung kam ihnen ein Automobil gerade entgegengesaust. Es bremste kreischend und hielt an, während die Gesichter der Insassen sich plötzlich beim Anblick der beiden jungen Menschen in dem leichten Fuhrwerk, das ihnen den Weg versperrte, belebten. Billy hob die Hand.
»Fahren Sie an den Wegrand«, sagte er zum Chauffeur.
»Nicht zu machen, Freundchen«, antwortete der Chauffeur und maß mit sachverständigem Blick den lockeren Rand des Weges und die Tiefe des Abgrunds. »Dann halten wir«, erklärte Billy freundlich. »Ich kenne die Regeln der Straße. Diese Tiere sind ein bisschen automobilscheu. Wenn Sie glauben, dass ich sie hier auf dem Hügel ängstlich gemacht haben will, dann irren Sie sich.«
Ein wirres Summen gekränkter protestierender Stimmen erklang aus dem Wagen.
»Sie brauchen nicht gleich als Landstraßenräuber aufzutreten, weil Sie ein Bauernlümmel sind«, sagte der Chauffeur. »Wir wollen Ihren Pferden nichts tun. Weichen Sie aus, dass wir vorbeikommen. Wenn nicht – –«
»Weichen Sie selber aus«, ertönte Billys Antwort. »So können Sie nicht mit mir reden. Ich kenne Sie. Machen Sie, dass Sie wegkommen. Fahren Sie rückwärts den Hang hinauf und halten Sie sich bei der ersten Stelle, wo Platz genug zum Ausweichen ist, ganz rechts.«
Nach einer furchtsamen Beratung mit den anderen Insassen des Automobils gehorchte der Chauffeur. Das Automobil fuhr rückwärts die Anhöhe hinauf und verschwand hinter der Wegbiegung.
»So ein Pack«, sagte Billy ärgerlich zu Saxon. »Wenn sie ein paar Liter Benzin haben und sich einen Wagen leisten können, glauben sie gleich, dass die Wege, die deine und meine Eltern gemacht haben, ihnen allein gehören.«
»Sollen wir hier die ganze Nacht warten?« ertönte die Stimme des Chauffeurs hinter der Wegbiegung. »Machen Sie, dass Sie weiterkommen. Die Passage ist frei.«
»Halten Sie den Mund«, antwortete Billy verächtlich. »Ich komme, wann ich komme, und wenn Sie nicht Platz genug machen, fahre ich glatt über Sie und Ihre Ladung Hühner hinweg.«
Er ließ den unruhigen Tieren ein ganz klein wenig die Zügel, und ohne dass er die Peitsche gebrauchen musste, zogen sie den leichten Wagen bergan und passierten ängstlich und scheu die lärmende Maschine.
»Wo waren wir stehen geblieben?« fragte Billy, als sie wieder freie Bahn hatten. »Ja, bei meinem Chef. Warum soll er zweihundert Pferde und Frauen und alles Mögliche haben und du und ich nichts?«
»Du hast deine Seide, Billy«, sagte sie sanft.
