Die Residentur

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

„Ich hatte das Gefühl, dass er mir irgendwas anvertrauen wollte, aber dass er Angst hatte.“

„Wie habt ihr euch unterhalten?“

„Ich hab mein Schulrussisch aktiviert – ich war selber überrascht, wie viel ich noch im Kopf hab. Aber wir haben dann bald auf Tschechisch weitergemacht. Borodin ist seit drei Jahren hier, er spricht echt gut. Eine Sprachbarriere war da nicht im Spiel, ich hatte eher den Eindruck, dass er versucht hat abzulenken. Jedes Wort hat er sich genau überlegt.“

„Irgendwo in seiner Aussage hab ich gelesen, dass er den Mord erwartet hat.“

Holina nickte. „Er hat mir gesagt, dass Arojans Arbeit außerordentlich riskant war, dass er mit dem Feuer gespielt hat und eine bestimmte Gruppe von einflussreichen Leuten Grund gehabt haben soll, ihn loszuwerden. Das klingt atemberaubend, ist aber nichts als Schaumschlägerei. Als ich wollte, dass er konkreter wird, hat er sofort den Rückwärtsgang eingelegt.“

„Warum hast du nicht mehr Druck gemacht?“

„Ich hab gesehen, dass er Zeit braucht. Hat Vačkář sonst nichts weiter aus ihm rausgekriegt?“

„Nichts, auf das wir aufbauen könnten.“

Marta nahm ihr Ei in die Hand, klopfte es an und begann mit dem Schälen. Sie dachte über die Widersprüche nach, über die sie beim Lesen von Borodins Aussagen immer wieder gestolpert war. Vačkář hatte ihn insgesamt dreimal einbestellt. Zuerst als Zeugen, später dann bereits als Verdächtigen. Bei der letzten Vorladung hatte er ihn festgesetzt, konnte aber nichts aus ihm rausholen, was für eine Anschuldigung ausgereicht hätte. Auch Borodins Alibi hatte sich schließlich bestätigt: Eine Viertelstunde vor dem Mord war er am Rand des Neubauviertels in den Bus gestiegen, den NachtGeist. Der Fahrer konnte sich noch an ihn erinnern, weil er der einzige Passagier war, der die ganze Strecke mitgefahren war, von einer Endstation zur anderen. Die Fahrt deckte sich zeitlich mit dem Mord, und so musste Vačkář Borodin wieder laufen lassen, nach zwei Tagen und vielen Stunden Vernehmung, die nichts gebracht hatten. Genau wie später den anderen. Auch seinen Namen hatte Marta sich notiert, auch neben ihn hatte sie eine Allee aus Fragezeichen gepflanzt.

„Dann wäre da noch dieser Lewan Manusch“, sagte sie. „Weißt du über den was?“

„Manusch? Gib mir mal ’n Tipp, wen du meinst.“

„Auch Kasmenier. Aktivist, hat die Proteste für eine Beendigung des Kriegs mitorganisiert.“

„Ich weiß. Der letztes Jahr auf der Demo so übel zugerichtet worden ist. Der wohnt dort in dem Neubauviertel, oder? Arojan und Borodin sind angeblich kurz vor dem Mord bei ihm zu Besuch gewesen.“

„Und Sofie Faflíková? Pavel Pekárek? Kannst du mir was zu denen sagen?“

Holina dachte kurz nach, dann schüttelte er den Kopf. „Wer ist das?“

„Borodins Freunde aus der Uni. Faflíková ist seine Freundin. Die hat Arojan gekannt, und zwar, wie mir scheint, alles andere als oberflächlich.“

Sofie Faflíková schlich sich immer wieder in Martas Gedanken ein. Dem Foto nach eine interessante Frau. Ungewöhnliches Äußeres, keine Dutzendschönheit. Der provokante Mund zeugte von Erfahrungen, die die anderen Teile ihres Gesichts mit kindlicher Unschuld maskierten: eine Lolita. In ihrer Aussage hatte sie die Liebesbeziehung zu Arojan abgestritten, dennoch legten Vačkářs Fragen nahe, dass er in dieser Richtung irgendetwas wusste. Marta hatte vor, ihn zu fragen, wie er zu diesen Informationen gekommen war. Eifersucht als Motiv sah neben der Theorie des politischen Mordes zwar dröge aus, aber es wäre auch unklug, das zu unterschätzen. Aus verschmähter Liebe wurde in allen Gesellschaftsschichten Gewalt angewendet. Marta konnte sich selbst gegenüber auch nicht leugnen, wie sie sich, nachdem sie von Dans Verrat erfahren hatte, eine Weile rachsüchtig vorgestellt hatte, ihm Rohrfrei in sein verlogenes Maul zu schütten. Es war ein kurzes, aber umso intensiveres Bedürfnis gewesen, ihn jenen Schmerz erleiden zu lassen, der dem ihren adäquat gewesen wäre.

