Gegenwindschiff

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Ich sollte an meine Platte denken. An meine Korrekturlinse, auf deren Konstruktion ich mich gestürzt habe, sobald ich von Cebu zurückgekehrt war und den Koffer in die Ecke sowie den Mantel auf den Garderobenhaken geworfen hatte. Ich kam die Treppe heruntergelaufen, machte vor mir die Tür des Arbeitszimmers auf und schloss sie hinter mir wieder ab und atmete die Kühle des Ölfarben- und Linoleumgeruchs meines Kellers ein. Ich hatte das Gefühl, ein Delfin zu sein (ich habe sie mir bei Hagenbeck regelmäßig in ihren Glaskästen angeschaut), ein Delfin, der bis zum Ersticken lang durch staubige Luft, die nicht zum Einatmen taugte, geschleppt worden war und endlich hierher zurückhuschen konnte – hierher, in sein heimisches Bassin. Ins Wasser. In sein eigenes Wasser.

Drei Wochen lang kam ich nur für vier, fünf Schlafstunden aus dem Wasser. Einen Happen zu essen und Zigarren brachte mir jemand aus der Werkstatt. Dusche und WC waren Gott sei Dank auch hier unten.

Einmal, das war vor dem Krieg und bevor ich Johanna kennengelernt hatte, wohnte ich in Dresden zufällig dem Vortrag eines Dichters bei. Ich weiß nicht mehr genau, wie er hieß, Hasenjäger oder so. Ebenso wenig weiß ich, wie ich dahin geraten bin. Irgendein Blaustrümpfchen muss mich da hingeschleppt haben. Jedenfalls handelte der Vortrag von der »Inspiration«. Natürlich aufgeblasen und leicht grotesk. Ein Winzling mit langen Haaren und einer großen schwarzen Fliege. Wie der Italiener, der hier bei uns im Gojenbergsweg Eis verkauft. Der Dichter erläuterte theatralisch, dass die poetische Idee an dem einen Ende göttliche Eingebung sein müsse und am anderen Ende, so ungefähr, eine nietzscheanisch übermenschliche Eingebung – so hat er sich wörtlich ausgedrückt. Rein äußerlich betrachtet war es einfach peinlich, anwesend zu sein und sich das anzuhören. Aber ein Fünkchen Wahrheit enthielt es doch. Auch was die Geburt einer technischen Idee betraf. Auch die Geburt einer technischen Idee ist nicht durch und durch rational, wenigstens braucht sie das nicht immer zu sein. Oder engen wir diese Behauptung im Interesse der Wahrheit noch weiter ein: Die Geburt meiner technischen Ideen ist nicht immer durch und durch rational.

Ich habe keine Ahnung, was echte Wissenschaftler zu diesem Geständnis sagen würden. Die ernstzunehmendsten unter ihnen müssten es zugeben. Ich glaube, dass aus ihrer eigenen Erfahrung – und da ist plötzlich wieder dieses erschreckende Gefühl, dieses beklemmende Gefühl: Woher nehme ich denn diesen Glauben? Dass wahre Wissenschaftler so wie ich denken?! Wer bin ich neben wahren Wissenschaftlern? Oh, ich weiß es doch, und wer mich nur ein wenig kennt, weiß es ebenfalls: ein halb-, ein viertelgebildeter Dorfjunge. Jawohl, mit dem unbestechlichen Blick eines Außenstehenden: ein ewiger Dilettant. Ein auswegloser Dilettant, eine Maus im Käfig ihres eigenen Dilettantismus, die keineswegs vom außerordentlichen Reichtum ihrer technischen Ideen getrieben wird – was für Ideen soll ich denn haben können, da ich nicht über genügend Kenntnisse, beispielsweise mathematisches Wissen, verfüge, um mich in sie zu vertiefen, da alle meine Ideen pure Ahnungen eines Autodidakten sind, Früchte des krankhaften Eifers eines ewigen Dilettanten, alle, bis auf die rein manuelle Exaktheit, bis auf die ehrgeizige Sorgfalt?! Und die Triebfeder dieser Sorgfalt ist nicht etwa der Druck der Ideenfülle (wie einige meiner Freunde, die genauso halbgebildet sind wie ich, mir einzureden versuchten), sondern einzig und allein meine physische Versehrtheit? Und ewiger Dilettant – mein Gott, das ist sogar ein dokumentiertes Faktum. Das habe ich so real hier in der Schublade liegen, dass ich sie gar nicht aufzuziehen brauche, um nachzuschauen, in schöner technischer Schrift auf einem Bogen Velinpapier, vergilbt, aber unauslöschlich: Hiermit wird feierlich bezeugt, dass der Studierende des Mittweidaer Technikums Bernhard Schmidt im Wintersemester 1901 zum vollberechtigten Ehrenmitglied des Technischen Dilettantenclubs daselbst angenommen worden ist. Ist das übrigens die einzige Organisation, der ich beinahe angehört habe? Und die einzige Qualifikation, die ich jemals erlangt habe – bloß ein Scherz?

