Seerosenland

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Seerosenland
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J.C.Caissen

Seerosenland

Impressum

Texte:

Copyright: © J.C.Caissen

Umschlaggestaltung:

Copyright: © 2017 Cornelia Ahlberg

Verlag:

Cornelia Ahlberg,

Taffelgränd 24, 17556 Järfälla Schweden

eracorn@gmail.com

Vorwort

Wenn die Straßen immer schmaler und immer leerer werden, der Wald immer dichter, die Aussicht bis an den Horizont immer schöner, wenn rechts und links vom Weg die Kühe auf den hügeligen, satten Wiesen grasen, wenn die Pferde wild über die Koppeln jagen und die Schafe zusammen in großen weißen Flocken

im Schatten liegen und wiederkäuen und der Bauer mir vom Feld zuwinkt, dann weiß ich, dass unser Landhaus nicht mehr weit entfernt ist.

Dieses Buch ist meinem Sohn gewidmet.

Inhaltsverzeichnis

Seerosenland 1

Impressum 1

Vorwort 2

Kapitel 1 5

Kapitel 2 17

Kapitel 3 24

Kapitel 4 31

Kapitel 5 36

Kapitel 6 42

Kapitel 7 50

Kapitel 8 55

Kapitel 9 62

Kapitel 10 66

Kapitel 13 73

Kapitel 14 79

Kapitel 15 89

Kapitel 16 94

Kapitel 17 99

Kapitel 18 106

Kapitel 19 115

Kapitel 20 126

Kapitel 21 136

Kapitel 22 152

Kapitel 23 160

Kapitel 24 179

Autor 187

Seerosenland 188

Kapitel 1

„Das ist es, André. Das und kein anderes.“

Corinna läuft noch einmal vom Haus über das große Grundstück hin zur Treppe, die über zehn Stufen den Hang hinunter an den eigenen Bootssteg und den See führt. Das ist einfach hinreißend. André ist nicht ganz so enthusiastisch wie Corinna. Er muss das Gesehene erst einmal verarbeiten, und das kann dauern. Corinna sieht immer gleich auf einen Blick, ob die Details stimmen oder nicht, ob das Haus, die Gegend, das Grundstück, ihren Erwartungen entsprechen. Sie haben über den Verkauf ihrer Motoryacht nachgedacht. Seitdem haben sie sich vier Sommerhäuser angesehen. Die aufwendigen und immer erforderlichen Wartungsarbeiten an der Yacht, vor allem im Frühjahr und vor dem Winter, waren ihnen mittlerweile zu anstrengend geworden. André wollte es sich eigentlich nicht eingestehen, aber Corinna merkte, dass er mit seinen sechzig Jahren nicht mehr so flott und behände wie früher die Treppe zur Flybridge hochstieg, um dann dort oben, sechs Meter über dem Boden, auf der Reling balancierend, das stabile Aluminiumgestänge für das Winterdach zusammenzuschrauben. Gemeinsam hatten sie nun schon fast zwanzig Jahre ihre Freizeit im Boot und auf dem Wasser verbracht. Und André hatte in seiner ersten Ehe auch schon gut zehn Jahre lang jedes Wochenende im Boot zugebracht. Wunderschöne Jahre hatten sie gehabt, in denen André Corinna die einmalige Natur Schwedens gezeigt hatte und Corinna sie wirklich kennen- und lieben gelernt hatte. So eine faszinierende, vor allem aber unberührte und stille Natur kannte sie nicht aus ihrer Heimat Deutschland. Ziemlich genau zwanzig Jahre war es jetzt her, dass sie den Schweden André beruflich auf einer Tagung kennengelernt hatte. Sie arbeiteten in derselben Firma. Corinna in einer der deutschen Niederlassungen, André in einer schwedischen. Und nach knapp einem Jahr des Hin- und Herfliegens, hatte Corinna dann in Deutschland alles aufgegeben. Zusammen mit ihrem Sohn Dennis war sie nach Schweden gezogen, um gemeinsam mit André ein neues Leben anzufangen. In den vergangenen Jahren hatten sie erst Andrés Boot gegen ein größeres und dann auch das zweite gegen ein noch größeres, sehr komfortables eingetauscht. Jede Minute in dieser großen Motoryacht, die man in Schweden bescheiden einfach Boot nennt, hatten sie draußen in den Ostseeschären genossen. Sie waren einfach verliebt, glücklich und unbeschwert da draußen. Sie suchten sich