»Und du deine. Aber wir verkaufen sie an andere, wie man Stoffe an der Theke für so und so viel die Elle verkauft. Du weißt selbst am besten, was ein paar Jahre in der Plätterei für dich bedeuten. Und ich selber! Ich verkaufe meine Seide jeden Tag, wenn ich arbeite. Sieh den kleinen Finger hier.« Er nahm die Zügel in die eine Hand und hob die andere, die jetzt frei war, hoch, sodass sie sie sehen konnte. »Ich kann ihn nicht wie die anderen ausstrecken, und das wird immer schlimmer. Das kommt vom Fahren. Hast du je die Hände eines alten Kutschers gesehen? Sie gleichen Krallen, so krumm und verkrüppelt sind sie.«
»In den Tagen, als unsere Väter über die Prärie gingen, sah das Leben anders aus«, antwortete sie. »Sie bekamen auch krumme Finger, aber was es an Pferden und dergleichen gab, gehörte ihnen.«
»Eben. Sie arbeiteten für sich. Sie machten sich die Finger für sich selber krumm. Aber ich mache mir die Finger für meinen Chef krumm. Kannst du dir denken, Saxon, dass seine Hände so weich sind wie die einer Frau, die nie etwas getan hat. Und doch gehören Pferde und Ställe ihm, obwohl er nie ein ehrliches Stück Arbeit verrichtet hat, während ich mich abschinde, um Essen und Kleider zu verdienen. Alles geht den falschen Weg. Und wer hat Schuld daran? Sieh, das möchte ich gern wissen. Die Zeiten sind anders geworden. Wer hat sie verändert?«
»Nicht Gott.«
»Nein, darauf kannst du deinen Kopf setzen, nicht er. Und das ist auch eine der Fragen, die ich stelle. Wer ist alles in allem Gott? Falls er die Dinge ordnet – und wenn er es nicht tut, wozu ist er dann da? – warum lässt er dann meinen Chef und Männer wie den Bankkassierer, von dem du sprachst, warum lässt er die dann Pferde besitzen und Frauen, anständige kleine Mädchen kaufen, die gern ihre eigenen Männer lieben und Kinder, deren sie sich nicht zu schämen brauchten, bekommen und auf ihre Art glücklich sein möchten?«
*
Die Pferde, die häufig rasten durften und von der Anstrengung schäumten, hatten den steilen Weg nach dem Moragatal erklommen, und dort, wo es auf der einen Seite zu den Contra-Costa-Höhen hinaufging, senkte sich der Weg plötzlich in die grüne, sonnenbeschienene Stille des Riesentannen-Canyons.
»Sag, ist das nicht herrlich?« fragte Billy, indem er eine Handbewagung machte, die die Bäume, das rieselnde Geräusch des Wassers, das man nicht sah, und das sommerliche Summen der Bienen umfasste.
»Herrlich«, gab Saxon zu. »Da möchte ich schon auf dem Lande wohnen, was ich noch nie getan habe.«
»Ich auch nicht, Saxon. Ich habe nie in meinem Leben auf dem Lande gewohnt, obwohl meine Familie von dort stammt.«
»Damals gab es noch keine Städte, alle wohnten auf dem Lande.«
»Da hast du sicher recht«, nickte er. »Sie mussten auf dem Lande wohnen.«
Das leichte Fuhrwerk hatte keine Bremse, und Billys Aufmerksamkeit wurde jetzt ganz davon in Anspruch genommen, die Pferde den steilen, gewundenen Weg hinabzulenken. Saxon lehnte sich zurück und schloss mit einem Gefühl unsagbaren Wohlbehagens die Augen.
»Was gibt es?« fragte Billy schließlich nach einem Weilchen unruhig. »Dir ist doch nicht schlecht?«
»Es ist so herrlich, dass ich mich fürchte, es anzusehen. Es ist so stolz, dass es schmerzt.«
»Stolz? Das klingt doch merkwürdig.«
»Vielleicht. Aber so fühle ich es. Es ist stolz. Weder die Häuser noch die Straßen oder sonst etwas von der Stadt ist stolz. Aber dies hier ist es. Ich weiß nicht, warum. Aber es ist so.«
»Ich glaube fast, du hast recht«, rief er. »Jetzt, da du es sagst, fällt es mir auf. Dies hier ist weder Sport noch Streik, weder Schiebung noch Lüge. Die Bäume hier stehen aufrecht, natürlich und redlich wie junge Kerle da, die zum ersten Mal im Ring sind, ehe sie lernen, zu schieben und dem Sportteufel und anderm faulen Zauber zu opfern. Ja, es ist stolz. Weißt du, Saxon, du kannst wirklich sehen.« Er schwieg beinahe demütig, betrachtete sie aber mit einem so zärtlichen Blick, dass ein verräterisches Zittern ihren ganzen Körper durchflog. »Weißt du, ich möchte, dass du mich einmal boxen sähest. In einem richtigen Kampf, wo immerzu etwas geschähe. Ich wäre mächtig stolz darauf, wenn du zusähest. Ich würde gewinnen, glaube ich, wenn du zusähest und alles verständest. Das sollte ein Kampf werden, glaube mir. Und merkwürdig, ich habe noch nie in meinem Leben gewünscht, dass eine Frau mich kämpfen sehen sollte. Sie schreien und kreischen und verstehen nichts davon. Aber du würdest es verstehen. Sicher, du würdest es verstehen.«
Als sie kurz darauf in die Talsohle einbogen und durch die Rodung fuhren, wo die Bauernhöfe lagen und das reife Getreide golden im Sonnenschein stand, wandte Billy sich wieder zu Saxon.