Aber ich sollte an meine Platte denken. Denn ich habe sie jetzt: eine Platte aus französischem Glas mit beinahe idealen Eigenschaften, die beinahe ideal geschliffen ist. Genauer gesagt, eine Linse. Wie die rettende Eisscholle (auf der ich einmal als Zehnjähriger durch die Eissuppe bei der Kapellenlandzunge ans Ufer gelangte, sie war allerdings eher trapezförmig und kaum durchsichtig), meine Korrekturplatte wie die rettende Eisscholle, auf der man durch die Eissuppe des selbstzerstörerischen Zweifels treiben kann … Das weiß Gott allein. Aber zurück zur Rationalität und Irrationalität des Entstehens dieser Plattenidee.

Ich erinnere mich deutlich an die beiden Phasen dieser Idee. Genauer gesagt zwei Geistesblitze. Der erste war der, den das nasse und auf Druck des Sturmes trocknende Bullauge auf der Andamanensee ausgelöst hatte. Ich verstand, begriff, erkannte (ich weiß nicht, was es war), ich wusste plötzlich, dass die Linse oder eben beinahe Platte, die die Aberration beseitigen konnte, ein paar Millimeter dick sein musste. (Übrigens war die trapezförmige Eisscholle, die mich bis zur Kapellenlandzunge trug, relativ betrachtet nicht dicker.) Und ich wusste mit einem Mal auch, wie ihre Oberfläche beschaffen sein musste. Ich konnte es noch nicht mathematisch formulieren, aber die Erkenntnis war so deutlich, dass ich sogar Baade davon erzählte, als er sich von seiner Seekrankheit erholt hatte. Es kam ziemlich selten vor, dass ich etwas Derartiges sofort an einen Kollegen ausplauderte. Natürlich war das die Frucht von langer, möglicherweise jahrelanger und teilweise im Unterbewusstsein stattfindender gedanklicher Arbeit gewesen, deren Elemente sich aufgrund eines zufälligen äußeren Impulses blitzartig vereinigten. Wobei die Logik dieser Vereinigung – ich unterstreiche das gegenüber allen reinen Rationalisten –, die Vereinigungslogik selbst außerhalb des Bewusstseins stattfand. Ich weiß nicht, ob unter- oder oberhalb des Bewusstseins. Aufgrund einer ziemlich kleinen, ziemlich relativen, aber eben doch vorhandenen Sympathie für die gemäßigten Inspirationsvergötterer ziehe ich es vor zu glauben, dass es oberhalb war. Wenn das etwas bedeutet.

Der zweite Geistesblitz erfolgte hier, in meinem Keller. Anderthalb Tage nachdem ich mich hingesetzt, eine Zigarre angezündet und mir ein weißes Blatt Papier vorgenommen hatte. Da loderte in meinem Bewusstsein plötzlich wieder etwas auf, was sich im Laufe der Monate meiner Philippinenreise stockend weiterentwickelt und dann, teilweise wiederum auf dem Niveau des Bewussten, sicherlich hauptsächlich auf dem Niveau des Bewussten, aber teilweise eben auch auf einem anderen Niveau fortgesetzt hatte. Plötzlich wusste ich: Die Profilseite meiner Korrekturplatte musste zu einer Rotationsoberfläche geschliffen werden, deren Meridiankurve einer Parabel vierter Ordnung entspräche.

Jetzt kann ich sagen:

Eine solche Platte habe ich vorgestern Nacht fertigbekommen. Eine solche Platte gibt es jetzt auf der Welt. Danach schlief ich zwölf Stunden. Bloß löst die Existenz einer solchen Platte nicht annähernd das Problem. Obwohl ich sie kontrollierte: Sie funktioniert. Ich montierte sie auf unserer Sternwarte oben auf das Teleskop mit der 30-Zentimeter-Öffnung und machte fünf Fotos. Zum Glück war Sonntag. Ich holte mir die Schlüssel zum Labor und entwickelte die Aufnahmen selbst. Einfach um die Laboranten nicht in Verwirrung zu bringen. Ich muss sagen: Trotz meiner kindischen Neigung, maximale Hoffnungen zu hegen (und dahinter auf einer anderen Ebene randvoll mit Pessimismus zu sein), sind die Bilder besser geworden, als ich zu hoffen gewagt hatte. Das völlig undeformierte, vollkommen komafrei abgebildete Himmelsrund war sechzehn Grad breit. Ich erahne unendliche Möglichkeiten, wahnsinnige Möglichkeiten. Bloß selbst wenn die Frage gelöst ist, ist es doch keine richtige Lösung. Denn wenn ich das Uneingeweihten erzählen würde, klänge es einerseits wie dämliche Prahlerei, andererseits wie sinnloses Gejammer. Doch genauso verhält es sich mit der Sache. Nur zwei, drei, die wirklich Bescheid wissen, würden es glauben. Schorr zum Beispiel, der meine Arbeit lange genug und nah genug beobachtet hat.

