Ketzerhaus

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Ketzerhaus
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Inhalt

Cover

Titel

Widmung

personis dramatae

personis historiae

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Nachbemerkung

Glossar

Weiteres zu den historisch belegten Personen

Die Frau während der Reformation

Dank

Impressum


Meinen Töchtern

personis dramatae


Elsa Mälzer Tochter des Braumeisters Johannes Mälzer
Katharina Mälzer Elsas Mutter
Johannes Mälzer Elsas Vater
Siegtraut, Anneruth, Irmel Elsas Schwestern
Andres Hinterthur ältester Sohn des Brauers Orwid Hinterthur
Johanna und Maria Andres’ Schwestern
Jost Hinterthur sein Bruder
Reinhilde Hinterthur Andres’ Mutter
Orwid Hinterthur Brauermeister
Niclas Tylike Braumeister, zweiter Ehemann der Reinhilde Hinterthur
Gunnar Tylike Niclas Tylikes Sohn und Erbe der Görlitzer Brauerei
Ignatius Weidner Druckermeister
Matthes Weidner dessen Sohn, Pastor nach Luther’scher Lehre ab 1520
Barbara Weidner des Druckermeisters Frau
Susanna Weidner deren Tochter

personis historiae

 

Andres Hinterthur im 16. Jh. einer der wenigen namentlich belegten Görlitzer Studenten zu Wittenberg
Christian Vollhardt Schwertfeger und Gassenrichter, flieht 1521 aus der Stadt
Pleban Martin Schmid gen. Faber, geistliche Spitze in Görlitz bis 1520
Pleban Franz Rupertus gen. Rothbart, tritt seine Nachfolge an, predigt die Evangelien
Rat der Stadt Johannes Haß, Stadtschreiber und Chronist; Bürgermeister: Michael Schartze (1517), Franz Schneider (1518), Peter Tyle (1519), Matthias Rosenberg (1520)
Doktor Joppener Physikus seit 1517
Valentin Trotzdendorf Unterschulmeister bis 1518
Johannes VIII. Bischof zu Meißen
Thomas Leiße Erzpriester von Görlitz
Dr. Martin Luther Theologe, Reformator, 1483–1546

1


Als unser Gott und Herr Jesus Christus sagte:

Tut Buße usw., da wollte er,

dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei.

Prolog

Görlitz, Nebelung 1517

Das Mädchen wurde von einem scharrenden Geräusch wach. Zuerst glaubte es, es sei wieder die Ratte. Eine fette Ratte hier oben unter dem Dach. Niemand schaffte es, die Ratte zu fangen. Nicht Meister Niklas, auch nicht sein Sohn Gunnar, nicht die klimpernde Reinhilde, des Meisters zweites Eheweib, und die schöne Peternelle erst recht nicht. Peternelle war die erste Magd. Das Mädchen die zweite. Keine Magd dieser Welt brachte eine so dreiste Ratte zur Strecke. Nicht die erste und nicht die zweite Magd.

Da! Da war es schon wieder, dieses Scharren, dieses Kratzen, das sich mit dem tosenden Herbststurm vermengte. Doch nun mischte sich noch ein ganz dumpfes Rumpeln unter das Übrige. Das Mädchen setzte sich auf. Das Stroh raschelte unter ihm. Es versuchte die Geräusche der Nacht besser voneinander zu trennen und zu verstehen, was sich hier oben zutrug. Auf das Rumpeln folgte träges Schleifen. So etwas brachte selbst die allerfetteste Ratte nicht zustande. Hier oben unterm Dach gab es kein Fenster, durch das der Mond einen gnädigen Lichtschimmer hätte schicken können. Einzig die Vorstellungskraft des Mädchens erhellte die Sache. Ihre Fantasie war farbenfroh und unzuverlässig wie ein Frühblüher.

Die Fingerkuppen ertasteten die rauen, knubbeligen Flicken auf der gemeinsamen Zudecke, fanden die Schultern der anderen und rüttelten so lange, bis Peternelle wach wurde. Natürlich hatte diese nur ein Murren für das Mädchen. „Lausch!“ Flüsternd reckte es den Hals in die stockdunkle Nacht. „Hörst du das nicht?“

Peternelle schnaufte wie jemand, der in tiefen Schlaf zurücksank. Mit dem jetzt sehr nahen Krachen versteifte sich Peternelles Körper. Sie rappelte sich auf. Schulter an Schulter saßen beide reglos.