immer eine der unzähligen Inseln aus, an denen sie anlegten und dann dort das Wochenende oder mehrere Urlaubstage verbrachten. Drehte der Wind, war es auch Zeit, den Standort zu wechseln, damit das Boot wieder still lag. Andere Freizeitsegler steuerten 'ihre' Insel nicht an, das gebot einfach die schwedische Höflichkeit, sondern man suchte sich eine andere, freie Anlegestelle. Im Sommer hatten sie immer eine Insel nur für sich allein. Mit dem Herbst und dem Ende der Bootsaison und schließlich dem Winter gehörte ihnen fast das ganze Inselmeer. Nur sehr wenige Boote begegneten ihnen, und die Inseln und Inselchen versuchten, sich unter einer weißen Schneehaube zu verstecken. Es war eine faszinierende Landschaft, mit den langgestreckten weichen, grauen Felsen, Zeugen der Eiszeit, und den bizarren Krüppelkiefern, die aufgrund ihrer Statur den eisigen Winden hier draußen standhalten konnten. Es war nicht ganz ungefährlich, hier völlig allein herumzuschippern. Es konnte Stunden dauern, bis hier Hilfe kam, wenn man denn überhaupt in der Lage war, welche herbeizurufen, denn die Zeit der Handys war anfangs noch nicht gekommen. Allerdings gab es ein VHF Radio an Bord, und die Bedienung dieses Gerätes war das erste, was André Corinna beibrachte. Aber wenn man frisch verliebt ist, fühlt man sich jung, stark und furchtlos. André und Corinna genossen einfach die gemeinsame Zeit, die Natur und das Wetter, egal ob Sonne, Regen oder Schnee, hautnah. Stunden brachten sie zu, bei Wind und Wetter in dem mitgeführten kleineren Beiboot mit Außenbordmotor, das gleichzeitig Leben retten konnte, falls auf dem großen Boot ein Brand ausbrechen sollte, zu fischen. André zeigte Corinna immer wieder neue, sichere Fischgründe. Und Corinna, die vorher in Deutschland nie gefischt oder geangelt hatte, entwickelte einen freudigen Ehrgeiz, der auch immer mit gutem Fang reichlich belohnt wurde. André saß dann abends immer mit seiner Pfeife und einem Glas Wein am Felsen, an dem das Boot verankert lag, und räucherte die zuvor ausgenommenen und gereinigten Fische. Ein ungeheuer faszinierendes, schönes und romantisches Erlebnis, das Corinna für immer in ihrem Herzen tragen würde. Diese völlig einsamen Abende unter sternenklarem Himmel, an denen das Wasser die Rufe der Wasservögel von weit her zu ihnen hinüber trug.

Doch jetzt ist es Zeit für eine Veränderung, auch wenn André sich nur schwer mit dem Gedanken anfreunden kann, nicht mehr hinauszufahren in sein geliebtes Inselmeer, dem Archipelago von Stockholm. Corinna weiß, er wird sich erst dann von der Yacht trennen wollen, wenn sie eine schöne Sommerstelle gefunden haben, die natürlich am Wasser liegen muss. Natürlich gibt es Häuser am Wasser, doch sie sind teuer, viel zu teuer für Corinna und André als Zweithaus. Aber irgendwo im Wald zu sitzen und auf eine Wiese zu gucken, das war einfach undenkbar für André. Er würde eingehen wie eine Primel ohne sein Wasser. Die Weite der Ostseeschären mit ihrem kristallklaren Brackwasser und der vielfältigen, sehr eigenen Fauna, das war seine Welt. Aber irgendwo muss er jetzt auch zu Kompromissen bereit sein. Ein Haus in den Schären ist einfach unbezahlbar. Ja, mit den bisher besichtigten Objekten bewegen sie sich schon so ziemlich am oberen Limit dessen, was sie bezahlen können. Und alle Objekte waren eine Enttäuschung gewesen. Irgendwo musste ja der Haken für den günstigen Preis sein. Entweder konnte man das Wasser nur weit entfernt und hinter dichten Bäumen erahnen oder die Häuser waren alt und muffig und sie hätten viel Geld und Arbeit investieren müssen, um einen akzeptablen Wohnstandard zu erhalten. Also kam für sie nur eine Alternative in Frage, ein Haus an einem Binnensee. Jetzt stehen sie auf dem Grundstück und schauen hinunter auf den See. „Ich möchte noch einmal alles in Ruhe anschauen. Und dann nach Hause fahren und es noch einmal durchdenken.“ Da ist er wieder, der vorsichtige Rückzieher. Corinna kennt das schon. André würde sich, erst einmal wieder daheim, dann doch nicht entschließen können, das Haus zu kaufen. „Natürlich müssen wir noch einmal alles kritisch anschauen, aber ich möchte auf jeden Fall unser Interesse beim Makler anmelden. Schau mal, wie viele Leute hier durch das Haus laufen und wie viele sich schon beim Makler eingeschrieben haben.“ Der Makler ist gerade wieder mit einem Paar in ernster Diskussion. Dieses Haus ist einfach perfekt. Riesiges Grundstück, zur einen Seite direkt an einem Wald, also keine Nachbarn. Zur anderen Seite, mit gutem Abstand zur Grundstücksgrenze, ein weiteres Sommerhaus und nach Angaben des Maklers, bewohnt von einem älteren Ehepaar, Ornithologen, also keine Krachmacher.