Die Sache ist die, dass die Platte, die ich fertig geschliffen habe, so minimal von einer Platte mit planer Oberfläche abweicht, dass sie bei der Herstellung eine teuflische Exaktheit erfordert. Der Herr möge mir verzeihen, aber es ist wahr: Wenigstens momentan ist außer mir niemand auf der Welt in der Lage, eine solche Platte anzufertigen. Das Problem ist nicht das Wissen, sondern die technische Fähigkeit zur Herstellung. Niemand verfügt über die notwendige Empfindsamkeit und Genauigkeit.

Deswegen sollte ich also an meine Platte denken. Solange ich kein vereinfachtes Verfahren zu ihrer Herstellung entwickelt habe, das technisch allen zugänglich ist, bin ich ein Hexenmeister, dem niemand glaubt, weil seine Hexerei nicht im Labor wiederholbar ist.

Ach, verdammt, verdammt, ich müsste an meine Platte denken, aber ich kann es nicht. Jetzt, da es sie gibt, verschließt sie mein Bewusstsein nicht mehr vor ebendieser anderen Frage.

Ich dachte, der anderen Frage auf die alte, brutale und deprimierende, aber einfache Weise zu entkommen. Ich setzte mich in die Straßenbahn und fuhr zur Reeperbahn.

Ich erinnere mich daran, wie ich vierundzwanzig, als ich aus dem Inflationsirrenhaus Deutschland nach Hause gefahren war und auf Naissaar das Ende dieses Wahnsinns abwartete, von dort ab und an nach Tallinn fuhr. August war von seiner Fernreise in die Heimat zurückgekommen und gesellte sich im Herbst für einige Zeit zur Familie auf Naissaar. Als ich mich wieder mal zum Hafen aufmachte, um mich vom alten Küün mit dem Motorboot in die Stadt bringen zu lassen, zeterte August im Beisein der anderen Hausbewohner, dass unser Bernhard in Tallinn eine feste Braut haben müsse, wenn er so regelmäßig und treu und ungeachtet des schlechten Wetters den Weg zur Stadt auf sich nehme. Ich brummte daraufhin, augenscheinlich ein bisschen prahlerisch und lauter als nötig: »Was heißt hier Braut. Reguläres Flintenputzen, weiter nichts.«

 

Ich fasste das als rein mechanische Angelegenheit auf. Und erledigte sie bei der Kellnerin einer Damenbar in einem alten Haus in der Kompass- oder Hahnenstraße ohne psychische Komplikationen. Ich sage ohne trotz der Tatsache, dass ich damals Johanna schon kannte. Aber auf einem solchen Niveau konnte mich unsere Bekanntschaft noch nicht binden. Oder hätte sie es doch können? Oder gar müssen? Wenn ich ein Mann von ernsthafterem Charakter gewesen wäre? Von reinerem Charakter? Hm.

Johanna war noch eine kleine Krabbe, als wir uns kennenlernten. Gut, keine Krabbe, aber doch kaum siebzehn Jahre alt, soweit ich mich erinnere, und in der Prima des Gymnasiums von Mittweida.