»Sag mal, du bist natürlich oft verliebt gewesen. Wie ist es damit?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich bildete mir nur ein, verliebt zu sein, und nicht oft!«
»Doch, oft!« rief er.
»Nie im Ernst«, versicherte sie, während sie sich im stillen über die Eifersucht freute, die er, ohne es zu wissen, verriet. »Ich bin nie im Ernst verliebt gewesen. Wäre ich es, dann würde ich jetzt verheiratet sein. Denn wenn ich in einen Mann verliebt wäre, was sollte ich anders tun, als ihn heiraten?«
»Aber gesetzt, er wäre nicht in dich verliebt?«
»Ach, ich weiß nicht.« Sie lächelte, aber nicht ohne ein gewisses Selbstgefühl. »Ich glaube fast, ich müsste ihn dazu bringen können, sich in mich zu verlieben.«
»Ja, das glaube ich auch«, erklärte Billy begeistert.
»Aber leider«, fuhr sie fort, »machte ich mir nie etwas aus den Männern, die in mich verliebt waren. – Ach, sieh!«
Ein Kaninchen war über den Weg gelaufen und hinterließ eine dünne Staubwolke, die wie ein Rauchstreifen den Weg seiner Flucht bezeichnete. Bei der nächsten Biegung explodierte ein Volk Rebhühner gerade vor der Nase der Pferde. Billy und Saxon brachen in lauten Jubel aus.
»Großer Gott«, sagte er, »ich wünschte förmlich, dass ich Bauer geworden wäre. Wir Menschen sind nicht dazu geschaffen, in Städten zu leben.«
»Jedenfalls nicht Menschen wie wir«, räumte sie ein. Und nach einer kurzen Pause fügte sie mit einem tiefen Seufzer hinzu: »Alles ist hier so schön. Es müsste wie ein Traum sein, sein ganzes Leben hier zu leben. Ich wünschte manchmal, ich wäre eine Indianerin.«
Billy wollte ein paarmal etwas sagen, bezwang sich aber immer wieder im letzten Augenblick. Endlich kam es.
»Aber diese Burschen, die in dich verliebt waren. Von denen hast du mir nichts erzählt.«
»Möchtest du das so gern wissen«, fragte sie. »Es hat gar keine Bedeutung.«
»Selbstverständlich möchte ich es gern wissen. Los! Erzähle.«
»Schön. Zuerst war da Al Stanley –«
»Was war der?« fragte Billy halb gebieterisch.
»Er war Spieler.«
Billys Gesicht verzog sich, und sie konnte sehen, wie sich der Zweifel in dem schnellen Blick, den er ihr sandte, sammelte.
»Ja, es ist wahr«, lachte sie. »Ich war erst acht Jahre alt. Du siehst, dass ich mit dem Anfang beginne. Nach dem Tode meiner Mutter nahm Cady mich zu sich. Er hatte ein Hotel und eine Wirtschaft. Es war in Los Angeles, ein ganz kleines Hotel, wo die Eisenbahnarbeiter und dergleichen Leute verkehrten. Und ich glaube, dass Al Stanley von ihrem Lohn lebte. Er war so hübsch und so ruhig und hatte eine so weiche Stimme. Und sehr schöne Augen hatte er und die weichsten, weißesten Hände. Ich sehe sie noch vor mir. Er spielte manchmal nachmittags mit mir, gab mir Bonbons und kleine Geschenke. In der Regel verschlief er den größten Teil des Tages. Damals wusste ich nicht, weshalb. Ich glaubte, er wäre etwas wie ein verkleideter Prinz. Und dann wurde er in der Schankstube getötet. Aber vorher tötete er den Mann, der ihn tötete. So endete diese Liebesgeschichte.
Der nächste kam, als ich das Asyl verlassen hatte – ich war damals dreizehn Jahre alt und wohnte bei meinem Bruder – wir haben seitdem immer zusammen gewohnt. Es war ein Junge, der einen Bäckerwagen fuhr. Ich traf ihn fast jeden Morgen auf dem Schulweg. Er kam zu der Zeit durch die Wood Street und bog in die Zwölfte ein. Vielleicht war es der Umstand, dass er mit einem Pferd fuhr, was mich anzog. Was es auch war, jedenfalls war ich ein paar Monate lang in ihn verliebt. Dann verlor er seine Stellung oder was sonst geschah –, jedenfalls fuhr von jetzt an ein anderer Junge den Bäckerwagen. Und wir gelangten nicht einmal so weit, dass wir miteinander sprachen.