„Tut mir leid.“ Holina machte ein bedauerndes Gesicht. „Weder die Faflíková noch den Manusch noch den … den …“

„Pekárek.“

„Von denen hab ich niemanden gesehen. Das war dann schon Vačkářs Job. Kaum war er aus dem Urlaub zurück, hat ihn Karoch an den Arojan-Mord gesetzt und mich abberufen.“ Er trank den Kaffee aus und stand auf. „Ich muss los. Tut mir leid, wahrscheinlich hab ich dir nicht groß geholfen, aber ich bin wirklich nur an dem Fall vorbeigegangen.“

„Für einen Passanten hast du mir aber unglaublich viel sagen können“, versicherte sie ihm. In Gedanken strich sie ein paar der Fragezeichen, ein paar neue fügte sie hinzu. Da fiel ihr noch etwas ein. Es war ihr durch den Kopf geschossen, als sie am Morgen ins Auto gestiegen war und den Motor angelassen hatte. „Kannst du dich erinnern, wie das genau mit dem Octavia gewesen ist?“

„Dunkelblau, gestohlen. Prager Kennzeichen.“

„Hast du mit dem Halter gesprochen?“

„Ich hab nur die Anzeige gelesen. Er ist in derselben Nacht gestohlen worden, als der Mord passiert ist. Der Besitzer hat abends vor seinem Haus geparkt. Und am nächsten Morgen war das Auto weg. Sie haben es ausgebrannt irgendwo in einem Steinbruch entdeckt. Alle Spuren hinüber. Warum fragst du? Kommt dir da irgendwas komisch vor?“

„Eine Kleinigkeit, die muss ich überprüfen.“

Marta befreite ihr Ei vom letzten Stück Schale und biss hinein. Es hatte nicht nur die richtige Größe, sondern war auch perfekt gekocht. Nicht allzu hart, nicht weich. Eine knappe Minute machte den Unterschied, der jedoch wie jedes Detail seine Bedeutung hatte.

„Ahoj“, verabschiedete sich Holina, „a prajem pekný deň.“ Den schönen Tag hatte er ihr auf Slowakisch gewünscht, in seiner Muttersprache, die er gelegentlich ins Gesagte einflocht, entweder unbewusst oder aus Nostalgie.

„Ich dir auch. Und vielen Dank, Marián … Auch für das Ei.“

„Rádo sa stalo. Und jederzeit wieder, ich bin eine gute Legehenne“, versicherte er ihr, schnappte sich das Tablett mit dem Frühstücksgeschirr und ging davon.

Marta spürte, wie sich im Verlauf der Unterhaltung ihre Stimmung gebessert hatte und ihr Selbstbewusstsein größer geworden war. Sie glaubte an ihren Erfolg. Sie hatte eine angeborene Beharrlichkeit, sie hatte Zeit (nach der Trennung von Dan unerträglich viel Zeit), sie hatte ein System. Außerdem hatte sie Brian Jukl. Ihn nicht an der kurzen Leine zu halten, wie Holina empfohlen hatte, barg natürlich auch ein Risiko. Einmal Geheimdienstler, immer Geheimdienstler. Genauso wie für andere Nachrichtendienstmitarbeiter war Tschechien für Jukl vor allem Tummelplatz für russische Spione und würde das offenbar auch für immer bleiben. Und zwar nicht nur für die älteren, die sich hier noch aus den Zeiten des Sozialismus auskannten und umfangreiche Kontakte sowohl zur lokalen Elite als auch im kriminellen Milieu hatten; nach Jukls Ansicht wurden die in letzter Zeit in großem Umfang von jüngeren Jahrgängen verdrängt.