Ich war zurück aus dem Internierungslager. Seit einem Jahr in Mittweida. Wo hätte ich sonst hingehen sollen? Der Krieg war zu Ende. Waffenstillstand war geschlossen. Der Kaiser nach Doorn geflohen. Der Aufstand in Berlin war vorüber. Aber die alte Welt war doch kaputt. Nur einige ihrer Elemente waren noch da. So wie mein Zimmer bei Frau Knechtel. Ich hatte meinen Unterschlupf an meinem vertrauten Ort und versuchte, mich an die neuen Sorgen zu gewöhnen. Zwischen dem Anstehen für Brot und dem Anstehen für Kartoffeln (Anstehen für Fleisch erübrigte sich, da es kein Fleisch gab und ich ohnehin Vegetarier bin) musste man sich etwas ausdenken, um sich das ständig wertloser werdende bisschen Geld zu verdienen, mit dem man sich anstellen konnte. Was das Interesse der Menschen oder Einrichtungen an der Astro-Optik betrifft, hatte ich zeitweise das Gefühl, diesem Interesse einst in einem lächerlichen Traum begegnet zu sein. Also reparierte ich für Geld alle möglichen Geräte, ein paar Kinematografen, ein paar Chronometer, ein paar Amateurmikroskope (Amateurteleskope gab es meines Wissens zur damaligen Zeit in Mittweida nicht) und ein ziemlich großes Schulmikroskop. Gleichzeitig holte ich meine eigenen Beobachtungsinstrumente aus den Kisten von Frau Knechtels Dachboden, sie hatten den Krieg gut überstanden, und Gärtner Hetzger, ein freundliches Väterchen, gestattete mir, sie erneut auf seinem Grundstück aufzustellen. Von meinen zwei Beobachtungshütten hatte er nur eine in der Zwischenzeit zu Anmachholz für den Herd verarbeitet, damit er sich seinen Ersatzkaffee kochen konnte, die zweite war noch da. Wegen des Mikroskops, das im Mädchengymnasium im Naturkundeunterricht verwendet wurde, besuchte ich auf Einladung des Lehrers die Schule. Die heutigen Abiturientinnen waren noch kleine Mädchen, als ich sie das letzte Mal auf den Straßen von Mittweida herumspringen sah, und ich kannte sie weder damals noch jetzt. Aber in so einer kleinen Stadt schien sich so manche an den damaligen Linsenschmidt zu erinnern. Möglicherweise war das eine oder andere Mädchen als Grundschülerin in meine Himmelskundestunden geraten. Jedenfalls kamen jetzt drei mir völlig wildfremde Täubchen aus der Abschlussklasse zu Frau Knechtel, um das von mir reparierte Mikroskop wieder in die Schule zu schleppen, und fragten, ob ich nicht bereit wäre, ihrer Klasse in Hetzgers Garten an einem Abend einmal den Sternenhimmel zu zeigen.

Eine Absage hätte bedeutet, dass ich vor Mädchen Angst habe. Das als Erstes. Zum Zweiten hätte ich bei einer Absage Abschied genommen von meiner uralten Gewohnheit des Himmelskundeunterrichts, selbst wenn man in kaum einer von ihnen eine künftige Astronomin sehen konnte. Drittens war es die erste Interessenbekundung am Sternhimmel, die mich in der Nachkriegszeit erreichte. Warum sollte ich das ausschlagen? Wenngleich ich früher meinen Himmelskundeunterricht hauptsächlich Kindern erteilt hatte. Ich antwortete, ich sei einverstanden.

Am übernächsten Abend, einem stockdunklen, mondlosen und sternenklaren Novemberabend mit leichtem Frost, kam die Klasse gegen neun Uhr in Hetzgers Garten. Tja, vor zwanzig beinahe ausgewachsenen Mädchen fühlte ich mich ein bisschen merkwürdig, das will ich gar nicht verhehlen. Für mich wäre es einfacher gewesen, wenn ihre Naturkundelehrerin mitgekommen wäre. Vor vier Jahren, vor dem Krieg, oder noch vor einem Jahr, vor Deutschlands endgültigem Zusammenbruch, wäre im kaiserlichen preußisch-sächsischen Mittweida die Anwesenheit der Lehrerin das einzig Denkbare gewesen. Aber ich sagte bereits, die alte Welt war zusammengebrochen, bloß einige ihrer Elemente waren erhalten geblieben, und die Verpflichtung, dass junge Damen der Abschlussklasse eines Gymnasiums zum Himmelskundeunterricht des Linsenschmidts ihre Lehrerin mitzubringen hätten, gehörte, wie sich herausstellte, nicht zu den Dingen, die von der alten Welt bewahrt geblieben waren. Warum auch. Trotzdem kam ich mir ein wenig merkwürdig vor.

In Hetzgers Garten ließ ich sie auf den Treppenstufen des Gartenpavillons Platz nehmen. Ich muss sagen, allein die Summe ihrer Düfte (vor dem Hintergrund des Kompostgeruchs von Hetzgers Friedhofslaub) war erregend. Um etwas zu sehen, machte ich die Außenlampe an der Wand meiner Beobachtungshütte an. Kleine, undeutliche Gesichter, von der Kälte etwas zusammengekniffen, zwischen Glockenhüten und hochgestellten Mantelkragen.