Der dritte kam, als ich sechzehn Jahre alt war, er war Buchhalter. Es scheint fast, dass ich zu Buchhaltern passe. Der, den Charley Long überfiel, war auch Buchhalter. Diesen traf ich, als ich in Hickmeyers Fabrik arbeitete. Er hatte auch weiche Hände. Aber ich hatte bald genug von ihm. Er war – nun ja, er war so wie dein Chef. Und offen gestanden, Billy, ich war nie ernsthaft in ihn verliebt. Ich fühlte von Anfang an, dass er nicht war, wie er sein sollte. Und als ich in der Kartonagenfabrik arbeitete, glaubte ich eine Weile, in einen Kommis aus Kahns Warenhaus, du weißt, in der Elften Avenue, verliebt zu sein. Er war ungeheuer korrekt. Das eben war das Langweilige an ihm. Er war zu korrekt – gar kein richtiger Mann. Aber er wollte mich zur Frau haben. Das war mir noch nicht einmal aufgegangen. Das beweist, dass ich nicht in ihn verliebt war. Er war schmalbrüstig und mager, und seine Hände waren immer kalt und feucht. Aber du großer Gott, wie er gekleidet ging! Wie aus einem Modejournal ausgeschnitten. Er sagte, er wolle ins Wasser gehen und dergleichen, aber ich machte doch Schluss.
Und danach … ja, danach gibt es nichts mehr. Ich war vielleicht etwas anspruchsvoll geworden, aber ich traf keinen, in den ich mich hätte verlieben können. Mit den Männern, denen ich begegnete, war es eher eine Art Spiel oder Kampf. Und keiner von uns kämpfte ganz ehrlich. Charley Long, der war allerdings ehrlich, und der Bankkassierer übrigens auch. Aber die ließen mich nur desto stärker fühlen, wie schwer der Kampf war. Und alle lehrten mich, selbst auf mich zu achten. Sie taten es nicht. Das ist sicher.«
Sie hielt inne und betrachtete aufmerksam sein reines Profil, während er auf die Pferde achtete. Plötzlich sah er sie forschend an, und sie lächelte ihn schläfrig an, während sie die Arme reckte.
»Ja, das ist alles«, schloss sie. »Ich habe dir alles erzählt, was ich noch nie einem Menschen erzählt habe. Und jetzt bist du an der Reihe.«
»Da ist nicht viel zu erzählen, Saxon. Ich habe mir nie etwas aus Mädchen gemacht – ich meine, nicht so, dass ich sie hätte heiraten mögen. Ich habe mir immer mehr aus Männern gemacht – aus solchen wie Billy Murphy. Außerdem hatte ich zu viel mit Trainieren und Boxen zu tun, als dass ich Zeit gehabt hätte, mich um Mädchen zu kümmern. So sicher ich nicht ganz gewesen bin, wie ich hätte sein sollen – du verstehst, was ich meine – so sicher habe ich noch zu keinem Mädchen von Liebe gesprochen.«
»Aber die Mädchen sind doch in dich verliebt gewesen«, neckte sie ihn, während ihr Herz vor verwunderter Freude über sein keusches Geständnis schwoll.
»Nun ja, dafür konnte ich nichts«, sagte er nachdenklich. »Du weißt nicht, Saxon, wie sie einem Boxer nachlaufen. Aber der Mann, der sich so von ihnen in die Tasche stecken lässt, ist ein guter Dummkopf.«
»Vielleicht bist du ein Mensch, der sich gar nicht verlieben kann«, meinte sie herausfordernd.
»Kann sein«, lautete seine wenig ermutigende Antwort. »Jedenfalls kann ich es mir nicht gut denken, mich in ein Mädchen, das es darauf anlegt, zu verlieben.«
»Meine Mutter sagte stets, Liebe sei die größte Macht in der Welt«, sagte Saxon. »Sie schrieb auch Gedichte darüber. Einige davon wurden im ›San José Mercury‹ veröffentlicht.«