„Sieh nach, was das ist!“, befahl Peternelle.

Das Mädchen zögerte. Natürlich zögerte es. Wer wollte schon mitten in der Nacht – in einer eher kalten als wohligen Nebelungnacht – mit blanken Füßen über den kalten Dielenboden tapsen, um ein unheimliches Geräusch zu ergründen? So etwas macht doch keiner!

„Na los!“, piekste Peternelles Zeigefinger sie gemein in die Seite. Ihr Tonfall war in den hohen Lagen altjüngferlich lang gezogen. Das Mädchen wusste, Peternelle würde es ihr bei nächster Gelegenheit heimzahlen, wenn es jetzt nicht gehorchte.

Während das Mädchen nun also mit den Zehen nach ihren Holzschuhen tastete, die da irgendwo neben dem Strohlager sein mussten, wurde das Rumoren auf der anderen Seite der Bretterwand, die die Mägdekammer vom restlichen Dachboden trennte, immer drängender.

Wie eine Blinde streckte das Mädchen die Arme weit von sich. Es wusste, es sind drei Schritte bis zur Wand, tastete sich bis dorthin und erstarrte wie ein Mime auf dem Marktplatz. Schritte: ganz deutlich. Und dann, keine zwei Herzschläge später, schlich ein Lichtschimmer unter und zwischen den groben Brettern der Tür hindurch. „Ich will lieber nicht …“ So ein dünnes Flüstern.

„Schau nach, was dort los ist!“ Peternelles ruppige Art mochte täuschen.

Die Jüngere legte die Hand vorsichtig auf den hölzernen Riegel. Der Riegel klemmte. Dann knarzte er, wie um gegen die nächtliche Störung zu protestieren. Es war also absolut unsinnig, sich die Mühe einer lautlosen Auskundschaftung zu machen und das Mädchen konnte da nicht ahnen, dass die Schritte genau gegenüber der Tür innegehalten hatten.

Ihr Blick fiel direkt auf das, was ganz sicher nicht für Zuschauer aufgeführt wurde. Es waren zwei, eigentlich drei, aber einer zählte ja kaum, denn er war wohl tot. Jedenfalls hingen seine Arme schlaff herunter. Der Kopf wippte mit den schlurfenden Schritten der beiden, die den dritten trugen, beziehungsweise getragen hatten, bevor das Mädchen sie dabei ertappt hatte. Und jetzt starrten die beiden verblüfft herüber.

Zuirst

wird im irsten Teyl erzeleth, wie es sich zugethragen vom Frühjahr anno 1510 bis zum Ausklang anno 1512

in der Parochie Hurke einem Flecken in

der Landvogtey Görlitz

2


Diese Worte können nicht von der sakramentalen Buße, d. h. von Beichte und der Genugtuung, die durch das Amt der Priester geübt wird, verstanden werden.

Sie trippelte auf der Stelle, als übte sie eine Courante, obwohl sie nicht wissen konnte, wie man sie tanzte. Der Sandweg war so aufgeheizt. Wenn sie nicht die Grasbüschel traf, brannten ihre Fußsohlen. Den Krug umklammerte die Kleine. Kein Tropfen durfte verloren gehen. Sie musste ihn zum Schauplatz tragen. Dort würde ihre Mutter die Brui verkaufen. Das hatte der Herr Vater so aufgetragen.

Er, Johannes Mälzer, hoffte auf das große Geschäft an diesem Tag. Einem Tag, an dem eine Schauhinrichtung für Abwechslung sorgen sollte. Das Mädchen, das behänd den Weg entlanghüpfte und das Krügelein balancierte, hatte keine konkreten Vorstellungen davon, was es bedeutete, zum Tode verurteilt zu sein. Sie hatte ihre Mutter mit den Weibern aus dem Dorf sprechen hören. Man äußerte sich erstaunt darüber, dass sich die Unholdin Margarete Rieger ausgerechnet das Wasser zu diesem Zwecke erwählt hatte. Die Kleine aber erstaunte es, dass ein Mensch nicht durch Gottes Hand, sondern durch Menschenhand hinübergeführt werden würde. Und wieso ertränken? Weil einem dann niemand beim Sterben zusehen konnte? Sie hätte niemals Ertränken ausgewählt. Das Mädchen war nicht in dem Alter, abzuwägen, auf welche Todesart ihre Wahl fallen würde. Sie war nicht in dem Alter, Vor- und Nachteile zu ermessen. Beim Erwürgen konnte man zumindest sitzen.