„Das fängt an den Hochschulen an“, hatte er ihr gestern Abend bei einer Tasse Hühnerbrühe erläutert, die er aus einem Bistro mitgebracht hatte. „Hier studieren mehr als viertausend Russen. Einige kommen schon mit einer klaren Aufgabe hierher, aber die meisten lassen sich im Verlauf des Studiums anwerben.“

„Von wem?“

„In Prag arbeiten bei der Botschaft offiziell um die hundertvierzig Leute. In den Konsulaten in Brno, Ostrava und Karlovy Vary mindestens noch mal zwanzig. Davon sind ungefähr zwei Drittel Nachrichtendienstoffiziere“, hatte er sie in einem Ton informiert, der keinen Zweifel an seinen Behauptungen zuließ. „Moskau hat die Residentur in Tschechien zur Zentrale für seine Mitteleuropa-Aktivitäten gemacht. Außerdem gibt’s hier Zehntausende von Firmen, die entweder zu hundert Prozent russisch sind oder in den Händen von Eigentümern, die sich hinter anonymen Aktien verstecken. Und vergessen Sie nicht das russische Kultur- und Handelszentrum. Die organisieren einen Haufen Veranstaltungen, da laden sie auch Studenten ein. Sie bemühen sich um eine Infiltration auf allen Ebenen. Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass sich Vačkář so für Borodin interessiert hat. Dass er nichts gefunden hat, ist auf seine Weise auch ein Signal. Vielleicht eine stärkere Warnung, als wenn er was gefunden hätte.“

„Wollen Sie sagen, dass das Fehlen von Beweismaterial für Sie ein Beweis ist?“

„Ich will sagen, dass man immer was finden kann. Aber wo es überhaupt keine Spuren gibt, da muss sich jemand besondere Mühe gegeben haben, sie zu beseitigen. Und dieser Jemand war kein Amateur. Wir müssen besser suchen als Vačkář. Also Marta: Ich finde, ich sollte Borodin als Ersten aufs Korn nehmen. Einverstanden?“

Sie hatte nichts dagegen. Die Fahndungsrichtung war für sie nicht wesentlich. Eifersüchtige Partner oder Geheimdienste als Motiv – aus ihrer Sicht kam das aufs Gleiche raus. Um das Ziel zu erreichen, war eines maßgeblich: Den Details musste genügend Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Langsam aß sie ihr Ei und kam in Gedanken wieder bei dem dunkelblauen Octavia an. Sie konnte nicht verstehen, warum sich weder Marián Holina noch Mirek Vačkář auf die Tatsache konzentriert hatten, die ihr sofort ins Auge gestochen war, als sie die Anzeige des Halters gelesen hatte. Es war ein unauffälliges, aber aus Martas Blickwinkel wichtiges Detail. Sie beschloss, bei ihm zu beginnen.

Liebe Sofie, du bist mein einziges, nun volljähriges Kind. Aus ganzem Herzen liebe ich dich, und solange es in meinen Kräften steht, werde ich dir auch weiterhin alles bieten, was du dir wünschst. Wenn du uns einen Zigeuner in die Familie bringst, werde ich nicht vor Freude an die Decke springen, aber ich werde mir denken: Zumindest kriege ich hübsche und musikalische Enkelkinder. Wenn du mit einer Frau kommst, werde ich nichts sagen, ich schwör’s; der Natur kann man keine Befehle erteilen. Wenn du einen Orang-Utan anschleppst – meinetwegen. Viel zu erzählen haben werden wir uns nicht, aber zumindest können wir zusammen eine Banane essen. Nur um eins bitte ich dich inständig: Mit einem Russen, liebste Tochter, mit einem Russen darfst du mir nicht nach Hause kommen. Dann nimm dir lieber ein Messer und schneid mir den Kopf ab.

 

Aus der Rede von Vojtěch Faflík anlässlich des 18. Geburtstags seiner Tochter

Auf der Freifläche vor der Uni hatte Brian sie eingeholt. Sie schnappte nach Luft.

„Sofie Faflíková?“, fragte er. Überflüssigerweise. Er bezweifelte, dass irgendwo im böhmischen Becken ein weiteres Exemplar einer jungen Frau mit einem so großen Mund herumlief. Er beherrschte ihr ganzes Gesicht und löste unwillkürlich gewisse erotische Vorstellungen aus. Brian zückte seinen Ausweis und nuschelte routiniert: „Kommissar Jukl, Staatliche Zentralstelle organisierte Kriminalität.“

„Was wollen Sie?“, fragte sie, noch immer außer Atem.

„Ich ermittle im Mordfall Geworg Arojan. Dazu muss ich …“

„Sie müssen das endlich mal jemandem anhängen!“, schleuderte sie ihm ins Gesicht. Außer dem überdimensionierten Mund war an ihr alles klein, sah fast kindlich aus. Auch der Ton ihrer Stimme drückte den zittrigen Trotz von Kindern aus. „Na gut, verhören Sie mich doch! Nehmen Sie mich ruhig fest, das wird Ihnen eh nix nützen. Sie werden mich wieder laufen lassen müssen, so wie Sie auch Kirka rauslassen mussten.“

„Sie meinen Kirill Borodin?“, fragte er. „Wo ist er?“

„Finden Sie’s doch raus!“, gab sie schnippisch zurück. „Wozu lassen Sie ihn denn beschatten?“

„Wie, beschatten?“

„Zuerst ein heller Transporter. Dann ein schwarzer Sportwagen. Ein grüner Škoda, ein Fabia, glaub ich“, zählte sie auf. Im Unterschied zu Pavel Pekárek griff sie nicht zur Ironie. Sie war ernst und warf ununterbrochen misstrauische Blicke um sich.

„Und die alle beschatten Borodin?“

„Weiß ich, ob das alle sind?“

„Wieso glauben Sie, dass das die Polizei ist? Was bringt Sie dazu?“, fragte er. Sie zog eine bittere Grimasse, antwortete aber nicht. Also probierte er es anders: „Soweit ich weiß, hat sich Borodin freiwillig bei der Polizei gemeldet, und bis jetzt hat er sich nicht geweigert zu kooperieren. Warum sollten wir ihn also überwachen lassen? Nota bene auch noch so, dass er’s merkt? Kommt Ihnen das nicht ein bisschen an den Haaren herbeigezogen vor?“

„Das ist garantiert so eine Strategie von Ihnen. Behauptet Kirka zumindest.“

„Seit wann verfolgen ihn diese Fahrzeuge?“

„Tun Sie nicht so, als ob Sie’s nicht wüssten. Der Škoda stand gerade noch dort an der Ecke. Vielleicht sind Sie sogar selber mit dem hergekommen.“

„Ich bin mit keinem Škoda hergekommen“, versicherte er ihr, „sondern zu Fuß. Ich wohne hier in der Gegend.“

„Is mir wurscht, wo Sie wohnen. Ich will bloß, dass Sie Kirka nicht weiter das Leben zur Hölle machen. Das lass ich einfach nicht zu! Er hat schon genug mitgemacht.“

„Was genau hat er mitgemacht?“

„Als Kirka mir erzählt hat, dass nach Arojan jetzt er auf der Abschussliste steht, da hab ich gedacht, dass er sich wichtig macht, aber ich hab meine Meinung geändert.“

„Wer will ihn denn abschießen?“

„Weiß ich nicht. Aber das schafft der nicht. Zumindest solange ich da bin.“

Sie war wie eine brennende Barrikade. Brian sah ein, dass er über sie nicht an Borodin herankäme.

„Dann soll er selber die Bedingungen festlegen, unter denen er bereit ist, mit mir zu reden. Wann und wo er will“, betonte er und holte eine Visitenkarte aus der Tasche. „Sagen Sie ihm, dass ich erst seit Kurzem an dem Fall arbeite. Bis jetzt bin ich ein unbeschriebenes Blatt. Wenn er mir was zu sagen hat, hör ich ihm gerne zu. Mich interessiert wirklich, wer Geworg Arojan erschossen hat.“

„Reden, reden, reden.“

„Aber ohne zu reden, können wir uns nicht einig werden.“

„Ich glaube nicht, dass Sie sich mit ihm einig werden wollen. Sie wollen das einfach nur vom Hals haben, und Kirka ist für Sie der geeignetste Kandidat. Er passt in Ihre Hypothese …“

„Eine Hypothese hab ich bis jetzt noch nicht.“

Das stimmte nicht so ganz. Korrekter wäre gewesen: bis gestern Nachmittag noch nicht. Er wollte im Arojan-Fall so vorgehen, wie es ihm Karoch empfohlen hatte: die Methoden, wie sie in der SZOK angewandt wurden, vergessen und sich an Martas Instruktionen halten. Ihr Mantra waren die Details. Auf die verließ sie sich. Brian verließ sich auf gar nichts. Er verhielt sich bei der Arbeit wie ein Museumsbesucher, der sich die Gemälde zuerst aus der Ferne anschaute, dann allmählich näher heranging und dabei aufpasste, den Blick aufs Ganze nicht aus den Augen zu verlieren. Details hatten ihre Bedeutung, aber vorrangig waren die großen Querverbindungen; in ihnen manifestierte sich die Idee jedes Kunstwerks. Und ein Mord, wer auch immer was auch immer darüber dachte, war ebenfalls ein Kunstwerk. Manchmal naiv, manchmal raffiniert, aus einem plötzlichen Affekt entstanden oder gründlich durchdacht, gelegentlich teuer bezahlt, aber immer komplex. Die drei Geschosse, die Arojan in der Nacht zwischen den Plattenbauten getroffen hatten, und das Video, das drei Jahre zuvor auf dem Wolgograder Lenin-Prospekt aufgenommen worden war, schienen in keiner Verbindung zueinander zu stehen, doch Brians Geheimdiensterfahrungen legten ihm nahe, dass es zwischen ihnen einen Zusammenhang gab. Sie waren Bestandteil eines einzigen großen Gemäldes.

„Ich weiß, was Sie denken“, sagte Sofie.

„Was denk ich denn?“

„Russe gegen Kasmenier, Krieg, nationale Widersprüche und so weiter – Ihrer Meinung nach eine klare Sache, stimmt’s?“

„Nationale Widersprüche, ob uns das nun passt oder nicht, funktionieren“, versicherte er ihr, und weil er sah, dass sie ihn unterbrechen wollte, sprach er hastig weiter: „In Kasmenien tobt ein Krieg, klare Sache, und Arojan hat ihn als Journalist und als unmittelbarer Akteur verfolgt, das kann man auch nicht wegdiskutieren. Er hat Nachrichten geliefert, die den Russen nicht gepasst haben. Über ähnliche Praktiken wie in der Ostukraine, über russische Soldaten ohne Uniformen, über so genannte Terroristen, die über die Grenze kommen, über den Einsatz von chemischen Waffen, über Entführungen und den wiederholten Beschuss von Passagierflugzeugen. Er hat Augenzeugenberichte geliefert, die nicht mit der offiziellen russischen Version übereingestimmt haben, also tut mir leid, aber …“ Er hatte viel zu schnell gesprochen und musste eine kurze Pause machen, um einen neuen Luftvorrat in seine Lunge zu befördern. Er hatte erwartet, dass sie das ausnutzen und ihm ins Wort fallen würde, aber das tat sie nicht. Erwartungsvoll sah sie ihn an.

„Sie haben völlig recht“, redete er dann in gemäßigterem Tempo weiter. „Russe gegen Kasmenier, das ist das Erste, was einem bei dem Mord an Arojan einfällt. Aber der erste Einfall ist nicht immer der beste. Außerdem ist Ihr Kirka nicht der einzige Russe in Prag, und so wie ich das sehe, auch nicht der passendste Russe, der Arojan ermordet haben könnte.“

„Konnte er auch nicht. Er hat ein Alibi.“

„Ein Alibi kann man kaufen.“

„Ihrer Meinung nach hat er den NachtGeist-Fahrer bezahlt? Ist das Ihr Ernst?“

„Ich glaube, was er in Wolgograd am Komsomoldenkmal getan hat, zeigt nicht nur seine politische Orientierung, sondern vor allem auch die menschliche Dimension. Die ist für mich entscheidend. Das war eine gewagte Aktion“, sagte er mit ehrlicher Anerkennung.

„Das war sie“, pflichtete sie ihm bei. „Kirka hat Mut. Manchmal sogar zu viel.“ Einer ihrer Mundwinkel fuhr nach oben, im Kontrast dazu bildete sich zwischen ihren Augenbrauen eine Falte. Brian kam es so vor, als könne sie sich nicht zwischen Zustimmung und Ablehnung entscheiden.

Während er die Verwandlungen in ihrem Gesicht beobachtete, überlegte er, ob Vačkář überhaupt bis zu dem Video aus Wolgograd vorgedrungen war. In den Vernehmungsprotokollen war es nicht erwähnt. Keine auch noch so beiläufige Anspielung auf die Massenpetition, die die Umbenennung von Wolgograd zurück zu Stalingrad unterstützen sollte, kein Wort über die Menschenschlange, die den Lenin-Prospekt säumte, und über den blonden Studenten, der sich über das Petitionsbuch beugte. Keine Erwähnung dessen, wie er das Buch mit Benzin übergossen und angezündet hatte. Dieser blonde Student war Kirill Borodin und seine Tat musste für ihn unabsehbare Folgen gehabt haben. Nicht nur direkt am Komsomoldenkmal, wo ihn die aufgebrachte Menschenmenge beinahe gelyncht hätte, sondern auch später. Gerade dieses Später interessierte Brian extrem und er wunderte sich über Vačkářs sträfliche Ignoranz. Auch wenn er YouTube nicht für eine verlässliche Quelle hielt, hätte er das Video in der Akte erwähnen und zu dem Vorkommnis weiter recherchieren müssen. Es gehörte irgendwie – auch wenn Brian bisher nicht klar war, wie – zum Arojan-Fall, und er hoffte, dass er etwas aus Borodin rauskriegen könnte. Er musste ihn nur überzeugen, sich mit ihm zusammenzusetzen.

„Wenn er so viel Mut hat, wie er in Wolgograd gezeigt hat, warum hat er Angst, sich mit mir zu treffen? Das kann der Sache nur dienlich sein.“

„Welcher Sache? Ihrer oder Kirkas?“

„Vielleicht sogar Ihrer. Es wäre wirklich klug von Ihnen, wenn Sie ihm meine Visitenkarte geben würden und sie nicht gleich im nächsten Papierkorb entsorgen. Ich seh’s Ihnen doch an, dass Sie das vorhaben. Aber damit tun Sie ihm echt keinen Gefallen, das können Sie mir glauben.“

Natürlich glaubte sie ihm nicht. Aber sie steckte die Visitenkarte ein.

„Wenn er Lust hat sich zu melden, dann meldet er sich“, sagte sie. „Wenn nicht, dann nicht.“

„Falls er glaubt, dass ihn jemand erschießen will, sollte er sich so schnell wie möglich mit mir in Verbindung setzen“, ermahnte er sie. „Am besten sofort.“

Sie musterte ihn mit einem misstrauischen Blick, der einen Moment an der Stelle Halt machte, wo der Großteil der Polizisten die Dienstwaffe trug (Brian eingeschlossen, nur heute hatte er sie nicht dabei), dann drehte sie sich um und ging ohne ein weiteres Wort zurück zum Hörsaalgebäude. Er sah ihr nach. Den Angaben in der Akte zufolge war Sofie Faflíková zweiundzwanzig, aber mit den wehenden Locken und dem karierten Rucksack auf dem Rücken sah sie aus wie ein kleines Mädchen. Ein ernstes Mädchen. Brian musste zugeben, dass er sich mit ihr keinen Rat wusste. Mit Frauen, vor allem reiferen Frauen, hatte er reichlich Erfahrungen. Er wusste, was sie wollten, er wusste, was er von ihnen erwarten konnte. Mädchen machten ihn nervös. Etwas sagte ihm, dass dort, wo ernste Mädchen waren, meist auch ernste Probleme lauerten.

Als sie durch die Eingangstür verschwunden war, schlug er den Weg zur Bibliothek an der gegenüberliegenden Ecke des Platzes ein. Im Erdgeschoss war ein Café, dessen Beleuchtung goldgelb in den tristen Tag blinzelte. Sein Plan war, sich an eins der großen Fenster zu setzen und das Areal vor dem Hörsaalgebäude nicht aus den Augen zu lassen. Dass er Borodin entdecken könnte, hielt er für eher unwahrscheinlich, aber vielleicht hätte er Glück und eins der Autos würde auftauchen, der helle Transporter, der schwarze Sportwagen oder der grüne Škoda. Falls das allerdings nicht lauter Phantome waren, die ihn auf eine falsche Spur locken sollten. Aber auch falsche Spuren hatten ihre Bedeutung. Als Hejtman Rieger durch komplizierte Transaktionen einen Teil der Bestechungsgelder aus den gefakten Aufträgen auf das Firmenkonto seiner Frau überwiesen hatte, war das eine falsche Spur. Und Rieger hatte nicht ahnen können, dass sie am Ende der kürzeste Weg zu seiner Ergreifung war.

TASS veröffentlichte gestern die lang erwartete Nachricht, dass die Liderbanka einen Mehrheitsanteil der Komerzija übernommen hat. „Auf Grundlage dieser Akquisition wird die Liderbanka noch viel mächtiger“, verspricht sich davon Sergei Timofejitsch Ostrow, Besitzer des neuen Finanzgiganten und Vater der russischen Privatisierung nach dem Ende der Sowjetunion. Ostrows Industrie- und Finanzimperium ist gut aufgestellt und die Folgen der Sanktionen gegen Russland haben ihn nicht getroffen. „Für diejenigen, die Hindernisse als Chance wahrnehmen, sind Sanktionen stimulierend“, erklärte er gestern auf einer Pressekonferenz. „Sie bringen uns dazu, kreative Lösungen zu finden.“

Nowosti Moskwy/Wirtschaft

„Wir haben’s nicht eilig“, hörte Jewgeni in seinem Rücken. Sergei Timofejitsch Ostrow bevorzugte langsame Fahrten. Am liebsten genoss er sie auf dem bequemen Sitz eines Bentley oder einer anderen Luxuskarosse, von denen er eine respektable Reihe in seinen Stallungen stehen hatte. Jewgeni ging vom Gas. Er war kein Chauffeur, konnte sich allerdings an diese Rolle anpassen wie an jede andere auch. Anpassungsfähigkeit hatte früher nicht zu seinen Stärken gezählt, er hatte sie sich antrainieren müssen, zusammen mit weiteren Fähigkeiten und Eigenschaften, ohne die er seinen Job nicht machen könnte. Geduld einzuüben brauchte er nicht, die war ihm angeboren. Sie war ein derart markanter Charakterzug von Jewgeni, dass die Instruktoren auf der Akademie nicht verabsäumt hatten, sie in seinem Abschlusszeugnis hervorzuheben. Genauso wenig Probleme bereitete ihm Verschwiegenheit. Ostrow und Winogradski hatten sich schon so oft davon überzeugen können, dass sie sich erst gar keine Mühe gaben, leise zu sprechen.

 

„Bei dem scheiß Portal lädt dauernd jemand neue Posts hoch“, knurrte Ostrow. „In letzter Zeit hab ich sogar den Eindruck, als würde das immer mehr zunehmen.“

„Ihr Eindruck täuscht Sie nicht, Sergei Timofejitsch, das ist eine offensichtliche Tatsache“, pflichtete ihm Winogradski bei. „Es wird mehr und mehr. Und die Besucherzahlen steigen kontinuierlich.“

„Wie kommt das?“

„Arojans Blog hat schon immer pseudoinformierte Debattierer und Kommentatoren angelockt. Jetzt, wo ihr Idol gestorben ist, wollen sie ihm offenbar in gewisser Weise posthum die Ehre erweisen, indem sie die Stafette in seinem Geiste weitertragen“, erläuterte Winogradski in seinem fein ziselierten Russisch, für das Jewgeni eine Schwäche hatte. Nie rutschte er ins Ordinäre ab. Seine Sätze klangen berückend poetisch, als würde er in Puschkin’schen Jamben sprechen. Jewgeni würde auch gern so sprechen, aber der schleppende Akzent seiner Heimatregion Perm kurz vorm Ural machte ihm das schwer. In seinen eigenen Ohren hörte er sich unkultiviert an. An Winogradski war alles kultiviert. Wer ihm auf einem Empfang oder bei einer anderen offiziellen Gelegenheit begegnete, musste den Eindruck von diplomatischer Noblesse gewinnen. Kaum jemandem wäre es in den Sinn gekommen, dass er der Kopf der Prager Residentur war.

„Unter uns, Sergei Timofejitsch, auf diesem Blog finden Sie ein Meer voll Schwachsinn, und es hat überhaupt keinen Zweck, sich damit zu befassen“, fügte er mit nachsichtigem Lächeln hinzu. Ostrow erwiderte das Lächeln nicht.

„In dem Meer voll Schwachsinn schwimmen auch propere Haie“, erwiderte er trübsinnig. „Einige blecken ihre Zähne so gewaltig, als ob sie aus meiner Farm stammten.“

Ostrows Trollfabrik, die er in Sankt Petersburg gegründet hatte, war sehr effizient. Sie produzierte Nachrichten am laufenden Band, vierundzwanzig Stunden täglich. Die Angestellten waren durch die Bank weg jünger als Jewgeni, und Ostrow zahlte sagenhafte Gehälter, die sie nirgendwo anders bekommen würden. Dafür nutzte er sie total aus. Er legte die Hauptthemen fest, die seine Manager unter den einzelnen Trollen entsprechend ihrem Sachgebiet verteilten. So verbreitete sich im Netz Content, den Ostrow für notwendig erachtete. In letzter Zeit waren das vor allem: die Terroristen, die aus Kasmenien auf russisches Staatsgebiet vordrangen, die Heldentaten der russischen Soldaten, die Wahl zum Europaparlament, das Diskreditieren ausgewählter Kandidaten und das Wecken von Sympathien für die extrem rechten Parteien Europas. Ostrow beschäftigte arbeitslose Journalisten, aber auch Lehrer, Studenten und ITler. Die Fake News über Geworg Arojan, über seinen verborgenen Reichtum und seine unseriöse Arbeit als Journalist, waren zwar nach seinem Tod noch eine Zeitlang bei Facebook und in anderen sozialen Netzwerken zu finden gewesen, aber mittlerweile waren sie verschwunden. Er war nicht mehr wichtig. Im Unterschied zu seinem Blog, der nach wie vor lief und Ostrow den letzten Nerv raubte.

„Haben Sie den neuesten Strip gesehen?“

Winogradski nickte. „Erbärmlich.“

„Da steckt gefährlich viel Sprengstoff drin.“

Jewgeni wusste, dass Ostrow von der Comic-Reihe sprach, die vor einem Dreivierteljahr zum ersten Mal auf Arojans Blog aufgetaucht war. Nach dem Vorbild von Charlie Hebdo wurde dabei mit derbem und beleidigendem Humor zum aktuellen Geschehen Stellung bezogen. Zielscheibe waren in der Regel Politiker. Die Titelfigur des letzten Strips war Ostrow, der mit so viel Beobachtungsgabe und Witz gezeichnet war, dass Jewgeni, als er ihn zu Gesicht bekommen hatte, vor Lachen regelrecht losgewiehert hatte. Ostrows außerordentlich großer, kahler, von Leberflecken übersäter Schädel mit der auffälligen Kerbe in der Mitte sah in der Version des Zeichners wie ein fetter, sommersprossiger Arsch aus. Auf dem ersten Bild überreichte er dem Patriarchen der Russischen Orthodoxen Kirche (höchst naturgetreu festgehalten) einen Sack Geld, auf dem zweiten empfing er von ihm den Segen, auf dem dritten kniete er mit gefalteten Händen und betete: Gott, gib uns viele Feinde, damit wir patriotische Kriege führen können, und beschütze Wladimir Wladimirowitsch, dessen durchlauchtigster Weisheit meine kleine, bescheidene Firma ihre staatlichen Aufträge zu verdanken hat … Jewgeni konnte sich nicht genau an den Text in der Sprechblase erinnern, aber jedem, der Ostrow und sein riesiges Waffenimperium kannte, war die Botschaft klar, und die Zahl von Likes und Followern brach alle Rekorde.

„Wieder so ein Borodin-Machwerk“, knurrte Ostrow. Dabei irrte er sich gewiss nicht, die Zeichnung trug Borodins unverwechselbare Handschrift. „Höchste Zeit, dass wir dem einen Denkzettel verpassen!“

Jewgeni begriff, dass diese Bemerkung nicht nur Winogradski galt, sondern auch ihm selbst. Vielleicht vor allem ihm. Immer lief das so über Bande. In seiner Bank war Ostrow ein absolutistischer Herrscher, aber nach außen hin ging das Spiel so, dass der Direktor der tschechischen Niederlassung, Jaroslav Kubišta, Jewgeni gegenüber weisungsberechtigt war. (Ein unscheinbarer Mensch, dessen größtes Talent darin bestand, dass er Ostrow auf dem Golfplatz immer unterlag, obwohl er eine wesentlich bessere Technik und ein niedrigeres Handicap hatte.) Und was die geheimdienstliche Tätigkeit anging, verzichtete Ostrow ebenso auf jede Art von Einmischung. Auch das war ein Spiel. Den Rücken stärkte ihm der Kreml, der ihm bereits im Voraus die Absolution erteilt hatte. Was er auch tat, er handelte immer im nationalen Interesse. Jewgeni war sich dessen sehr wohl bewusst und zögerte nicht, Winogradski aus diesem Grund zu umgehen, obwohl das oft einen Eiertanz bedeutete. Ostrows Ei war aus Jewgenis Perspektive größer und vielversprechender als das von Winogradski. Wenn er sich zwischen den beiden entscheiden sollte, würde er keinen Moment zögern.

„Borodin haben wir in Arbeit“, ließ Winogradski lässig fallen.

„Ach so.“ Obwohl Ostrow nur knapp reagiert hatte, war seine Gereiztheit schwer zu überhören.

„Wir sind auf der Zielgeraden.“

„Wird die lang sein?“

„Je nach Bedarf.“

„Dieser Mistkerl wird immer frecher!“, schäumte Ostrow. „Sogar den ekelhaften Altunin hat er schon überboten.“ Da musste Jewgeni ihm recht geben. Borodins Zeichnungen konnten es zwar in Präzision und Ausführung nicht mit denen von Altunin aufnehmen, die nicht nur Putin verächtlich machten, sondern auch den Regierungschef und weitere Personen des öffentlichen Lebens in Russland, sie hatten auch nicht die Laszivität von Altunins Pinselstrich, doch sie überragten ihn durch ihren cleveren Witz. Alle beide legten es regelrecht darauf an, ihren verdienten Lohn zu kriegen – Borodin in Prag, Altunin in Frankreich, wo er politisches Asyl bekommen hatte. Er war abgetaucht, verheimlichte, wo er sich aufhielt, aber Jewgeni war sich sicher, dass er früher oder später bekäme, was ihm zustand. So wie Borodin. Jedem nach seinen Leistungen und Verdiensten.

You have finished the free preview. Would you like to read more?