Ich musste ihnen etwas erzählen, was gar nicht so leicht war. Ich durfte weder kindergartenartig noch wissenschaftlich auftreten, und ich kannte nur diese beiden Möglichkeiten. Ich musste auf einem Mittelweg improvisieren, und mit Ach und Krach gelang mir das. Ich erzählte ihnen von unserer Galaxis, der Milchstraße. Ungefähr hundert Milliarden linsenförmige Sterne, Durchmesser ungefähr hunderttausend Lichtjahre und Dicke fünfzehntausend Lichtjahre. Ich ließ sie ihr Kinn gen Himmel heben und jenen hellen Nebeldunst aufmerksam beobachten. Ich trug ihnen auf, sich vorzustellen, dass die Erde als ihr Beobachtungspunkt sich in Wirklichkeit im Inneren dieses Gebäudes befindet. Nebenbei erzählte ich ihnen von dem Missgeschick, das der griechischen Mythologie zufolge Hera widerfuhr, als sie Herakles die Brust gab, und woher unsere Galaxis ihren Namen bekam. Und fügte hinzu, während mein Blick an dem ernsten Gesicht eines Mädchens hängen blieb (sie war eine der drei, die bei mir gewesen waren) und ich vermutlich bestrebt war, sie zum Lachen zu bringen:

»Im Übrigen kann astronomische Bildung mannigfaltigen Nutzen haben. Zum Beispiel wenn jemand von Ihnen einmal nach Griechenland fährt. Ich bin da noch nie gewesen, würde aber gerne einmal hin. Jemand von Ihnen fährt dorthin und sieht auf der Straße ein Schild ›Galakteion‹. Dann weiß sie sofort, dass das nicht etwa ein Observatorium zur Beobachtung der Galaxis ist, sondern – was?«

Niemand antwortete. Auch das Mädchen mit dem ernsten ovalen Gesicht, an die meine letzten Sätze von der Griechenlandreise in erster Linie gerichtet waren, antwortete nicht. Ich war leicht enttäuscht und antwortete selbst:

»Ein Milchgeschäft.«

Danach schauten wir uns mit dem Teleskop die interessanteren Orte der Galaxis an. Ich lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die hellen Sternengruppen auf der anderen Seite des Schützen und auf die Doppelung des schimmernden Bandes vom Schwan bis Zentaur. Sie konnten es nur einzeln durchs Teleskop betrachten, und von Zeit zu Zeit warf ich zur Kontrolle einen Blick hinein. Sodass mein Jochbein die kühle Rötung ihrer wechselnden Gesichter verspürte. Als jenes Mädchen, auf dem mein Auge aus irgendeinem Grunde hängengeblieben war, an das Teleskop trat, erklärte ich ihnen, aber hauptsächlich ihr: Praktisch die ganze Welt mit europäischer Kultur nennt unsere Galaxis Milchstraße, so auch die Deutschen. Aber auf der Insel, von der ich stamme, in Estland, auf Naissaar, in der Ostsee hieße sie »Linnutee«, was Vogelstraße bedeute. Denn die estnische Sprache stellt sich vor, dass die Vögel im Herbst über diese Straße nach Süden ziehen und im Frühjahr zu uns zurückkommen und jeder Vogel seinen Platz wiederfindet.

Mir scheint, wenigstens nun, zehn Jahre später will mir scheinen, dass meine Stirn ihre Haarlocke berührte, als ich mich zum zweiten Mal zum Okular bückte, während ich hinter dem Mädchen am Teleskop stand.

Am übernächsten Tag brachte mir die Post einen Brief zu Frau Knechtel. Einen kleinen bläulich-rosa Umschlag, der nach dem Kölnischwasserduft eines in einem winzigen Ridikül getragenen Taschentuchs duftete und in dem ein Zettel mit den kindlich-klaren und erwachsen-sicheren Zeilen war:

Sehr geehrter Herr Bernhard Schmidt!

Dürfte ich Freitagabend um sieben Uhr bei Ihnen vorbeikommen? Ich bräuchte dringend Ihren Rat in Fragen des Astronomiestudiums.

Im Voraus dankend

eine Ihrer Zuhörerinnen vom gestrigen Abend.

Sie dankte mir im Voraus – also konnte ich am Freitagabend um sieben Uhr nicht abwesend sein. Außerdem wusste ich im Vorhinein, dass es sich um sie handeln musste, dasselbe Mädchen, der ich die Galaxis als Vogelstraße erläutert hatte. Und sie war es, Johanna.

Sie kam exakt zur versprochenen Zeit. Nicht etwa mit dem draufgängerischen Mut der Nachkriegsjugend alleine, sondern provinziellanständig zu zweit. Sie hatte ihre Banknachbarin Hilde bei sich. Aber sie tat nicht, was ein listigeres und mit mehr Schauspieltalent behaftetes Mädchen an ihrer Stelle sicherlich getan hätte: Sie probierte nicht, besagte eckige und sommersprossige Hilde in den Vordergrund zu schieben, damit diese sich mit mir abgäbe und unterhielte, während sie hinter dem Rücken der anderen Teilnahmslosigkeit simulierte.