Am Tage Marci, dem fünfundzwanzigsten des Ostermonds, sammelte sich nun also das halbe Dorf am Fluss mit Namen Weißer Schöps und der Krug wurde schwer.

Der Schöps kam vom Süden, vom Eigen, führte dunkelgrünes Wasser, roch eigentlich nach Gras und war an einigen Stellen so tief, dass man fürchten musste, er sei von Querxen und anderen Gestalten bevölkert. Den Mälzerhof fand man am Schwarzbach im südöstlich von Horka gelegenen Mückenhain. Dort floss das Wasser stetig. Unaufgeregt.

Des Mädchens Augenmerk galt dem Krug und nichts als ihm. Das bauchige Gefäß in ihren schmalen Händen wurde immer schwerer. So schwer. Die Kostbarkeit, für die sie Verantwortung trug, war unter einem festgezurrten Tüchlein vor Schmutz und Fliegen geschützt. Ihm entströmte der saure Geruch, der überall in ihrem Elternhaus hing und legte sich über den zarten Duft der ersten Blüten am Feldrain.

Von Ferne war dies sensationslüsterne Rufen und Lachen zu hören. „Du wirst gut hinsehen, wenn es so weit ist!“, hatte ihre Mutter gemahnt. Aber noch war es nicht so weit. Vorerst machte man aus dem Spektakel ein Fest.

Der Karren mit der Hexe wurde aus Görlitz erwartet. Ehebrecherin, Mörderin hatte der Vater die Unholdin genannt. Die Frauen im Dorf soll sie verhext haben, damit die ihre Kindlein des Nachts im Bette ersticken oder sich gar von dem falschen eines machen ließen. Der Teufel hatte seine Buhlin unfruchtbar gemacht, damit ihr Mann die Ehe schied und die Hexe verbannte. So erst konnte sie ihr wahres Werk vollenden. Oben auf dem Weinberg hatte man sie zum Einsiedler gesteckt. Nur wenige Monate war sie dort geblieben. Doch der Alte hatte die Riegerin keines Besseren belehren können: Sie brachte trotzdem Bauer Rieger um. Und da für musste sie jetzt ins Wasser des Schöps’, der doch nichts dafür kann.

Ihr linker Arm war taub. Das Mädchen blieb mitten auf dem Weg stehen und stellte das kostbare Gut vor seinen Füßen ab. Und, dass du dich bloß beeilst!, hallte Vaters Stimme nach. Die Sonne stach im Nacken.

Die Kleine drehte sich um, sah zuerst die Staubwolke aufwirbeln, wie wenn die Mutter die Strohmatten ausklopfte, dann erst das johlende Rudel Halbwüchsiger nahen. Mädchen waren auch dabei. Älter als sie und ohne Krug unterwegs.

Als Nächstes spürte sie ihren Hintern im Sand aufschlagen und einen dumpfen Schmerz im Steiß. Die Horde hinterließ Fußabdrücke im knisternden Schaum, der sich zu einem Rinnsal vereinte. Aller Fußabdrücke, außer von zweien. Zwei blieben stehen, unschlüssig zwar, ob sie den anderen folgen sollten, entschieden sie sich letztlich zu bleiben.

 

„Hast du dir wehgetan?“

„Lass mich in Ruhe, Andres!“, ging das Mädchen den an, der es offenbar gut mit ihm meinte, von dem es aber keine Hilfe wollte, weil der Vater gesagt hatte, die Hinterthurs können mehr als nur Wasser kochen. Sie rückte den verrutschten Reif auf ihrem Haar zurecht.

„Ach, komm schon, Els.“ Aber Elsa begann zu weinen, weil sie sich schämte und müde war und der Krug leer. Sie weinte, wie es eben Mädchen von zehn Jahren tun. Sie hob aber nicht den Blick, sondern schaute den sich in den Staub grabenden Perlenschnüren zu, wie sie ein Löchlein, eine Unebenheit suchten, um zu versacken, und keine fanden, weil es seit Tagen nicht geregnet hatte.

