Die Residentur

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„Die größten Erfolge erzielen heterogene Teams, die aus Männern und Frauen unterschiedlichen Alters aus diversen Spezialgebieten zusammengesetzt sind und die ein gemeinsames Ziel verbindet. Verschiedene Persönlichkeiten haben verschiedene Methoden, Erfahrungen und Kenntnisse, und wenn sie sich gegenseitig respektieren, sind sie in der Lage, praktisch jede Aufgabe zu lösen.“ So war es auf einem internationalen Fachsymposium zu hören, das im Rahmen des EU-Programms Entwicklung von Humankapital veranstaltet wurde.

news.cz/kariéra

„Hauptkommissarin Alte?“, fragte der weißhaarige Rentner am Empfang unsicher. Beim Morddezernat arbeitete er erst seit Kurzem zur Aushilfe und kannte die Kriminalisten noch nicht so gut.

„Ja?“

„Für Sie.“ Er reichte ihr eine Ansichtskarte über den Tresen und lächelte. „Meine Schwester heißt auch Marta. Schöner Name.“

„Danke.“

Während sie zu den Drehkreuzen ging, hob sie sich die Karte vor die Nase. Zu sehen war eins von Marc Chagalls Zürcher Kirchenfenstern. Sie wusste sofort, von wem der Gruß stammte. Kurz überlegte sie, das Ding gleich wegzuschmeißen, aber das wäre eine kindische Geste. Sie passierte die Einlasssperre und drehte die Karte um. Der Text war kurz: Der Zufall hat mich an einen Ort geführt, den ich mit einer unvergesslichen Frau verbinde. D.

Sie steckte die Karte in ihre Handtasche und machte sich auf den Weg zu ihrem Büro. Warum hatte Dan ihr hierher geschrieben und nicht nach Hause? Und warum überhaupt? Falls das ein Versuch sein sollte, ihre Beziehung wieder aufzuwärmen, hatte er nicht die geringsten Erfolgsaussichten.

„Guten Morgen“, hörte sie hinter sich. Sie drehte sich um und blieb stehen. Marián Holina näherte sich mit unübersehbar guter Laune, zweifellos verursacht durch die Menge an freigesetzten Endorphinen im Blut. Er trug Radfahrschuhe und hatte einen schwarzen Strich an der Nase. Noch vor ein paar Jahren war er der Einzige aus dem gesamten Dezernat, der mit dem Rad zur Arbeit kam. Er nutzte es auch für dienstliche Wege. Lange hatte er sich dafür von seinen Kollegen nur ein nachsichtiges Lächeln eingehandelt, aber in letzter Zeit war Marta aufgefallen, dass sich einige jüngere Polizisten von seinem Beispiel inspirieren ließen.

„Hallo Marián“, erwiderte sie seinen Gruß. „Kannst du so früh am Morgen Kritik ertragen?“

„Nur wenn sie gut gemeint ist.“

„Das musst du selber entscheiden“, sagte sie. „Du hast Dreck an der Nase.“

Er zückte ein Taschentuch und rieb sich über die Nase. Aus dem schmalen schwarzen Strich wurde ein breiter grauer.

„Weg?“

„Fast.“

Er wiederholte den Versuch mit mehr Gründlichkeit. Der Strich war weg, die Nase dafür rot.

„Und?“

„Jetzt kannst du dich in den Arbeitsprozess stürzen.“

„Vorm Frühstück? Das kannst du doch nicht ernst meinen?!“

Sie waren kurz vor der Kantine. Aus der offenen Tür wehte ihnen eine Mischung aus satten Gerüchen entgegen, was umgehend Holinas Schrittfrequenz erhöhte.

„Darf ich dich auf einen Kaffee einladen?“, fragte er.

„Lieber auf ein Ei“, schlug sie vor. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, erst am Mittag in die Kantine zu gehen, aber die Begegnung mit dem Kollegen hatte sie dazu gebracht, ihr Programm zu ändern. Sie beschloss, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Aus irgendeinem Grund war sie heute Morgen noch im Dunkeln aufgewacht, und weil sie nicht wieder einschlafen konnte, hatte sie die Arojan-Akte aufgeschlagen. Drei Stunden hatte sie davorgesessen und auf nüchternen Magen drei große Becher Kaffee getrunken. Nun revoltierte ihr Verdauungstrakt. Ein Ei würde ihn hoffentlich etwas beruhigen, und ein Gespräch mit Holina könnte einige Unklarheiten beseitigen, die ihr beim Aktenstudium aufgefallen waren.

„Ich hatte sowieso vor, mit dir zu reden“, sagte sie. Sie betraten die Kantine und steuerten auf den Tresen zu.

„Über Arojan?“

„Du weißt also schon Bescheid. Wer hat’s dir gesagt?“

„Mindestens sechs Leute.“

Dass er so gut informiert war, bestätigte Marta wieder einmal, dass das Morddezernat ein einziger Tratschverein war. Hier wurde alles, aber auch alles durchgehechelt, bei Weitem nicht nur Dienstangelegenheiten. Holina versuchte zwar, sich rauszuhalten, wurde aber trotzdem wie jeder andere von Dutzenden unerbetenen, hin und wieder wahrheitsgemäßen, viel häufiger aber stark verzerrten oder völlig falschen Informationen überschüttet. Marta nannte das „Buschfunk-Spam“ und zweifelte nicht im Geringsten daran, dass auch sie ein beliebtes Thema war.

„Kennst du Jukl?“, fragte sie.

„Persönlich nicht. Nur über die Rieger-Affäre, beziehungsweise …“ Er griff in den Brotkorb, nahm sich ein Hörnchen und biss ihm die Spitze ab.

„Beziehungsweise Frau Riegrová“, beendete sie den Satz für ihn.

„Rieger oder Riegrová, Fakt bleibt, dass der Hejtman ausgehejtmant hat.“ Holina ließ den Bissen in seinem Mund herumwandern, als wolle er herausfinden, ob es sich lohnte, ihn auch tatsächlich zu verzehren. „Und Jukl hat sich fraglos verdient darum gemacht. Sprich, er wird wohl keine absolute Nullnummer sein.“ Er schluckte, schenkte dem Hörnchen mit einem kurzen Nicken seine Gnade, legte es sich auf den Teller und fischte mit der Zange eine Bockwurst aus dem Würstchenwärmer. „Oder siehst du das anders?“

„Bis jetzt bin ich noch nicht dazu gekommen, mir eine Meinung zu bilden.“ Wie eine absolute Nullnummer sah Brian wirklich nicht aus, er äußerte sich auch nicht so, aber Marta wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen. Aus Erfahrung wusste sie, dass Blödheit in vielerlei Gestalt daherkam. Es gab auch sehr intelligente Blödmänner.

„Mal sehn, was er so zu bieten hat.“ Marta wollte mit Holina aber nicht über ihren neuen Partner sprechen, sondern über Geworg Arojan. Sie nahm sich aus dem Korb mit den gekochten Eiern das kleinste heraus (allzu große Eier evozierten bei ihr die Vorstellung, unter welchen Schmerzen sie gelegt worden waren, was den Genuss regelmäßig schmälerte), wartete, bis ihr Kollege gezahlt hatte, und ging an seiner Seite zu einem Tisch am hinteren Ende des Speiseraums, wo sie nicht Gefahr liefen, dass jemand sie stören würde.

„Ich hab mir dein Tatortprotokoll durchgelesen, die Aussage von dem Mieter aus dem Erdgeschoss und das andere Material, und ich hab mir die Fotodokumentation angeguckt. Jetzt hab ich ein paar Fragen an dich“, sagte sie, kaum dass sie Platz genommen hatten. „Es geht durch die Bank weg um Details.“

„Die Details hab ich vermutlich schon vergessen. Das ist über ein halbes Jahr her, und ich war nur kurz an dem Fall dran.“

In seinem Tonfall spürte sie leichten Unwillen. Ihr wurde bewusst, dass sie sich für ihre Fragen nicht den besten Zeitpunkt ausgesucht hatte. „Entschuldige bitte. Wahrscheinlich willst du in Ruhe essen.“

„Ich esse immer in Ruhe“, versicherte er ihr und versenkte die Messerklinge in die Bockwurst. „Ein Journalist, über dem schon sechs Monate lang Gras wächst, kann daran nichts ändern. Der Mord an Arojan macht hier eindeutig keinen heiß, wie sollte er also mich aus der Ruhe bringen?“

„Glaubst du, das Ganze geht niemandem nah?“

„Warum hätte man sonst die Spur kalt werden lassen?“, gab Holina zu bedenken.

„Der Fall ist vom Pech verfolgt. An dem haben sich viel zu viele Leute abgewechselt, was ihm nicht weitergeholfen hat. Das kann sich noch ewig hinziehen.“

„Da hast du recht. Anna Politkowskaja ist 2006 erschossen worden, und erst acht Jahre später saßen die Mörder hinter Gittern. Und den, der sie bezahlt hat, den haben sie bis heute nicht dingfest gemacht. Aber …“ Holina verstummte.

„Aber?“ Marta richtete ihren fragenden Blick auf ihn. Unwillkürlich musste sie an das Treffen in Karochs Büro und Jukls Frage denken: „Pro forma arbeiten? Also nur so tun, als ob?“ Gestern hatte sie das für einen ungeschickten Versuch gehalten, witzig zu sein, aber jetzt fiel ihr mit einem Schlag ein, ob nicht etwas anderes, weniger Witziges dahintersteckte.

„Aber?“, sagte sie noch einmal. Statt zu antworten, steckte Holina sich das abgeschnittene Stück Bockwurst in den Mund und vertilgte es schweigend. In seinen Kaubewegungen lag eine dermaßen beharrliche Regelmäßigkeit, dass es so aussah, als liefen seine Kiefer im Batteriebetrieb. Bis der Saft schließlich alle war.

„Aber wir sind hier nicht in Russland“, beendete er seine Ausführungen. „Zumindest hoffe ich, dass wir immer noch in Mitteleuropa sitzen. Also, nur Mut, und ran an die Sache. Was für Fragen hast du denn an mich?“

Sie holte den Zettel heraus, auf dem sie sich zu Hause Notizen gemacht hatte. Sobald sie die Antworten hätte, würde sie alles in die Datei GewAroMEA_1 (Geworg Arojan, Mordermittlung/Abschluss) eintragen, die sie gestern angelegt hatte. Falls sie weitere Dateien bräuchten, würde sie ihnen einfach eine neue Endziffer zuweisen. Sie arbeitete nach einem bewährten System. Jahrelang hatte sie es immer weiter perfektioniert und wusste, dass sie sich darauf verlassen konnte. Es war universell einsetzbar. Auf den Charakter der Fälle kam es nicht an; sobald sie in einer Sackgasse angekommen war, führte ihr System sie wieder heraus. Grundlegend waren Details. Details einer Ermittlung, Details eines Verbrechens, Details jeglichen menschlichen Handelns waren der Schlüssel zu Erfolg oder Misserfolg. Das hatte sie schon vor langer Zeit festgestellt und wurde darin auch immer wieder bestärkt.

„Die erste Patrone kam aus dem Auto“, frischte sie das Gedächtnis ihres Kollegen auf. „Die zweite auch. Beide haben Arojan von hinten getroffen. Eine am Oberarm, die zweite ist ins rechte Schulterblatt eingedrungen.“

 

„Ein blauer Octavia. Gestohlen. Der ist später ausgebrannt außerhalb von Prag gefunden worden.“

„Ich seh schon, du hast die Details echt vergessen“, bemerkte sie ironisch und machte dann mit der Aufzählung weiter: „Die dritte Patrone hat das Herz erwischt. Den Blutspuren nach zu urteilen, hat Arojan es nach dem zweiten Treffer geschafft, noch wegzuhumpeln …“

„Er ist auf Knien gerutscht“, korrigierte Holina sie. Es war klar, dass ihm der Arojan-Fall trotz der kurzen Zeit, die er daran gearbeitet hatte, im Gedächtnis geblieben war. „Er ist ein paar Meter weit bis zu den Müllcontainern an der Ecke gekommen. Die letzte Patrone hat er direkt neben denen verpasst gekriegt.“

„Das heißt, der Mörder ist aus dem Auto gestiegen und hat den dritten Schuss auf Arojan von vorne abgegeben. Da simmt der Ballistikbericht mit der Aussage von dem Mieter aus dem Erdgeschoss überein.“

„Herr Jirásek. Oder hat sich noch jemand gemeldet?“

„Leider nicht.“

„Schade. Die Aussage von Jirásek wird dir nichts nützen.“

„Warum?“

„Testis unus, testis nullus. Jirásek ist nicht nur der einzige Zeuge, er ist außerdem schon neunzig. Der war ziemlich neben der Spur, hat sich dauernd widersprochen.“

„Bei was?“

„Erst hat er geschworen, dass er den Mord von der Küche aus gesehen hat. Das kam mir aber komisch vor.“

„Wieso?“

„Er hat am Küchenfenster ein großes Aquarium. Da durch hätte er gar nicht bis zu den Containern gucken können. Als ich ihn darauf aufmerksam gemacht hab, hat er ohne mit der Wimper zu zucken gesagt, dass er’s aus dem Zimmerfenster gesehen hat. Dort stehen ihm aber wieder Bäume im Weg. Das Auto, mit dem der Mörder gekommen ist, das hat er sich erstaunlicherweise korrekt gemerkt, aber ansonsten hat er sich in mehreren Dingen widersprochen.“

„Summa summarum hältst du seine Aussage nicht für maßgeblich“, fasste Marta zusammen.

„Ich würde ihn nicht ganz abtun. Bei allen Einschränkungen ist er immerhin in der Lage gewesen, die Polizei zu rufen und den Mord zu melden. Ich hab ihn gleich vernommen, als ich vor Ort war, aber da war bei ihm schon alles durcheinandergeraten und der Schock hatte seine Wirkung gezeigt. Es hatte keinen Sinn, ihn zu quälen. Ich hab mir damals gesagt, dass ich noch mal mit ihm rede, wenn er sich wieder beruhigt hat.“

„Wozu du nicht mehr gekommen bist.“

„Ich geh davon aus, dass Mirek Vačkář ihn verhört hat. Als ich ihm den Fall übergeben hab, da hab ich ausführlich jede Kleinigkeit mit ihm durchgesprochen, auch aus dem Bereich der Vermutologie. Allerdings hört Vačkář absolut nicht auf Vermutologie. Du wahrscheinlich auch nicht, oder?“

Er blickte Marta aufmerksam an. Sie hatten nie zusammen in einem Team gearbeitet, sie kannten sich nur aus Besprechungen. Nach Ansicht des Buschfunks war Holina ein leichter Spinner. Das äußerte sich unter anderem darin, dass er bei den Ermittlungen zu eigenwilligen Praktiken griff. Angeblich mit Hilfe von Horoskopen erstellte er Profile von Opfern und Tätern. Mit modernen forensischen Methoden war das unvereinbar, und es widersprach auch Martas Überzeugung, dass ein psychologisches Profil eine veränderliche Größe war, die man im Prinzip nicht erfassen konnte. Aber in Anbetracht von Holinas hoher Erfolgsquote tolerierte Karoch seine Sternendeuterei nicht nur, sondern er machte sogar noch finanzielle Mittel für Weiterbildungen locker.

„Wenn du die Astrologie meinst – damit kann ich tatsächlich nichts anfangen.“

„Astrologie hat nichts mit Vermutologie zu tun, das ist eine uralte Wissenschaft. Die Ägypter haben nach ihr die Toten bestattet, die alten Griechen Krankheiten therapiert, die Römer geherrscht und Kriege geführt. Ich analysiere mit ihrer Hilfe ein Verbrechen“, erläuterte er ganz ruhig. „Wenn ich von Vermutologie spreche, denke ich an keine Wissenschaft, sondern an mein Bauchgefühl – in Bezug auf den Tatort und die Tatausführung, auf Jirásek, auf Arojans frühere Tätigkeit …“

„Was weißt du davon?“, fiel sie ihm ins Wort.

„Hast du nicht zu ihm recherchiert?“

„Ich weiß, dass er Investigativjournalist war. Spezialisiert auf Russland und Osteuropa. Nach der Krim-Annektion hat er Reportagen aus der Ukraine geschrieben, und als an der russisch-kasmenischen Grenze die Unruhen ausgebrochen sind, ist er als Korrespondent dort hingefahren.“

Holina nickte. „Ein Jahr hat er praktisch direkt vom Schlachtfeld aus geschrieben. Er war absolut kompromisslos, regelrecht fanatisch, könnte man sagen. Extrem engagiert.“

„Hältst du sein Engagement für den Grund, dass er ermordet worden ist?“

Zögernd bejahte er das. „Er hat alleine gelebt, außer entfernten Verwandten hatte er keine Familie, ich glaube, dass der Politjournalismus nicht nur ein Motor für sein Leben war, sondern auch das höchstwahrscheinlichste Motiv, ihn aus dem Weg zu räumen. Verbissene Journalisten sind nicht nur Jäger, sondern auch gejagtes Wild. Die werden fünfzig, wenn sie Glück haben. Arojan ist noch nicht mal auf die Vierzig zugegangen. Wenn ich an dem Fall drangeblieben wäre, hätte ich garantiert versucht rauszufinden, wem er da so schmerzhaft aufs Hühnerauge getreten ist, und dann würde ich die Fahndung genau in diese Richtung lenken. Hat Vačkář das nicht getan?“

„Arojan ist auf dermaßen viele Hühneraugen getreten, dass unser Problem eher ist, uns eins davon auszusuchen.“

„Dazu hast du Jukl. Halt ihn nicht an der kurzen Leine, lass ihn der Spur folgen.“

„Die ist bloß inzwischen kalt“, erinnerte Marta ihn.

„Wie’s aussieht, hat Jukl aber eine gute Nase.“

Vernehmung von Pavel Pekárek, Student an der TU (die Vorladung für den 2.11. hatte er aus Krankheitsgründen nicht wahrgenommen) Der Vorgeladene urteilt über seine Beziehungen zu K. Borodin, Staatsbürger der Russischen Föderation, dass sie nicht über den Rahmen des gemeinsamen Studiums hinausgegangen seien. Einen persönlichen Kontakt zu G. Arojan verneint er. Auf Nachfrage teilt er zu L. Manusch mit, dass sie sich flüchtig gekannt hätten. Er gibt an, dass sie lediglich ihre Aktivitäten im Schachklub verbinden würden. Aus den Zeugenaussagen (24.10., 26.10.) zur Feststellung der tatsächlichen Sachlage geht hervor, dass P. Pekárek von ihnen wiederholt in Gesellschaft von K. Borodin und L. Manusch in der Gaststätte gegenüber dem Masaryk-Studentenwohnheim gesehen wurde …

Aus der Polizeiakte

Die stachelig zu Berge stehenden Haare, der Stiernacken und die von Sommersprossen übersäten Wangen stimmten mit dem Foto aus der Akte überein. Im Strom der Studierenden, der sich in den Hörsaal ergoss, zog der zerzauste junge Mann mit der Brille sofort Brian Jukls Aufmerksamkeit auf sich.

„Pavel Pekárek?“, rief er, als der Student an ihm vorbeikam. Der drehte sich nach ihm um. Es war ein dreister Blick, und die dicken Brillengläser vergrößerten die Dreistigkeit noch. Brian entschied sich sofort fürs Duzen. „Ich würde gern mal mit dir reden.“

„Über was?“

Er griff in die Tasche und zeigte seinen Dienstausweis.

„Kriminalkommissar Brian Jukl“, las der junge Mann laut vor und grinste. „Schon wieder ’n Bulle“, sagte er in einem Tonfall à la: Wegen dir scheiß ich mir bestimmt nicht ins Hemd. „Es geht um Arojan, oder? Ich hab schon alles gesagt. Und nichts hinzuzufügen.“

„Es haben sich neue Fakten ergeben.“

Pavel setzte zwar weiterhin einen Fuß vor den anderen, aber merklich langsamer als zuvor. Seine flink umherhuschenden Augen verrieten Brian, dass seine Neugier geweckt war.

„Was für Fakten?“

„Das erfährst du, wenn du mir einen Moment von deiner Zeit schenkst.“

„Was stellst du dir unter dem Begriff ‚Moment‘ vor? Brian …“

„Mehr als zehn Minuten halt ich dich nicht auf.“

„Fünf.“

Pavel ging an der Hörsaaltür vorbei, schwenkte Richtung Fenster ab und ließ sich auf dem Fensterbrett nieder. Ließ sich regelrecht drauffallen. Er war untersetzt, einen Großteil seines dreiundzwanzigjährigen Lebens hatte er offensichtlich vor dem Monitor sitzend verbracht, in der einen Hand die Maus, in der anderen eine Tüte Chips.

„Dann leg mal los“, forderte er Brian auf.

„Hast du ihn gekannt?“

„Arojan? Nur über Kumpels.“

„Über Kirill Borodin und Lewan Manusch?“

„Über Kirill.“

„Lewan kennst du nicht?“

„Da müssten wir erst mal klären, ob wir unter dem Begriff ‚kennen‘ beide dasselbe verstehen. Ich weiß, dass er im Fernstudium gerade seinen Magister macht, dass er Redakteur bei der Schachwoche ist und bei CzechMobile arbeitet, mir ist bekannt, dass er noch vor Kurzem für die Uni Basketball gespielt hat. Ich weiß nicht, ob er immer noch spielt, denn zwei Arschlöcher haben ihn krankenhausreif geschlagen. Ich habe gehört, dass das auf einer Friedensdemo passiert ist und dass er dabei fast draufgegangen wäre. Ich gehe davon aus, dass es die tatkräftige tschechische Polizei bis heute nicht geschafft hat, die Schweine zu kriegen. Sind das genug Infos für dich, damit du jetzt weißt, ob ich Manusch kenne oder nicht?“

Pavels schneidender Tonfall in Kombination mit seinem hohen IQ, das waren scharfe Geschütze. Brian verschränkte die Arme vor der Brust, um sich einen Schutzschild zu verschaffen.

„Dann zu Borodin: Was hat er dir über Geworg Arojan gesagt?“

„Ich weiß nicht, was dich konkret interessiert.“

„Woher haben sie sich gekannt? Zwischen ihnen war ein ziemlich großer Altersunterschied. Der eine Kasmenier, der andere Russe. Was hat sie verbunden? Was hat sie getrennt? Hat Borodin Arojan nur professionell gekannt oder auch privat? Hat er im Zusammenhang mit ihm auch mal jemand anderen erwähnt?“

„Das hab ich alles schon deinen Kollegen beantwortet. Sogar mehrmals. Redet ihr Schnüffler nicht miteinander?“

„Kommt drauf an“, antwortete Brian. Pavels nassforsche Art regte ihn auf, aber gleichzeitig hatte er auch Verständnis dafür. Er provozierte ja selber gern – manchmal zum Preis der Selbstzerstörung. „He, he, Brian, dich lochen sie bald ein“, hatte ihm der Hausmeister in der Oberstufe immer prophezeit, ein hinterhältiger Fiesling, der den Schülern auf hundsgemeine Art das Leben schwer machte und dem er als Revanche genauso üble Streiche spielte. Fast wäre er seinetwegen von der Schule geflogen, die unheilvolle Prophezeiung war bisher allerdings noch nicht in Erfüllung gegangen. Im Gegenteil, ein paar ähnlich tückische Widerlinge, wie der Hausmeister einer war, hatte Brian inzwischen selbst hinter Gitter befördert oder war zumindest in hohem Maß daran beteiligt gewesen.

„Ich bin noch nicht lange an dem Fall dran“, sagte er zur Erklärung. „Ich hab ihn bloß übernommen.“

„Wann denn?“

„Gestern.“

Pavel nickte. „Neue Besen kehren gut.“

„Wenn du mir sagst, wo ich Borodin finde, stehl ich dir nicht länger deine Zeit. Kommt er zur Vorlesung?“

Obwohl Brian ununterbrochen die Studierenden, die in den Hörsaal strömten, beobachtet hatte – Kirill Borodin hatte er unter ihnen bis jetzt nicht entdeckt. Er wusste, dass er ihn erkennen würde. Er war nicht so auffällig wie Pavel, aber Brian hatte sein Aussehen gut in Erinnerung, sowohl aus dem Personenregister als auch aus einem Amateurvideo auf YouTube. Einem höchst bemerkenswerten Video. Er hatte es sich immer wieder angeschaut und alle damit zusammenhängenden Kommentare gelesen. Borodin interessierte ihn nicht nur als Teil seiner Ermittlungen, sondern auch als Mensch. Er wollte ihn so bald wie möglich treffen.

„Keine Ahnung, ob er kommt. Er sagt mir auch nicht alles.“

„Über Arojan habt ihr aber geredet. Was hat euch so an ihm fasziniert?“

„Bist du auf seinem Blog gewesen?“

„Gestern hab ich dort ungefähr eine Stunde verbracht.“

„Dann weißt du ja, dass er keinen mit Samthandschuhen angefasst hat. Er hat in hohem Bogen auf Autoritäten geschissen und keine Angst gehabt. Er war schlau, er war unabhängig, er war klar.“

„Klar antirussisch“, präzisierte Brian. „Was mich bestimmte Schlüsse ziehen lässt. Woher weißt du überhaupt, dass er mit Borodin befreundet war? Kannst du das beweisen?“

„Warum soll ich das beweisen?“

„Vielleicht hab ich Zweifel an der Freundschaft.“

„Dein Problem.“

„Du deckst ihn.“

„Der neue Besen hat noch nicht erfahren, dass Kirill ein felsenfestes Alibi hat. Oder deckt ihn auch der Nachtbusfahrer, der ihn genau zu der Zeit befördert hat, als auf Arojan geschossen worden ist?“

 

So wie alles auf der Welt nutzte sich auch Pavels ätzende Art durch wiederholten Gebrauch ab. Brian fiel auf, dass sie ihn nicht mehr aufregte. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und sprach ruhig weiter: „Du und Borodin, ihr wohnt im Masaryk-Wohnheim. Gestern Abend hab ich ihn dort gesucht, vergeblich. Hat er noch einen anderen Schlafplatz?“

„Frag ihn doch.“

„Würd ich ja gerne. Wo ist er denn?“

„Weiß nicht.“

„Wer könnte es denn wissen? Vielleicht seine Freundin? Sofie Faflíková? Könnte er bei ihr sein?“

„Alles ist möglich.“

„Wie lange hast du ihn nicht mehr gesehen?“

„Ich muss los.“

„Du hast versprochen, dass du mir fünf Minuten gibst. Die sind noch nicht um“, sagte Brian. Er trat einen Schritt näher an Pavel heran und senkte die Stimme: „Du, mir ist klar, dass du versuchst, ihm zu helfen, aber das ist gar nicht nötig. Ich will ihm nichts anhängen. Ich würde nur einfach gerne mit ihm reden, das ist alles.“

Pavel stand ruckartig auf – so heftig, als hätte er Adrenalin injiziert bekommen.

„Solches Bullengeschwätz hat er schon mehr als genug gehört“, ging er auf Brian los. „Warum lasst ihr ihn nicht endlich in Ruhe? Wollt ihr, dass er überschnappt? Oder wollt ihr ihn raus haben? Rechnet ihr damit, dass er seine Koffer packt und abhaut?“

„Wohin würde er deiner Meinung nach abhauen?“

„Wohin schon! Zu Hause ist es immer am schönsten …“

„Du meinst, zu Hause in Wolgograd?“ Brian nahm sein Telefon und suchte bei YouTube nach etwas. „Wenn sich Borodin zu Hause so wohl gefühlt hat, warum ist er dann nicht geblieben? Seine Eltern leben in Wolgograd, er hat dort studiert … Warum ist er aus heiterem Himmel aufgebrochen und nach Prag gekommen?“ Er stellte Fragen, auf die er teilweise schon die Antworten kannte. Aber er musste mehr wissen. „Er muss doch hier in Tschechien ganz von vorne angefangen haben, das war für ihn garantiert nicht leicht. Er hat einen Haufen Zeit verloren. Was hat ihn dazu gebracht?“

„Wenn du mit dem Plausch weitermachen willst, dann lad mich vor“, empfahl Pavel und marschierte davon.

„Prima. Wir können uns dort auch zusammen ein Video angucken“, rief Brian ihm hinterher. „Kennst du das zum Beispiel?“ Mit ein paar schnellen Schritten hatte er Pavel eingeholt und schob ihm sein Telefon vor die Augen.

„Wie ich sehe, der neue Besen ist nicht faul“, raunzte Pavel. „Wie gefällt dir denn die Szene? Ich find sie niedlich.“

„Ich finde allerdings, dass sie Borodin zu Hause eher nicht mit offenen Armen willkommenheißen.“

„Für eine Menge Russen ist er ein Held.“

„Wahrscheinlich gehört zu denen aber weder der Gouverneur von Wolgograd noch die Vorsitzende der Freunde Großrusslands. Und ganz bestimmt auch nicht der Rektor der Staatlichen Universität, der mit Borodins Studium vor drei Jahren kurzen Prozess gemacht hat.“

„Nicht schlecht“, bewertete Pavel die Summe von Brians Erkenntnissen.

„Danke.“

„Das hast du alles aus dem Netz?“

„Wie du selbst gesagt hast: Der neue Besen ist nicht faul“, bestätigte Brian. Und die Freunde des Besens auch nicht, fügte er in Gedanken hinzu. Bob und Bobek waren Freunde von ganz besonderem Schlag. Sie drei kannten sich schon vom Studium, hatten zusammen mehrere Jahre beim Inlandsgeheimdienst BIS verbracht, dann waren alle drei bei der Staatlichen Zentralstelle organisierte Kriminalität vor Anker gegangen. Jede weitere Erfahrung hatte ihr gegenseitiges Vertrauen noch vertieft. Sie teilten sogar Dienstgeheimnisse, und auch wenn sie an noch so delikaten Fällen arbeiteten, fühlten sie sich untereinander nicht an ihre Verschwiegenheitspflicht gebunden. Brian hatte es bei der Aufdeckung von Riegers unlauteren Praktiken nicht nur geholfen, dass er sich über Gebühr gut mit der Frau des Hejtmans verstanden hatte, sondern eine noch größere Unterstützung waren für ihn die Informationen von Bob und Bobek gewesen, die zu dem Team gehört hatten, das die Hinterziehungen von Förder- und Steuergeldern durch den Regierungschef untersucht hatte. Rieger war im großen Meer der Machenschaften des Premierministers nur ein kleiner Fisch gewesen, aber dank B + B + B war er zu einem guten Fang geworden. „Jungs, auf die drei Köpfe des Drachens“, hatte Bob verkündet, als sie Riegers Festnahme begossen. „Denkt dran, solange wir ein dreiköpfiger Lindwurm sind, sind wir unbesiegbar!“ Das war keine Übertreibung. Das Teilen von Informationen und Erfahrungen machte sie zu einem leistungsfähigen Organismus. Zusammen waren sie fähig, das Dreifache dessen zu wissen, herauszufinden, zu verifizieren oder zu verfolgen, wozu jeder andere Polizist in der Lage gewesen wäre. Und vor allem dreimal so schnell.

„Borodins niedliche Szene hat eine richtig stürmische Reaktion ausgelöst“, sprach Brian weiter. „Wenn er nicht naiv ist, dann muss er wissen, dass es ihm bei einer Rückkehr nach Wolgograd an den Kragen gehen könnte.“

Pavels Blick sprang unvermittelt zur Seite. Nur für einen winzigen Moment und fast unmerklich. Brian drehte sich um – gerade rechtzeitig, um neben der Hörsaaltür das Gesicht dieses Mädchens zu sehen. Anschließend sah er nur noch ihren sich schnell entfernenden Rücken. Sie trug einen karierten Rucksack, über den eine dichte Lockenmähne fiel. Er begriff sofort, zu wem sie gehörte.

„Sofie?“, rief er. Seine Stimme wirkte auf sie wie Sporen – sie rannte los. Brian stürzte ihr nach. Sie war keine begnadete Läuferin, außerdem musste sie im Foyer in dem Gewimmel aus Studierenden Haken schlagen, was sie ausbremste. Am Haupteingang hatte er sie eingeholt und packte sie von hinten an der Schulter. Sie riss sich los und schlüpfte nach draußen.

Für die Rückkehr von Stalins Namen in den Namen der Stadt hat sich auch die Russische Orthodoxe Kirche ausgesprochen. „Wir tun, was die Menschen beim Referendum entscheiden“, sagte der russische Präsident, der den Gedanken begrüßt, die Heldenstädte wiederzubeleben. Und ich als #BürgermeisterWolgograd füge hinzu: Was am Komsomoldenkmal passiert ist, ist ein Ausdruck von Landesverrat und Vandalismus, und das werden wir nicht tolerieren!

#HeroCity on blipper.ru

Der Frühstücksansturm war vorüber, die Kantine leerte sich allmählich. Holina hatte aufgegessen und schielte zu Martas Handgelenk mit der Armbanduhr. Auch ihr Blick blieb dort hängen. Eine hübsche Uhr. Wenn Dan etwas nicht fehlte, dann war es Geschmack. Wer ihn nur oberflächlich kannte, hatte eine vollkommen falsche Meinung von ihm. Er konnte den Anschein eines feinsinnigen, sensiblen Mannes erwecken. In Wirklichkeit war er ein emotionaler Krüppel. Marta hatte lange gebraucht, ehe sie dahintergekommen war.

„Was ist mit der Aussage von dem Russen?“, sagte Holina.

„Du meinst …“

„… den Studenten aus Wolgograd …“

Sie ließ ihren Blick über ihre Notizen gleiten und stoppte bei einem Namen, hinter dem mehrere Fragezeichen standen.

„Hier: Kirill Borodin“, las sie laut vor. „Studiert in Prag an der TU Informatik. Er behauptet, dass er mit Arojan befreundet war. Vačkář hat ihn von Anfang an auf dem Schirm gehabt.“ Sie hob den Blick. „Du hast ihn auch vernommen – was für einen Eindruck hat er auf dich gemacht?“

Holina nahm einen Schluck Kaffee und schaute nachdenklich über den Tassenrand.

„Die kasmenische Minderheit bei uns ist eindeutig antirussisch eingestellt, aber das heißt erst mal noch nichts, es gibt immer Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Wenn ich mich recht entsinne, hat Borodin ausgesagt, dass er mit Arojan zusammen war, kurz bevor er ermordet wurde. Sie haben sich ein paar Straßen vom Tatort entfernt verabschiedet. Stimmt’s, was ich sage?“

Marta nickte. Genau diese räumliche und zeitliche Nähe hatten bei Vačkář von Anfang an einen Verdacht geschürt. „Wie bist du eigentlich auf ihn gekommen?“

„Er hat sich selber gemeldet. Unglaublich schnell. Er ist mir irgendwie …“ Holina zog die Augenbrauen zusammen, offensichtlich bemüht, sich Borodin in Erinnerung zu rufen. „Ich weiß nicht. Ein seltsamer Typ.“

„Wieso seltsam?“