Sie stützte ihre für ein Mädchen auffällig großen, aber schönen und schmalfingrigen Hände entschlossen auf den Rand meines Arbeitstisches und brachte ihr Anliegen vor. Sehr ruhig, sehr klar, wenngleich sie langsam leicht errötete, vielleicht weil ich ihr einfach zuhörte, ohne sie zu ermutigen. Denn auf welche Art hätte ich das tun können? Zumal ich überhaupt nicht ausmachen konnte, in welchem Ausmaße ihre Geschichte aufrichtig und ernst war, und in welchem Ausmaße – oder ob überhaupt – es raffiniertes weibliches Spiel war. Ich begriff das absolut nicht. Wie ich es eigentlich bis heute nicht weiß …

Sie war die Tochter eines Schulmeisters aus einem Dorf ein Dutzend Kilometer nördlich von Mittweida. Ihr Vater war zehn Tage vor Inkrafttreten des Waffenstillstands bei Valenciennes gefallen. Und er wünschte sich, ich glaube für einen deutschen Dorfgelehrten war das ein durchaus seltener Wunsch, dass seine Tochter aus dem Kinder-Küche-Kirche-Teufelskreis ausbrechen und eine Hochschulbildung erhalten sollte. Im nächsten Herbst wollte Johanna zum Physikstudium an die Berliner Universität. Innerhalb der Physik speziell Astronomie und Kosmografie. Ihre Antwort auf meine Frage, warum sie gerade das studieren wolle, ließ mich in ihrer kindlichen Aufrichtigkeit schmunzeln: Erstens, weil es der Wunsch ihres Vaters war. Er war der Meinung gewesen, dass Astronomie und Kosmografie von allen Fächern am unabhängigsten sind. Hier, das muss ich sagen, empfand ich eine unerwartete, verbindliche Nähe zu ihrem mir unbekannten Vater, der in einem Massengrab an der Schelde verschwunden war. Zweitens würde sie selbst, Johanna, genau der gleichen Meinung sein. Sodass sie in glücklichem Einvernehmen mit dem Wunsch ihres Vaters Gymnasiallehrerin für Astronomie und Kosmographie werden wollte. Von mir nun erbäte sie sich Rat, was sie während ihres letzten Schuljahres neben den Dingen für die Schule noch lesen und tun sollte, um in Berlin gleich zu Beginn ihres Studiums festen Boden unter die Füße zu bekommen. Das zum einen. Zum anderen (und das überraschte mich noch mehr, weil es so durchdacht und gleichzeitig unvermutet war): Sie habe sich überlegt, dass keineswegs garantiert sei, dass sie – selbst wenn sie den Stoff meistern und die Universität erfolgreich abschließen würde – als Lehrerin sofort Arbeit finden würde. Auf längere Sicht gewiss. Aber zu Beginn, ohne Bekanntschaften und ohne Protektion, wer weiß. Die Schulverwaltungen würden, wie man sich erzählte, in Deutschland ziemlich reaktionäre Orte sein, und auf einem mehr oder weniger mathematischen Gebiet hält man eine Lehrerin im Voraus für schwächer als männliche Kandidaten. Aber für sie, Johanna, und noch mehr für ihre Mutter, bedeutete schon der Universitätsbesuch eine erhebliche Anstrengung. Da ihre Mutter in ihrem Flecken, in Erlau oder Crossen oder wo auch immer, Kassiererin in einem Bekleidungsgeschäft war und mit Mühe hundert Mark im Monat verdiente. Weswegen sie, Johanna, zunächst einmal einen Beruf erlernen musste, um während des Studiums und notfalls noch danach ihr Brot zu verdienen. Sie aber finde (und gerade das war das Glied in ihrem Gedankengang, das mich überraschte), dass es vernünftiger wäre, wenn sie nicht auf Weißnäherin oder Ladenverkäuferin lernte, sondern etwas zu erlernen versuchte, was irgendwie mit ihrem gewählten Gebiet, also Astronomie und Kosmographie, praktisch verbunden wäre. Wie beispielsweise eine Klavierspielerin, solange sie als Pianistin keinen Erfolg hat, als Klavierstimmerin über die Runden kommt. Nun befinde sie sich schließlich in der glücklichen Lage, dass hier in Mittweida einer der – sie selbst würde das kaum zu behaupten wissen, aber man habe das ihr gegenüber behauptet – derzeitigen Großmeister der deutschen Astro-Optik wohnte. Nämlich ich. Ihre, Johannas, Frage und Bitte sei nun die folgende: Ob ich nicht bereit wäre, ihr Unterweisung im Schleifen optischer Gläser zu geben?