Die beiden Jungen, die stehengeblieben, waren Brüder. Das schloss man aus den dunkelbraunen Strähnen im halblangen, leicht gelockten und widerborstig verknoteten Haaren und den schmalen Gesichtern. Beide guckten die Jüngere unschlüssig an. Ein weinendes Mädchen ist keine einfache Angelegenheit. So wurde sie vom Älteren, Blasseren und Unscheinbareren verunsichert, vom anderen eher belustigt gemustert.

Die Verhältnisse zwischen den Nachbarsleuten Mälzer und Hinterthur waren kompliziert. Obschon zwischen beiden Gehöften nicht nur besagter Weinberg, sondern auch der Schwarzbach, einige schmale Hufen und ein verschlungener Pfad durch ein Waldstück führten, waren es immer noch Nachbarn. Nachbarn, die einander inniglich verachteten. „Hau ab!“, schrie das Mädchen und nahm allen Mut zusammen, den Jungen ihr allerbösestes Gesicht zu zeigen. Das machte es nur noch schlimmer.

Jost, der jüngere der beiden, neigte sich zu ihr hinab. „Na komm, steh auf.“

Sie nahm seine Hand, weil er hübsch war. „Ihr könnt eurem Vater schöne Grüße bestellen, dass dem Mälzer nun der letzte Schluck ausgegangen ist!“ Sie war nur ein Mädchen, wusste aber, dass mit diesem letzten Tropfen, das Ausschankrecht ihres Vaters verwirkt und der Nächste an der Reihe war, sein Rezept anzurühren.

„Komm mit, ich hab eine Idee“, hob Jost an und bückte sich nach dem Krug. Das sture Kind in Elsa entwendete ihn ihm.

„Ich will deine Ideen nicht, ich will die Briu meines Vaters zurück!“

„Hör endlich auf zu heulen. Komm mit.“ Jost nahm entschlossen den Krug. Beide Buben schlugen dann die Richtung ein, aus der sie eben gekommen waren.

Im Abstand von fünf Fuß folgte die Kleine ihnen, denn schlimmer, als ohne Suppergeld nach Hause zu kommen, war es, ohne Geld und ohne Krug zurückzukehren.

Andres Hinterthur, zwei Jahre älter als sie, ließ sich zurückfallen und ging neben ihr her. Er war groß für sein Alter und hager. Anders als der Jüngere, der das Haar lang über die Schultern trug, verwegen wie ein Städter, reichte Andres’ Kopfkraut, das sich noch entscheiden musste, ob es einmal gelockt oder gesträhnt wachsen wollte, jedoch krumm wie Grashalme fiel, bis zu den Ohren. Während Jost Hinterthur selbstbewusst und unbehelligt vor ihnen her schritt, passte sich Andres scheinbar ihrem vorsichtigen Gang an. „Ihr führt mich ab, wie eine, die was Unrechtes gemacht hat“, murrte Elsa. Sie bekam keine Antwort vom Jungen. Jost hatte sie nicht hören können. „Euch entgeht das Spektakel!“, setzte sie gehässig einen oben drauf. „Mein Vater sagt, wer das Sempel sich nicht anschaut, wird selber zum Verbrecher.“

„Du meinst wohl Exempel. Es ist Blödsinn“, murmelte Andres.

„Willst du sagen, mein Vater lügt?“ Elsa, kühn, holte den Schritt nach links auf und rammte ihm die Schulter in den Oberarm. Vom Mädchenrempler blieb Andres ungerührt. „Nein, ich sage, dass das Zuschauen an sich schon einen schlechten Menschen aus einem macht, uns von bösen Taten aber nicht abhält!“

Elsa fiel nichts Schlagfertiges dazu ein. In Gedanken formulierte sie hässliche Verwünschungen. Der Hinterthur-Hof sollte in Flammen aufgehen, oder vom nächsten Schlossenwetter erfasst und davongeschwemmt werden. Dass Hinterthur und Mälzer die ärgsten Konkurrenten im Geschäft mit der bernsteinfarbenen Briu waren, wusste ja jeder, doch ging der Hass nicht so weit, dass sie einander Besuche abstatteten, um sich Lästereien anzutun. So aber geschah es jetzt, da Elsa Mälzer mit den Hinterthurjungen den Hinterthur-Hof betrat.