Corinna und André hatten den Wagen auf dem Waldweg am Eingang geparkt. Von dort sind es etwa hundert Meter bis zum Haus. Und hinter dem Haus liegt der See, direkt am Grundstück, unterhalb der Terrasse. Zu dem relativ neu gebauten Haus gehören auch noch ältere Gebäude, eine größere Werkstatt, eine Garage und ein kleines Gästehaus; perfekt, wenn die Kinder zu Besuch kommen und übernachten wollen. Auf der großen Wiese zwischen Gästehaus und Haupthaus kann man Federball spielen oder Boule oder Fußball. Und der große Rasen zwischen Terrasse und See ist einfach perfekt für ein herrliches Sonnenbad, mit Blick auf den See. Morgens steht die Sonne schon früh auf der Vorderseite des Hauses und ab mittags und den frühen Abend über scheint die Sonne auf der Rückseite des Hauses, da, wo man am liebsten mit einem guten Buch auf der Terrasse sitzt, die Vögel beobachtet und ihrem Gesang zuhört oder mit Freunden ein gutes Essen und eine Flasche Wein genießt. „Natürlich weiß ich, dass man dies hier nicht mit dem Stockholmer Archipelago vergleichen kann. Seewasser ist nun mal nicht so kristallklar und sauber wie unser Ostseewasser. Das werden wir ganz sicher vermissen.“ Corinna lässt sich auf der Bank nieder, die zum Bootssteg gehört. „Ja, das glaube ich ganz bestimmt“, meint André, „die unendliche Weite wird mir fehlen und die Sonne, die abends am Horizont über dem Wasser untergeht“. Corinna sucht nach Argumenten. Das, was André sagt, stimmt, und es gibt nur ein einziges Argument, - Geld. „Wenn du die Sonne über dem Ostseehorizont untergehen sehen willst, dann gibst du mir jetzt mal schnell sechs Millionen Kronen, die lege ich zu dem Kaufpreis für dieses Haus dazu und ich garantiere dir, dass der Makler schon morgen das richtige Haus für uns findet.“ André sagt nichts und schaut hinaus aufs Wasser. Einen guten halben Kilometer kann man hier über das Wasser sehen, mehr nicht, dann verläuft der See in einer Biegung. „Sechs Millionen weniger und du hast dieses Haus mit einem See, deinem eigenen Bootssteg und nur einer Stunde Autofahrt von daheim entfernt.“ André räuspert sich, sagt aber nichts. Schnelle Entscheidungen sind nicht sein Ding. Corinna muss da immer ein wenig nachhelfen. Aber meistens bestätigt André hinterher, dass es wieder eine gute und richtige Entscheidung war, die Corinna da vorbereitet hat.Corinna wartet, aber da kommt nichts. Sie

 

wird ein wenig ungeduldig und schließlich setzt sie ihm die Pistole auf die Brust. „Denk mal an all die anderen Häuser und deren Kaufpreis. Das hier ist so gut, dass ich es kaufen werde, auch wenn du es nicht willst. Dann kaufe ich es eben allein.“ Erstaunt dreht André den Kopf zu ihr und hakt dann nach weiterem Schweigen schließlich ein. „Naja, dann sprechen wir eben mit dem Makler und bekunden unser Interesse“.

Na, das war doch schon mal was. Gesagt, getan. Corinna schaut noch einmal über den See und atmet die Stille tief ein. Wunderschön. Motorboote sind hier nicht erwünscht, hat der Makler gesagt, deshalb ist es hier auch absolut still. Sie gehen wieder zurück zum Haus und schauen sich noch einmal um. Am anderen Ufer des Sees, hinter dem Schilf, beginnen gerade die Birken und anderen Laubbäume ihre zarten hellgrünen Blätter zu entfalten.

André sagt nichts, aber Corinna malt sich bereits aus „Und auf dem Bootssteg wirst du morgens immer deine erste Tasse Kaffee trinken. Ist doch gemütlich oder?“ André nickt und lächelt. „Ja, vielleicht.“

Viel Erfahrung hat Corinna nicht mit dem Kauf von Häusern in Deutschland, aber eins steht fest, hier in Schweden ist alles ganz anders. Hier steht nicht der Eigentümer und spricht mit den Interessenten und wählt sie aus. Im Gegenteil, es ist sogar unerwünscht, dass die Familie sich im Haus aufhält. Und der Makler richtet das Haus vor der Besichtigung eher spartanisch her, das heißt, alle persönlichen Details, wie die flauschige Sofadecke und die Kissen der Oma, die bunten Spitzendeckchen mit der Vase in der Mitte und den Plastikblumen, das verstaubte Radio und die handgestrickten Puppen auf dem Sideboard, so auch die verschiedenen Rahmen mit den Bildern der Kinder und Enkel, alles wird irgendwohin verstaut, so dass die Einrichtung einen neutralen, angenehmen Eindruck macht. Kleine Gläser mit brennenden Teelichtern werden aufgestellt. Vielleicht sogar eine moderne Vase mit frischen Blumen. Und hier befindet sich nur der Makler im Haus, der Rede und Antwort steht, und am Hauseingang stehen blaue Plastiküberschuhe, die man sich überzieht, damit man keinen Schmutz ins Haus trägt. Ansonsten bewegt man sich völlig frei im Haus. Ist man ernsthaft interessiert, bekommt man eine Broschüre mit detaillierter Beschreibung und schönen Farbfotos vom Anwesen. Man schreibt sich beim Makler in die Liste ein und bekommt den Internetcode, unter dem man das Objekt findet. Und dann geht es eigentlich erst richtig spannend los. Jetzt zählt nur noch das Geld! Der Preis, den man vorher gelesen hat, ist nur der Ausgangspreis. Schließlich beginnt die Uhr für die Ausschreibung zu ticken und einer der Interessenten legt im Internet sein erstes Gebot, das mindestens etwas über dem Ausgangspreis liegt. Dieses wird dann von einem noch mehr Interessierten überboten und so geht das munter weiter. Corinna sitzt abends gespannt und fiebernd am Bildschirm und verfolgt zusammen mit André die Gebote. Sie haben mittlerweile viel geredet und sich nun wirklich mit dem Gedanken angefreundet, dieses Haus besitzen zu wollen. Anfangs bieten acht Interessenten, man sieht nur deren Code, keine Namen. Langsam aber sicher geht der Kaufpreis nach oben. Dann fallen plötzlich zwei Interessenten weg, später nach und nach weitere vier. Jetzt gibt es nur noch einen Konkurrenten und Corinna und André im Netz. Es ist 23 Uhr und um 24 Uhr wird die Ausschreibung abgeschlossen. Corinna bietet jetzt nicht mehr weiter und läßt den Konkurrenten im Glauben, er sei jetzt der alleinige Interessent. Sein Gebot liegt wenig über ihrem. Dann schließlich um 23 Uhr 55 hebt Corinna den nervösen Zeigefinger und schreibt das nächste Gebot in die vorgesehene Zeile, drückt aber noch nicht die ENTER Taste. Vier Minuten später drückt sie ENTER und starrt gespannt auf den Bildschirm. Nichts passiert. Der andere Interessent hat den Kaufpreis nicht noch einmal überboten. Er konnte auch gar nicht, die Zeit war zu knapp. Corinna und André schauen sich an.

Das war knapp. Sollte ihnen dieser kleine Trick geglückt sein? Sie reden noch viel und können die Nacht kaum schlafen. Viel mehr hätten sie auch nicht mehr bieten können. Mittlerweile war der Preis für das Haus um fast sechzig Prozent gestiegen. Aber sie sind sich einig, das ist es wert. Am nächsten Morgen ruft der Makler an „Herzlichen Glückwunsch. Sie haben den Zuschlag bekommen“. André hat zwar früher schon mehrere Häuser in Schweden gekauft, aber da galt immer ein fester Preis, weil es Neubauten waren. Und auch Andrés und Corinnas erstes gemeinsames Haus außerhalb von Stockholm wurde zu einem festen Preis verkauft. Für beide ist also diese ganze Prozedur völlig neu und sehr aufregend. Aber jetzt ist es geschafft. Sie haben ein Landhaus. Der Vertrag mit dem Eigentümer wird unterzeichnet, die Bank stellt die finanziellen Mittel zur Verfügung und die Grundbucheintragungen werden vorgenommen.

Einen Monat später übergibt André schließlich seine geliebte Motoryacht einer Bootsfirma im Yachthafen zum Verkauf. Und glücklicherweise gilt auch hier ein ähnliches Prinzip, der Meistbietende bekommt den Zuschlag. Handelt es sich um ein wahres Qualitätsboot, wie in diesem Fall, kann man damit rechnen, dass der Verkaufserlös um einiges höher ist, verglichen mit dem Preis, den André und Corinna sieben Jahre vorher für die Yacht bezahlt haben. Und tatsächlich deckt die erzielte Verkaufssumme des Bootes den Kaufpreis für ihr neues Landhaus so gut wie ab. Ein gutes Gefühl. André und Corinna sind zufrieden und glücklich. „Das muss erst einmal gefeiert werden, komm“. André steht mit einer Flasche Sekt und Gläsern in der Küchentür und Corinna legt das Geschirrtuch zur Seite und folgt André ins Wohnzimmer. „Du hattest wieder mal Recht, es ist jetzt wirklich Zeit, an Land zu gehen.“ Corinna lächelt. Sie kennt ihren André nur zu gut.

Kapitel 2

Ein Landhaus – ihr Landhaus. Corinna hat sich vor Jahren schon in die romantischen,

ländlichen Bilder des schwedischen Malers Carl Larsson verliebt. Am liebsten würde sie das Haus in diesem Stil einrichten. Naja, vielleicht wäre das dann doch ein wenig zu romantisch oder altmodisch, aber sie strahlen eine solche Ruhe und Harmonie aus. Und genau dieses Gefühl möchte sie auch gern empfinden, sobald sie die Haustür öffnet. Corinna kennt das Landleben in Schweden ja noch nicht, aber genau so stellt sie es sich vor, harmonisch und gemütlich. Jetzt heißt es erst einmal Möbel anschaffen. Bald werden Tische, Stühle, Sofas, Betten und Gardinen ausgesucht und all die tausend kleinen Dinge, die für einen kompletten Haushalt wichtig sind. Zwar steht im Wohnzimmer schließlich auch ein blauweißgestreiftes IKEA Sofa, ansonsten hat die Einrichtung aber dann doch keinerlei Ähnlichkeit mit Carl Larssons Bildern. „Ich freue mich wahnsinnig auf unser erstes richtiges Wochenende auf dem Land. Da werde ich erst einmal alles richtig gemütlich machen.“ „Ja, und ich möchte vor allem auf der Terrasse sitzen und die vielen Vögel beobachten, die jetzt ihre Nester bauen. Hast du gesehen? Wir haben mindestens zehn Nistkästen hier rund ums Haus.“ Und mit diesen Worten war die Rollenverteilung zwischen Corinna und André auf dem Lande eigentlich schon festgelegt. Und sie sollte sich auch die nächsten Jahre nicht entscheidend ändern.

Jeden Freitag Nachmittag fahren André und Corinna nun zum Landhaus. Die Kinder gehen mittlerweile ihre eigenen Wege, wohnen nicht mehr daheim und finden es auch nicht so wahnsinnig spannend, mit den Eltern an einem See zu sitzen, an dem nichts los ist und Vögel zu bestimmen, die unweit entfernt ihr Gepiepe und Geträller von sich geben. Treu begleitet werden Corinna und André von ihren zwei Golden Retrievern, die seit einigen Jahren zur Familie gehören. Sie finden das große Grundstück, den nahen Wald und den See einfach herrlich. Freiheit pur, und für sie ist es hier auf dem Land wirklich bequemer als die langen Fahrten mit dem Boot, mit dem man nicht mal eben anhalten und das

Bein heben kann, wenn es nötig wird. Ein herrlich sonniges Frühjahr beginnt und Corinna und André bekommen die erste schriftliche Einladung zum Meeting mit den anderen Hausbesitzern der Gegend. Man teilt sich schließlich gemeinsam die Verantwortung für den schmalen Feldweg, über den die Häuser zu erreichen sind, für den kleinen gemeinsamen Sandstrand, die Badeplattform draußen auf dem See und die Sauna nahe dem Wasser, die von allen benutzt und gebucht werden kann. Die Meetings finden im Freien statt, unten am gemeinsamen Sandstrand, an den alten Sitzgruppen. Freundlich, fast herzlich, werden Corinna und André von den anderen Hausbesitzern mit Handschlag begrüßt und bevor das Meeting beginnen kann, werden Corinna und André noch einmal offiziell willkommen geheißen und gebeten, etwas über sich und ihre Familie zu erzählen. Corinna lernt, dass so eine gemeinschaftliche Verantwortung nicht ohne einen wichtigen Verein zu organisieren ist, und es gibt auch einen Vorsitzenden, der mit kerniger Stimme und Papieren in der Hand das Meeting schließlich eröffnet. André hört einfach nur zu, während Corinna von Gesicht zu Gesicht schaut und sich fast beherrschen muss, um nicht loszulachen. Warum nehmen denn das alle so furchtbar ernst? Hier hat doch jeder sein eigenes Haus und nur der banale Feldweg kann ja wohl nicht so eine furchtbar seriöse Angelegenheit sein. Aber sie beherrscht sich und lächelt nett. Der Vorsitzende hält seine Ausführungen im Stehen – wegen der Wichtigkeit und des Respekts, und als erster richtiger Meetingpunkt wird das Protokoll des vorherigen Meetings rezitiert. Es werden weitere, sehr wichtige Dinge zur Sprache gebracht, alles in getragenem Ton. „Ist die Versammlung mit Punkt 5 einverstanden?“, fragt der Vorsitzende und alle sagen laut „Ja“ und der Vorsitzende wiederholt noch einmal zum Mitschreiben, denn eine Sekretärin mit Block und Stift gibt es auch. Die sitzt neben ihm und hört aufmerksam zu, dann schreibt sie. „Die Versammlung bestätigt also einstimmig, dass...“ und so weiter und so weiter. Corinna könnte laut losprusten, aber wenn das hier so üblich ist, dann ist es eben so, und wenn sie es noch so lächerlich findet. Sie muss unbedingt später mit André darüber sprechen. Nach einer Stunde und weiteren überaus wichtigen Besprechungspunkten ist das Meeting endlich beendet und die Gemeinschaft geht zum lockeren Unterhaltungston über, einige kommen auf André und Corinna zu, fragen dies und das, na eben etwas Smalltalk. „Nett, alle sind wirklich sehr nett“, denkt Corinna. Dann beginnt der zweite Teil des offiziellen Meetings, die gemeinsamen Aufräumarbeiten. Der Vorsitzende verteilt die Arbeiten, die vorher gemeinsam beschlossen wurden. Es bilden sich kleine Grüppchen. Eine Frau kommt mit einem Farbeimer und mehreren Pinseln. „Hast du Lust mitzuhelfen?“ sie schaut Corinna direkt an. „Ja klar, was muss gemacht werden?“ „Der Bootssteg muss mit Holzöl gestrichen werden“. Während Corinna auf Knien in gleichmäßigen Pinselstrichen die Bretter einölt, denkt sie lächelnd „Diese Redewendung ist wieder so typisch schwedisch nett. „Hast du Lust...“. Was hätte sie wohl gesagt, wenn ich mit NEIN geantwortet hätte.“. Einige Männer tragen gemeinsam die Badeplattform ins Wasser und zwei andere ziehen sie mit einem Ruderboot an ihren Platz und schrauben sie am Anker fest.

Mehrere Frauen harken den Strand, der vom Herbst und Winter noch voll ist von Laub und heruntergewehten Ästen. Mit einer Schubkarre schaffen sie alles an eine freie Stelle, an der zwei Männer schon ein Feuer entfacht haben. Kinder tanzen ums Feuer herum und suchen immer wieder neue Äste, die sie ins Feuer werfen können. Kokeln ist eben etwas Herrliches und macht allen Kindern Spaß. Ein anderes Grüppchen beschneidet Büsche und wieder andere gehen zusammen mit André mit einer Schubkarre voller Kies den Zufahrtsweg entlang und füllen die im Winter entstandenen Schlaglöcher auf. Es ist schon erstaunlich, wie harmonisch und glatt das hier alles so funktioniert. Da ist niemand, der sich hervortun will und auch niemand, der sich vor der Arbeit drücken will. Alle arbeiten prima zusammen. Nach einer guten Stunde ist die gemeinsame Arbeit beendet und zwei Frauen schleppen einen Topf mit heißem Wasser und Kochwürstchen an den Tisch. Brot, Kaffee und Kuchen werden auch hingestellt. Eine Frau steht neben Corinna und meint „Das geht immer reihum. Immer ist jemand anderes für den Imbiss zuständig.“ „Prima, dann können ja André und ich das nächste Mal dran sein.“ Corinna grinst rüber zu André, der gerade in ein Brötchen mit Wurst beißt. „Mmmmh, das geht okey,“ nickt er kauend. Und weil sich das einfach so gehört, steht dann auch später im Protokoll des Meetings geschrieben „Kaffeetrinken wird beim nächsten Meeting von Corinna und André organisiert.“ Ordnung muss eben sein. Am Abend machen André und Corinna noch einmal einen Spaziergang über den kleinen Weg hinunter zu dem gemeinsamen Sandstrand, nur zweihundert Meter von ihrem Haus entfernt. Da hören sie lautes Kinderlachen in der Dämmerung und als sie um die Wegbiegung kommen, sehen sie ein Nachbarehepaar, deren Haus liegt ein wenig weiter entfernt, mit ihren Kindern, wie sie gerade alle von der Sauna über die Klippen rennen und mit einem Satz alle zusammen, sich an den Händen haltend, in den See springen, nackt natürlich, so wie es sich gehört. Jetzt platschen und juchzen sie miteinander im Wasser, beeilen sich dann aber doch, schnell wieder an Land zu kommen, denn die Wassertemperaturen sind noch empfindlich kühl zu dieser Jahreszeit.

 

André und Corinna winken kurz hinüber und drehen dann aber sofort wieder um, treten den kurzen Heimweg an, um nicht weiter zu stören.

„Ist das nicht herrlich? So muss sich Familienleben anhören“. Sie gehen langsam mit den Hunden wieder den Weg entlang und werden schließlich von den drei lachenden Kindern, eingewickelt in ihre Bademäntel, aber barfuß springend, eingeholt, mit einem „hej, hej“ überholt und bald darauf sind sie auch schon auf ihrem Grundstück und im Haus verschwunden. Corinna sieht sofort Bilder aus Bullerbü vor sich, mit Lasse und Bosse und den anderen Kindern im Dorf. Astrid Lindgren hat das Leben im kleinen Dorf Bullerbü so schön beschrieben, dass man dort am liebsten für immer wohnen möchte. „Das gefällt mir schon alles richtig, richtig gut hier“, meint Corinna und nimmt Andrés Hand. „Ja, ich bin auch zufrieden.“

Später sitzen sie in ihren dicken Fleecejacken auf der Terrasse, neben ihren Stühlen liegen die Hunde und dösen. André hat eine Petroleumlampe angezündet. Ein leichter Wind ist aufgekommen, aber Wetter kann Corinna und André so schnell nichts anhaben. Das sind sie gewohnt von ihren vielen Jahren auf dem Boot. „Meinst Du, ob unser Anker dem Wind standhält?“ fragt André aus Spaß und Corinna lacht „Wir können uns beruhigt zurücklehnen. Diese Zeiten sind jetzt ein für allemal vorbei, mein Lieber.“