 

Ich fragte, ob sie der Meinung sei, als Glasschleiferin in Deutschland konkurrenzfähiger zu sein denn als Gymnasiallehrerin. Sie antwortete, dass das zweifellos der Fall sei. Denn Kosmografie und Astronomie seien Wissenschaften, und in der Wissenschaft würde man eine Frau nicht für mitsprachefähig halten, höchstens bis zum Niveau einer Gymnasiallehrerin. Die Glasschleiferei aber sei eine Kunst, und in der Kunst werden Frauen für etwas tauglicher angesehen als in der Wissenschaft. Die Hauptsache aber sei, dass tatsächlich viele der Meinung seien, Glasschleiferei sei reines Handwerk. Auf handwerklichem Gebiet aber seien die Vorurteile gegenüber Frauen noch geringer.

Ich weiß nicht, was letztlich den Ausschlag für mein Einverständnis gab. Nicht Nein sagen zu können, ist an sich nicht meine Art. Meiner Meinung nach bin ich mein Lebtag fähig gewesen, angenehm anmutende Vorschläge ziemlich brüsk abzulehnen, wenn sie nach meiner Einschätzung sinnlos oder langweilig waren. Womöglich wollte ich wirklich den Versuch unternehmen, dieses Mädchen zu einer guten Glasschleiferin zu schulen. Oder war das, Gott weiß, bei meiner Entscheidung bloß eine Sache im Hintergrund? Während mir im Vordergrund mein Instinkt einflüsterte: Hier eröffnet sich die Gelegenheit, echte Nähe zum weiblichen Geschlecht zu erlangen. Eine ganz andere als dein bisheriges erbärmliches Flintenputzen. Echte Nähe, ohne deren Vorhandensein im Leben eines Mannes das Wesentlichste fehlt, sosehr er es abstreiten mag … Gott weiß. Jedenfalls antwortete ich Johanna mit einem leichten Schulterzucken, wir könnten den Versuch ja unternehmen.

Ich wollte ihr von Anfang an nichts vormachen. Ich sagte ihr, dass ich größtenteils Autodidakt war und mir hinsichtlich ihrer Vorbereitung auf die Universität erst einmal Material beschaffen müsste. Und das tat ich. Ich bestellte mir in Leipzig das neueste Heft der »Mitteilungen für Studierende« und legte ihr die Lehrpläne, Dozentenverzeichnisse und Listen mit den Studenten anbefohlener Literatur für Astronomie und Kosmografie sowie die darum herumgruppierten Fächer aus dem physikalischen Bereich im Umfang des ersten Studienjahres auf den Tisch. Wir trafen eine vorläufige Auswahl, und Johanna machte sich an die Arbeit. Ich muss zugeben, all das erforderte meinerseits eine Woche intensiver Arbeit. Außerdem vereinbarten wir, dass Johanna zwei Abende in der Woche zu mir in die Werkstatt kam und Praxisunterricht erhielt. Ich zeigte ihr die Verwendung von Eichmaß und Mikrometerschraube. Ich lehrte sie die Schleifbank zu bedienen und drückte ihr verschiedene Poliergläser in die Hand und erklärte ihr, wie man mit ihnen arbeitet. Und die Hauptsache: Ich brachte ihr bei, bei der Arbeit ihrer eigenen Hand zuzuhören, also die Reaktion der zu schleifenden Oberflächen so aufmerksam und feinfühlig zu beobachten, wie es nur ging. Wie ich es ausdrückte: der Sprache des Glases lauschen. Wenn sie im Zusammenhang mit den Büchern, die sie auf meine Empfehlung hin las, Fragen hatte, erörterten wir diese gemeinsam.

Was für eine Schülerin war sie? Nun, ich würde sagen, ein Geist ohne besonderen improvisierenden Glanz. Aber weiblich konsequent. Weiblich sorgfältig. Sodass ihr ruhiger Fortschritt bei der Aneignung des Erstsemesterstoffs in den Fächern Mathematik, Physik und Optik vollkommen den Erwartungen entsprach. Nur die Exaktheit ihrer Reaktionen bei der tatsächlichen Schleifarbeit bereitete mir eine kleine Enttäuschung. Denn von einem dermaßen aufmerksamen und strebsamen Mädchen, wie sie es war, hätte ich mehr erwartet. Aber wer weiß, mag sein, dass ich zu viel erwartete. Offenbar.

Übrigens ließ die Frage der Bezahlung meines Unterrichts die Sache beinahe platzen. Ich konnte doch kein Geld annehmen, zumal ich wusste, in was für knappen Verhältnissen sie lebte. Schließlich fanden wir eine Lösung: Sie ging mir in der Werkstatt als Angestellte zur Hand. So steckt beispielsweise in dem Uranostat, das Schorr bei mir für die Hamburger Sternwarte bestellte, ein wenig auch Johannas Arbeit. Denn zweit- und drittrangige Operationen bekam sie ganz gut hin. Sie sägte mit beinahe akzeptabler Exaktheit Elemente der Stützkonstruktionen aus Holz und Sperrholz zurecht und reinigte und lackierte sie. Und dergleichen mehr. Sie führte das alles delikat genug aus, ohne die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass solche manuelle Tätigkeiten für sie einfacher waren als für mich. Jedenfalls hatte ich bis zum Frühling nicht den geringsten Verdacht, dass ihr Lerneifer möglicherweise vielmehr – nun, sprechen wir es aus – das geheime Ziel hatte, sich mir anzunähern. Nicht den geringsten Verdacht, nicht einmal im Zusammenhang mit dem »Geschenk«, das sie mir zu meinem einundvierzigsten Geburtstag machte.