Die Buben beschieden, Elsa möge warten und verschwanden mit ihrem Krug im Pfannenhaus, ohne über Hühnerlöcher zu stolpern, weil die Hühner eingezäunt waren. Bei Elsa zu Hause stolperte man in einem fort über irgendwas. Gerümpel und Unordnung suchte man auf dem Hinterthur-Hof vergeblich. Unter dem Laubengang fanden sich weder Küchenabfälle noch tierische oder menschliche Hinterlassenschaften, alles hatte seinen Platz. Man konnte den Hof überqueren, ohne den Saum des Kittels heben zu müssen, weil der Sand geharkt und Pfützen und Rinnen regelmäßig aufgeschüttet wurden.

Von dort, wo in Sudpfannen Gerste verkocht wurde und es stickig heiß werden konnte, trat Meister Orwid auf den Hof. Einen Krug in jeder Faust. Elsa erkannte, dass der ihre von Matsch befreit, das Zeichen der Mälzers im braunen glänzenden Steingut schön poliert worden war. Die andere Kanne zeigte das Emblem der Hinterthurs.

„Hier, Mädchen. Du kannst nichts dafür, dass dein Vater ein Idiot und die Dorfjungs Rüpel sind.“ Mit diesen Worten und einem Grinsen stippte Meister Orwid das Mädchen an der Nasenspitze. Sie wich nicht rechtzeitig vor seinem breiten Finger zurück. Sie hätte ihm gern ins Gesicht gespuckt, was sie sich natürlich nicht getraute. Der Hüne wandte sich nach dem Pfannenhaus um und rief nach seinen Söhnen. „Wie besprochen, Jungs: halbe, halbe. Ihr bekommt einen Schock für den Krug, verlangt also einen halben Groschen pro Becher. Mach die Becher voll. Wir berumsen unsere Kundschaft nicht.“ Letzteres besiegelte er mit einem Augenaufschlag für Elsa. „Guck nicht so belämmert“, meinte er zu ihr, „du bekommst das Doppelte von dem, was das Gebräu deines Vaters eingebracht hätte.“

„So bereichert Ihr euch auch am Unglück der Unholdin? Ihr habt heut nicht Ausschank“, reckte Elsa das Kinn, um sich gegen den Meister zur Wehr zu setzen. Der aber fuhr ihr kurz entschlossen über den Rand: „Und du hast keine Briu mehr.“ Es wäre nicht nötig gewesen, aber Meister Orwid erinnerte das Mädchen dennoch an die Fehde von vor zwanzig Jahren, die den Kindern beizeiten erzählt wurde, damit sie die Zunft und deren Mitglieder ehrten.

Wie eine tönerne Glocke klang das Antippen von Hinterthurs breitem Daumennagel, als er Elsa den Krug gab. Er war leicht und leer.

„Ich rette dir wahrscheinlich den Arsch, kleine Zicke. Also nimm das Angebot an, dann wirst du heut Nacht ruhig schlafen. Andernfalls wird dir der Hintern noch mehr wehtun als so schon.“

Die Hinterthurbrüder hatten wohl berichtet, wie sie vorhin auf ihrem Allerwertesten gelandet war.

Abermals öffnete sich die Tür. Ein Gesicht, blass und glatt wie Milch unter einer ebenso straffen Haube schob sich in die Sonne. Reinhilde war damals aus der Stadt gekommen, um den Orwid Hinterthur zu heiraten. Sie war und blieb die Städterin, auch wenn sie ein gut Dutzend Jahre schon in der Parochie lebte. Die Reinhildin zahlte das ihr entgegengebrachte Misstrauen mit barer Münze zurück. Sie herrschte wie eine Königin über ihren Besitz. Schön und klug, fromm und geschäftstüchtig.

„Sind die Mälzers so gottlos, Geschäfte mit dem Tod zu machen?“, rief sie über den Hof. Elsa steckte die freie Hand in die Tasche ihres Kittels, damit niemand sah, wie sie sie zur Faust ballte. „Ist es nicht genug, dass ihr über alle Meister herzieht, müsst ihr sie nun auch behelligen?“

Elsas Schlagfertigkeit reichte nicht weiter als sie spucken konnte. Die Brauleute verschwanden im Haus.

„Mutter hat recht. Wir sind kein Stück besser als Mälzer“, sagte Andres, kaum, dass sie in die Richtung unterwegs waren, wo der Schöps am tiefsten war. „Wir bereichern uns am Unglück der Unholdin und der Gaffsucht der Leute, wenn wir am Schafott unsere Ware feilbieten.“

Sein Bruder Jost winkte ab und schenkte Elsa ein neckisches Grinsen. Es gefiel ihr.

„Mal im Ernst, Jost“, beharrte Andres, „Die arme Seele! Unser Herr würde das nicht wollen.“

Jost blieb abrupt stehen und schaute seinen älteren Bruder teils genervt, teils ungeduldig an. „Dann lauf doch zurück, Andres, geh zu Mutter und bete, oder spiele mit deinen Glasmurmeln.“ Wieder dieses Lächeln, und Elsa kicherte.

Andres aber tat nichts dergleichen. Nur ließ er sich hinter sie zurückfallen.

„Meinen Bruder interessiert sein Seelenheil mehr, als sein Geldbeutel“, spöttelte Jost.

„Richtig, Dummkopf“, kam es von hinten. „Wir haben mit der Riegerin nichts zu schaffen. Unser Herrgott weiß das. Der Herr hat es gefügt, dass Elsa ihren Krug verschüttet hat, damit sie keine Geschäfte am Schafott macht.“ Elsa protestierte. So war der Hergang nicht gewesen.

Der Herr wolle gern, dass die Wartenden am Schöps eine Erfrischung bekämen, erwiderte Jost. Ein Zwinkern für Elsa, das wohl tat wie ein Löffel voll Honig. Jost trug die bauchige Kanne mit Leichtigkeit, denn er war stark.

Während von Elsa die Sorge des Groschens und die Angst vor Vaters Schlägen verblassten, sie gewillt war, dem sonnigen Tag im Ostermond endlich das Wärmende abzugewinnen, kam Andres so schnell nicht mit seinen Gewissensbissen zurecht. „Aber, wenn es Gottes Wille ist, dass die Zuschauer mit dem Gebräu aufgemuntert werden, dann verfehlt die Hinrichtung doch ihre Anschaulichkeit.“

„Halt endlich die Klappe“, blaffte Jost. „Genieß die Sonne, das Vogelzwitschern, die arbeitsfreie Stunde, oder willst du lieber beim Vater Pfannen schrubben oder Maische rühren bei der Mutter?“ Andres antwortete nichts. „Na also.“

Elsa wollte es so halten wie Jost: Sie wollte den nichtsnutzigen Moment genießen, obwohl Müßiggang eine Todsünde war.

„Wenn du so sehr haderst, Andres, dann kannst du dich an den Wegrand setzen und mit deinen Glasmurmeln spielen. Wir erledigen dann schon den Rest, was Mälzerin?“ Jost knuffte Elsa freundschaftlich in den Oberarm. „Das wär doch gelacht, uns von so einer Mörderin das Geschäft verderben zu lassen!“

Zu Josts Worten nickte Elsa entschlossen: „Ja, das hat mein Vater auch gesagt.“

„Na also!“ Jost wiederholte die verschwörerische Geste.

„Sie hat unter Folter gestanden, Jost“, sagte Andres jetzt mit einer klaren, reifen Stimme. „Ihr Geständnis soll gekauft worden sein.“

Jost war des Themas überdrüssig. Doch Andres zog ihn jetzt rüde am Arm zu sich herum, sodass alle drei im Kreis standen. „Ist dir nicht der Gedanke gekommen, dass die Riegerin unschuldig ist?“

Jost machte sich los. „Sie hat ihm keine Kinder geschenkt. Das spricht für die Buhlschaft mit dem Teufel. Fertig.“

„Fertig“, äffte Andres seinen jüngeren Bruder nach, „Fertig! Gott sei auf Knien gedankt, dass du Briuwer wirst und nicht Jurist!“ Er schubste den Jüngeren von sich und ging weiter voraus. Jost versicherte Elsa, sein Bruder sei nicht ganz normal im Oberstübchen, was er mit einer Geste untermalte, über die Elsa kichern musste. Andres drehte sich nicht zu ihnen um.

„Im ersten Buch Mose steht“, sprach er über die Schulter zu ihnen, wodurch Jost laut aufseufzte, „dass Rahel ebenfalls unfruchtbar war. Sie konnte Jakob keine Kinder schenken. Lea aber, Rahels Schwester, schenkte Jakob sechs Kinder. Rahel wurde auch nicht zum Tode verurteilt.“

„Weil sie von Jakob geliebt wurde“, leierte Jost die Worte herunter.

„Nein, weil sie von Gott geliebt wurde. Gott hat aus übergroßer Liebe Rahel keine Kinder geschenkt?“, rief Andres gereizt nach hinten.

Wie gut die beiden sich auskannten! Elsa selbst brachte meist alle biblischen Namen durcheinander. Die Hinterthurs waren nicht nur reich. Sie waren auch so fromm, dass sie eine eigene Kirchenbank besaßen.

„Das ist ein Gleichnis, du Idiot!“, schimpfte Andres jetzt. „Gott wollte, dass Jakob beide Frauen liebte und deshalb hat er derjenigen, die er nicht mochte, den Kindersegen geschenkt. Gott wollte nicht, dass Rahel neidisch auf ihre Schwester war und daher …“

„Jakob hat es mit allen getrieben, Andres, sei nicht so dumm. Jakob hat sogar bei den Mägden seiner Frauen gelegen, um Gott milde zu stimmen und Rahel den Kindersegen zu bringen.“

„Nein, so darfst du nicht reden.“ Während Andres schulmeisterte, Lea habe nichts als Intrigen und Rahel den Neid gehabt, beobachtete Elsa Jost. Der lächelte müde über den Schlauberger. „Gott lehrt uns Geduld“, schloss Andres, „und Genügsamkeit. Das, was der Rieger mit seinem Weibe damals nicht konnte, und deshalb muss sie heut sterben und das ist furchtbar! Sie stirbt wie unser Herr für die Sünden, die andere begangen haben.“

„Er schläft mit der Heiligen Schrift unterm Kopfkissen“, flüsterte Jost und grinste in Elsas Richtung. Sie, seiner Anziehung verfallen, erwiderte das Lächeln. Das Buch der Bücher hatte sie noch nie von Nahem gesehen. Zu Hause besaß ihre Mutter eine Bilderbibel. Aber das war nicht dasselbe wie die dicke Heilige Schrift mit dem ganzen lateinischen Text.

Sie erreichten den Fluss. Wie eine überreife Traube hingen die Menschen am Schaugerüst, drängelten um die besten Plätze, schoben sich dichter ans Wasser. Elsa konnte ihre Mutter nicht sehen und vollzog gemeinsam mit Jost den Betrug. Andres weigerte sich, Zeuge des Spektakels am Fluss zu werden. Er blieb an einem sacht ansteigenden Hügel unter einer Birkengruppe zurück und wachte über den gedemütigten Krug der Mälzers.

Die Leute streckten Jost ihre Becher entgegen. Sie wussten, das Produkt seines Vaters war das beste, was man kriegen konnte. Man beäugte Elsa, als befürchte man, sie könnte einen Krug vom Mälzer-Gepansch zücken, das man dann umständlich ablehnen müsste. Beim Mälzer schmeckte es eben nicht. Es gab neuerdings Reinheitsauflagen. Die konnte man leicht umschiffen, wenn man Bilsenkraut oder Tollkirsche beimischte, so wie es schon Johannes’ Vater getan hatte. Es gab dem Gebräu zwar etwas Säuerliches, intensivierte jedoch die Wirkung, und ließ sich gerade deshalb um ein paar Kannen strecken. Der Rausch, den man sich mit Johannes’ Gesöff antrank, war ein anderer. Johannes’ wenige Stammkunden wussten das.

Natürlich bekam Jost Hinterthur doppelt so viel für seines, als es Elsa mit dem ihren je erzielt hätte. Natürlich hielt er sich ans Wort seines Vaters, gab ihr einen halben Schock, was mehr war, als ihr Vater für einen ganzen Krug bekommen hätte.

Katharina Mälzer, als sich Elsa mit barer Münze zu ihr durch die Menschen durcharbeitete, war höchst zufrieden.