Ich vergesse meinen Geburtstag notorisch. In meiner Kindheit dachte meine Mutter immer daran. Egal, ob es sich um Augusts oder Olgas oder Bertas oder meinen handelte, immer waren am Morgen Wacholder- oder Kiefernzweige mit einem roten Band um die Stuhllehne des Geburtstagskindes gebunden. Wenn sich das Geburtstagskind sein Gesicht gewaschen hatte und am Tisch erschien, legte Mutter ihm ihre Hand auf den Kopf und wünschte ihm alles Gute zum Geburtstag. Danach taten es die anderen Familienmitglieder. Außerdem stand beim Gerstenbreiteller und dem Strömlingsbutterbrot neben der Kaffeetasse des Geburtstagskindes ein Stück Blaubeerkuchen, den Mutter gebacken hatte. Geschenke waren nur an besonderen Geburtstagen Mode. Jedenfalls erinnere ich mich an zwei fantastische Bücher, die Mutter mir schenkte, das erste zum zehnten, das zweite zum sechzehnten Geburtstag. Übrigens kommt es mir im Nachhinein wie ein Wunder vor, dass sie daran dachte, mir zum zehnten Geburtstag etwas zu schenken. Denn genau zu der Zeit war Vater todkrank. Es war »Das Neue Universum«, ein gebundenes Buch mit goldenen Buchstaben, viele hundert Seiten dick, mit großartigen, teilweise farbigen Bildern, das die neuesten Errungenschaften der Technik vorstellte. Ein zweites solches Buch, bloß fünf Jahre neuer, schenkte sie mir sechs Jahre später. An die Geschichte dieses zweiten Geschenks erinnere ich mich genau. Mutter hatte es im Herbst gekauft, als ich nach meiner Handamputation zur Genesung im Hospital lag. Als sie es mir im März am Morgen meines Geburtstages überreichte, fragte ich, wann sie sich das besorgt habe. Denn die Meerenge war in dem Jahr lange Zeit voller Treibeis, und wochenlang war niemand in die Stadt gelangt. Und da sagte sie eben, es bereits im November in Tallinn bei Kluge gekauft zu haben. Ich verstand ihren Gedankengang voll und ganz. Sie hatte selbstverständlich bemerkt – wir haben im Laufe der Jahre wiederholt darüber gesprochen –, wie sehr mich das erste Buch dieser Art begeistert und interessiert hatte. Wie ich durch dieses Buch meine Talente erkannt hatte und danach bis zum Unfall ein ganz technikversessener Junge war. Jahrelang. Nach Wissen und Überzeugung der ganzen Familie und des ganzen Dorfes. Mit all meinen selbstgebauten Fotoapparaten und Fernrohren und dem anderen Kram. Der Unfall hatte das alles mit einem Schlage zunichtegemacht. Es war mehr als sonnenklar: Was für ein Techniker kann ein Junge ohne seine rechte Hand werden? Ein Techniker war vor allem jemand, der etwas machte. Ich erinnere mich, dass ich nach der Amputation eine Woche in dem unglücklichen Hospital gelegen hatte. Das zunächst hohe Fieber ging allmählich zurück, aber Mutter war noch jeden Tag stundenlang bei mir. Dann kam Onkel Frans uns besuchen. Er wusste natürlich schon, wie es um mich stand. Er hatte wieder einmal ein Schiff, diesmal ein holländisches, in den Hafen gelotst und dafür einen Fünfundzwanziger eingeheimst und eine Flasche Gin obendrein. Mutter saß auf dem Stuhl am Bett und las mir etwas vor, und damit in Wirklichkeit gleichzeitig den übrigen elf Patienten im selben Krankenzimmer. Da marschierte Onkel Frans in seinen hohen geteerten Schaftstiefeln mit seiner Schiffermütze in der Hand ins Zimmer. Er setzt sich auf meinen Bettrand. Er schmunzelte mir mit seinem roten Mund tröstend-traurig aus seinem vertrauten grau-schwarz melierten Bart heraus zu und legte mir eine große Tüte mit Karamellbonbons in den Schoß, das schon, aber was er dazu sagte, war Folgendes: