Die Residentur

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TeleČesko, „Guten Morgen Mähren!“

Der Saal leerte sich, die Besucher der Wahlkampfveranstaltung strömten nach draußen. Im Flur stand auf einem langen Tisch ein Büffet bereit; der ČMD-Ortsvorsitzende hatte dafür gesorgt, dass es ausschließlich aus regionalen Spezialitäten bestand. Er wusste, dass die Menschen hier in Znojmo das begrüßten, genauso wie sie regionale Ausdrücke zu schätzen wussten, mit denen er im Verlauf der Podiumsdiskussion nicht gegeizt hatte. Er war jovial gewesen und hatte auch Štěpán Chytil zu einer volksnahen Sprechweise angestachelt. „Übertreiben Sie’s nicht mit Ihrer Korrektheit, reden Sie frei von der Leber weg. Sie können zwar nicht mit einem mährischen Großvater auftrumpfen, aber die Leute müssen spüren, dass Sie einer von ihnen sind“, hatte er ihn vor Beginn der Versammlung gebrieft. „Wenn Sie wollen, dass die da Ihnen ihre Stimme geben, dann zeigen Sie denen, dass Sie sich für ihre Interessen ins Zeug legen werden. Und das sind nicht nur Weinberge und Gurken, sondern auch das Recht darauf, seine regionale Identität zu behalten.“

Štěpán war auf das Frei-von-der-Leber-weg-Sprechen allergisch, aber er tat, was in seinen Kräften stand. Nach etwa zwanzig Minuten Debatte, in der alle Themen angeschnitten worden waren, von Abgeordnetengehältern über die Kritik an der Waffenrichtlinie bis zu Ausfällen gegen die Schließung von Bergwerken und gegen die Flüchtlingspolitik, wurde die Stimmung im Publikum langsam gelöster, ein paarmal belohnte es den Kandidaten sogar mit Beifall. In der folgenden halben Stunde konnte er mit einem originellen Kommentar zur Entwicklung der europäischen Wirtschaft punkten, wobei mehrere Bonmots (die er zu Hause sorgfältig vorbereitet hatte und nun benutzte, als seien sie ihm gerade eingefallen) Gelächter hervorriefen. Er hatte den Eindruck, den überwiegenden Teil des Saals langsam auf seiner Seite zu haben. Es gab ein kleines Grüppchen Querulanten, aber die meisten Anwesenden gehörten offensichtlich zum Wählerstamm der ČMD. Es interessierte sie, ob seine Standpunkte mit dem Parteiprogramm korrespondierten, und sie testeten aus, ob er schlagfertig genug war, um unter den gewieften europäischen Füchsen für ihre Interessen einzustehen. Die Querulanten hingegen wollten herausfinden, ob er ausreichend unabhängig war. Der Schlussapplaus deutete an, dass zumindest einige aus beiden Lagern vorhatten, ihm ihr Vertrauen zu schenken.

Als er die Stufen von der Bühne hinunterging, fiel ihm auf, dass in der Brusttasche sein Handy vibrierte. Er schaute aufs Display, es war Alena.

„Wir sind gerade fertig“, sagte er statt einer Begrüßung und meinte es als Entschuldigung, dass er nicht von sich aus angerufen hatte. „Und? Ist er inzwischen aufgetaucht?“

„Er wird nicht auftauchen.“

„Wie meinst du das?“

„Er ist weggefahren.“

„Wohin?“

„Weiß nicht.“ Es klang, als hätte sie aufgehört zu atmen.

„Warum glaubst du, dass er weggefahren ist?“

„Er hat seine Sachen mitgenommen.“

Štěpán blieb stehen. Diese atemlose Art zu reden kannte er genau. So hatte sie nach dem Tod von Johanka gesprochen – wenn sie überhaupt etwas gesagt hatte.

„Was hat er alles mitgenommen?“

„Das Zelt, die Bergschuhe, den Schlafsack“, zählte sie auf. „Den Rucksack, ein paar Pullover, die Isomatte …“

„Hast du mit Veronika gesprochen?“

„Sie schwört, dass sie nichts von ihm weiß. Ich fahr zu ihr. Wenn die mich an der Nase rumführt, dann krieg ich das schon aus ihr raus.“ Es war der erste längere Satz, den sie geäußert hatte. Im nächsten Moment, als hätte sich ein Schleusentor geöffnet, sprudelte es so überstürzt aus ihr heraus, dass Štěpán sie kaum verstehen konnte. „Hanka Formánková hat angerufen, Martin hat das ganze Geld abgehoben, das auf seinem Konto war, ungefähr zwanzigtausend Kronen, also hab ich gleich auf Richards Konto nachgeguckt, das ist auch auf Null. Sie haben die Pässe mitgenommen. Keine Zeile zur Erklärung haben sie geschrieben, und die Telefone sind die ganze Zeit ausgeschaltet. Die Nachbarin von den Formáneks hat angeblich am Freitag Nachmittag gesehen, wie sie bei ihnen vorm Haus in ein Auto gestiegen sind. Am Freitag! Das heißt, vor vier Tagen!“

„In was für ein Auto?“

„Sie weiß nur, dass es grau war, sonst nichts.“

Die monotone Geräuschkulisse in Alenas Hintergrund wurde von einer Lautsprecherdurchsage und dem Zischen aufgehender Türen übertönt. Danach war noch ein Hupen zu hören, worauf er sich zusammenreimte, dass sie gerade auf ihrem Vorstadtbahnhof in den Zug gestiegen war. Obwohl sie eine ausgezeichnete Autofahrerin war, musste sie sich nach Johankas Tod immer sehr überwinden, um sich hinters Lenkrad zu setzen, und auch auf dem Beifahrersitz war sie immer nervös. Für den tragischen Verkehrsunfall hatte sie natürlich nicht die geringste Verantwortung gehabt, sondern ihr Exmann, Alena hatte allerdings dank eines verworrenen Denkprozesses die Schuld schließlich bei sich verortet. Gegen das Autofahren hatte sie eine Phobie entwickelt, die sie auch nach so vielen Jahren nicht geschafft hatte zu überwinden.

„Ich kann einfach nicht glauben, dass er Gott weiß wohin aufgebrochen ist und uns nichts gesagt hat. Warum hätte er das tun sollen?“

„Weil er weiß, dass er auf seinem Hintern sitzen und büffeln sollte“, bot ihr Štěpán eine logische Erklärung an. In seinem Kopf spulte er noch einmal die Ohrfeigenetüde zwischen sich und seinem Sohn ab. In ihm keimte der Verdacht auf, dass es da einen Zusammenhang zu Richards Verschwinden gab. Ins Hirn konnte er ihm nicht schauen, aber seine Bemerkung über Eržika (sinnlos, außerdem vulgär) hatte bewiesen, dass er heimlich in Štěpáns Sachen herumwühlte. Er musste Eržikas Briefe gelesen haben. Sie hatte sich darin zu ihren Gefühlen bekannt und zu der Angst, die sie nicht unter Kontrolle bekam. Sie hatte immer am Abend geschrieben, und wenn sie sich dann mit Štěpán traf, schob sie die Zettel heimlich in seine Tasche, damit er sie erst lesen würde, wenn er wieder alleine wäre. Es waren wunderschöne, zart erotische Briefe und für Štěpán hatten sie eine so tiefe Bedeutung, dass er sich nicht von ihnen trennen konnte. Die Vorstellung, dass sein Sohn sie gelesen hatte, war ihm im tiefsten Innern unangenehm. Außerdem gab es dort Anspielungen auf Dinge, von denen er niemandem erzählt hatte, und dazu hatte er auch seine Gründe.

„Und wenn ich aus Veronika nichts rauskriege, was machen wir dann?“

„Könnte nicht Hankas Mann was von ihnen wissen?“ Štěpán kannte Jakub Formánek nur flüchtig, aber er wusste, dass Martin und Richard ihn bewunderten. Er besaß einen großen Fitnessklub (davor hatte er eine große Lasergame-Arena und noch früher ein großes Kampfsportzentrum besessen) und benahm sich so, als kenne er große Geheimnisse. Geheimnisse von echten Kerlen. Štěpán ging das umso mehr auf die Nerven, als er hinter Richards Bewunderung den Respekt gegenüber primitiver physischer Kraft spürte, für die er selbst nach außen hin nur Geringschätzung übrig hatte, vor der er aber tief in seiner Seele panische Angst hatte – unter anderem auch, weil er von eher fragiler Konstitution war, seit einem weit zurückliegenden Bruch auf dem rechten Bein leicht hinkte und weder die Motivation noch die Ausdauer gefunden hatte, sich Muskeln anzutrainieren. Zu Zeiten, als Alena noch Wettkampfschwimmerin gewesen war und hart trainiert hatte, hätte sie ihn physisch ohne Mühe in die Knie gezwungen.

„Hankas Mann weiß momentan überhaupt nichts. Der hat ein hormonelles Blackout. Und kann sich nicht mal daran erinnern, wann er seinen Sohn zum letzten Mal gesehen hat.“ Alena verstummte und Štěpán stellte sich vor, wie sie zusammengesunken auf einem Sitz des halbleeren Vorortzugs hockte, das Gesicht zum Fenster gedreht, die Stirn unglücklich in Falten gelegt, die Sehnen am Hals angespannt, im hartnäckigen Versuch, keinen Nervenzusammenbruch zu kriegen.

„Ich komme“, sagte er. Er konnte sie jetzt nicht damit alleine lassen. Außerdem beunruhigte ihn, dass Richard seinen Pass mitgenommen hatte. Und sämtliches Geld vom Konto abgehoben. Das rückte seine Eskapade, die bis jetzt nach keiner großen Sache ausgesehen hatte, in ein neues Licht. Wer weiß, wo er hingefahren ist, und wer weiß, was er alles mitgenommen hat. Štěpán sah den Inhalt seines Safes vor sich und wurde noch unruhiger. Gab es denn nicht eine Stelle auf der Welt, die er als privat betrachten konnte? Er ließ seinen inneren Panoramablick über die Koordinaten seines Lebens gleiten und konnte keine solche Stelle finden. Auf einmal kam er sich vor wie ein Gejagter.

„Wann?“, hörte er Alenas leise Stimme.

„Wie – wann?“

„Wann du kommst.“

„Sofort. Ich muss hier nur noch kurz mit ein paar Leuten reden.“

Er hatte keine Zweifel, dass ihn Libor Fára, wenn er ihn darum bitten würde, mit dem Wahlkampf-Van nach Prag bringen lassen würde. Verständlicherweise müsste er sich einen vorgeschobenen Grund einfallen lassen. Richard erwähnen wollte er nicht. Noch größere Unlust verspürte er bei der Vorstellung, dass er mit dem Chauffeur Smalltalk machen müsste. Und das auch auf dem Rückweg, weil sie wegen der Veranstaltung in Uherský Brod am nächsten Morgen gemeinsam wieder zurückfahren müssten. Štěpán fand das alles auf einmal völlig sinnlos.

„Ich überlege gerade“, pirschte er sich langsam heran, „ob es nicht totaler Schwachsinn ist, dass ich …“

Aufgewühlt unterbrach sie ihn: „Ich hab so eine Ahnung, dass ihm was passiert ist. Hat er dir vielleicht was anvertraut? Nicht jetzt, ich meine, schon früher.“

„Was denn?“

„Er muss irgendwas erlebt haben … was für ihn irgendwie wesentlich war … Vielleicht hat er uns Signale gegeben …“ Sie seufzte tief. „Lieb von dir, dass du kommst.“

Štěpán begriff, dass er keine Wahl hatte. Vielleicht gab es zwischen Znojmo und Prag eine gute Busverbindung. Er könnte unterwegs arbeiten und Mails beantworten. Und morgen früh würde er mit seinem eigenen Auto nach Mähren zurückfahren.

 

„Entschuldige, ich muss Schluss machen“, sagte er. Am Büffet sah er den Ortsvorsitzenden und Fára. Sie standen da mit ein paar Leuten, die aussahen wie die örtlichen VIPs. Fára gab Štěpán ein Zeichen, dass er sich zu ihnen gesellen möge. Einem Treffen mit Lokalgrößen aus dem Weg zu gehen, gehörte zu den Fehlern, die sich rächen könnten – dass hatten sie am Anfang ihrer Mähren-Tour klar definiert.

„Also ahoj, bis später“, verabschiedete er sich von Alena. „Und falls du von Veronika was erfahren solltest, ruf mich an.“

Er steckte das Handy in die Tasche, und während er sich der kleinen Gruppe näherte, justierte er seinen Gesichtsausdruck auf freudige Erwartung.

„Alles in Ordnung?“, fragte Fára.

„Kleine Problemchen.“

„Was mit deinem Vater?“ Diese Frage war unnötig; Fára hatte sie gestellt, um Štěpán als besorgten Sohn zu präsentieren.

„Die üblichen Lappalien“, antwortete er und ärgerte sich, dass er ihm das mit Vaters Krankheit anvertraut hatte. Ihm hätte klar sein müssen, dass ein ambitionierter Parteifunktionär jede Information einsetzen würde, die geeignet wäre, „seinen Mann“ zu unterstützen. Falls sich morgen aus irgendeinem unvorhersehbaren Grund die Lage umkehren und Štěpán zum Kandidaten einer konkurrierenden Partei werden sollte, also ein Rivale, der verunglimpft werden müsste, würde Fára dieselbe Information nutzen, bloß in einem anderen Kontext, nämlich um ihn zu disqualifizieren. So lief’s in der nationalen Politik. Bert van Boxen hatte Štěpán einmal bei einem Glas Bier erklärt, dass Parteiensysteme überall so funktionierten, vor allem in kleinen Ländern, wo die Zahl aktiver Player begrenzt war, sodass jeder mit jedem verbandelt war und es wohl oder übel zu andauerndem innenpolitischen Inzest kommen musste. Zweifellos hatte er recht, aber der tschechische Inzest kam Štěpán aus irgendeinem Grund schmuddeliger und unappetitlicher vor als der niederländische. Wahrscheinlich, weil er ihn aus der Nähe betrachten konnte.

Er wandte seine Aufmerksamkeit den Menschen zu, die ihm der Ortsvorsitzende nun vorstellte. Es dauerte nicht lange, und er hatte sich auf den Tonfall ihrer Konversation eingepegelt. In kleinen Schlucken trank er mährischen Gewürztraminer und verscheuchte die Gedanken daran, was ihn zu Hause erwartete. Dass Richard vor einiger Zeit angefangen hatte, Interesse an seiner Pistole zu zeigen, war ihm natürlich nicht entgangen, aber er hatte nicht gewusst, wie er darauf reagieren sollte. Ein striktes Verbot hätte die Neugier seines Sohnes nur noch vergrößert, das war klar. Das hätte auch ihrer Beziehung nicht gut getan, die sowieso schon angespannt war. Um einem Konflikt auszuweichen, hatte Štěpán schließlich das Bequemstmögliche getan: Er hatte sich einen Safe zugelegt, die Waffe dort verstaut und die ganze Sache unkommentiert gelassen. Jetzt wurmte ihn das. Es war ein Fehler gewesen, dass er nicht mit Richard gesprochen, ihm keine klaren Grenzen gesetzt hatte, es war ein Fehler gewesen, dass er sich die Waffe überhaupt besorgt hatte. Trotz der beruhigenden Wirkung des Weins spürte er, wie er immer nervöser wurde. Eins nahm er sich vor: Falls sich seine Befürchtungen als nichtig herausstellen sollten und er bei seiner Rückkehr nach Prag die Pistole an Ort und Stelle vorfände, würde er sie aus dem Haus schaffen.

„Ich weiß Ihre klare Haltung zu unserer Außenpolitik sehr zu schätzen, Herr Ingenieur“, sagte ein Mann, der neben ihm stand, und beugte sich näher zu ihm. „Wir wissen doch alle, was diese sogenannten Flüchtlinge schon in Deutschland und anderswo angerichtet haben. Das müssen wir hier unbedingt verhindern. Das Rezept ist klar: Keinen aufnehmen!“

„Die andere Seite dieses Rezepts ist die Nichteinmischung“, sagte Štěpán. „Unser Prinzip sollte sein, uns nicht einzumischen.“

„Richtig. Und was Sie über die Sanktionen gegen Russland gesagt haben, das kann ich ebenfalls unterschreiben. Nicht nur Tschechien, ganz Europa soll sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, statt andauernd irgendwelche unwirksamen Strafen zu verhängen. Das gehört überhaupt nicht zu unseren Aufgaben. Die Leute wollen Ruhe. Was wir richtig gut können, ist arbeiten und Geschäfte machen, und daran sollten wir uns halten, oder?“

„So ist es. Wenn Europa Bedeutung haben will, muss es eine offene Wirtschafts- und Handelsgroßmacht bleiben und darf sich nicht in fremde Angelegenheiten einmischen“, gab Štěpán ihm recht. Dass das ein Paradox war, weil ein gewaltiger Teil der europäischen Einnahmen (die tschechischen nicht ausgenommen) aus dem Waffenhandel mit Ländern herrührte, deren Politik durch die Aufrüstung direkt beeinflusst wurde, ließ er unerwähnt. Auch die Tatsache, dass tschechische Waffen und das legendäre Semtex diversen Terroristen bei einer ganzen Reihe von Anschlägen nachweislich gute Dienste geleistet hatten, war kein dankbares Thema und bei Diskussionsveranstaltungen versuchte er es zu vermeiden.

„Wie geht’s Ihrer Frau?“, fragte ihn eine Teilnehmerin auf der gegenüberliegenden Tischseite.

„Gut, danke.“

„Ich war in meiner Jugend auch Leistungsschwimmerin. Aber bis zur Olympiade hab ich’s nicht geschafft“, sagte sie. „Wir haben großes Mitgefühl mit ihr gehabt … Damals, als diese Katastrophe passiert ist.“

Die Nachricht von dem Autounfall, bei dem Johanka ums Leben gekommen war, hatte seinerzeit hohe Wellen geschlagen; Alena war bei den Menschen außerordentlich beliebt gewesen. Sie hatte Selbstvertrauen und unbeugsamen Optimismus ausgestrahlt – vor der Tragödie. Nach ihr war sie durch die allerschwärzeste Hölle gegangen. Und Štěpán war die ganze Zeit an ihrer Seite gewesen und hatte ihr die Hand gehalten. Fast zwei Jahre hatte es gedauert, ehe am Ende des Dunkels Licht auftauchte. Zwei Jahre, in denen sie sich in Apathie und Verzweiflung gewälzt hatte, und wäre der kleine Richard nicht gewesen, hätte sie sich wohl etwas angetan. Für ihre Beziehung war das eine Belastungsprobe gewesen, sie waren weit zum Grund hinabgestiegen. Seit der Zeit wussten sie, wo dieser Grund war, und waren peinlich bemüht, einen großen Bogen darum zu machen.

„Und Ihr Sohn? Er will Arzt werden, richtig? Welche Fachrichtung schwebt ihm denn vor?“

„Das weiß er noch nicht. Und falls er’s doch schon weiß, dann wäre ich der Letzte, dem er’s auf die Nase bindet.“

Seine Worte hatten sie amüsiert, aber er selbst fand an ihnen nichts zum Lachen. Er überlegte, wann Richard sich ihm zum letzten Mal mit seinen Plänen anvertraut hatte. Tage und Wochen reichten nicht. Möglicherweise habe ich tatsächlich ein wichtiges Signal nicht wahrgenommen, das er in meine Richtung ausgesandt hat, ging ihm durch den Kopf. Vielleicht ist sein Verschwinden nur die Spitze eines Eisbergs, der schon lange neben mir hergetrieben ist und den ich nicht bemerkt habe. Aber was ist in diesem Fall unter der Wasseroberfläche?

Freunde sind im Leben von Jugendlichen wichtiger als die Eltern. Das hat eine Studie führender europäischer Soziologen bestätigt. Den Wissenschaftlern ist es gelungen zu zeigen, dass junge Menschen zwischen 14 und 21 Jahren eine starke freundschaftliche Beziehung als höchsten Wert im Leben betrachten. Dafür sind sie bereit, nicht nur von den Prinzipien abzuweichen, die ihre Familien ihnen mitgegeben haben, sondern auch Vorteile aufzugeben, die ihnen ihre familiären Bindungen gewährleisten. 42 % der Befragten haben eingeräumt, dass sie nicht zögern würden, für ihren besten Freund ihr Leben einzusetzen.

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Veronika sah Adam sofort, als sie von der Bühne kam. Er stand im Flur zwischen den Schauspielergarderoben und nicht nur in seinem Gesicht, sondern in seiner ganzen Haltung konnte sie das Wort Niederlage lesen. Wäre er zum Casting für einen Loser-Typen gekommen, hätte er die Rolle sofort kriegen müssen. Aber er war nicht zum Vorsprechen da.

„Sag das Erste, was dir einfällt“, forderte er sie ohne Begrüßung auf.

„Kacke am Dampfen.“ Dass er hier war, konnte nichts anderes bedeuten. „Was ist los?“

Sie zog ihn ein Stück weiter, weil in der Pause Hochbetrieb herrschte und sie unnötig Aufmerksamkeit erregten. Angespannt sah sie ihm in die Augen. „Wieso bist du überhaupt hier?“

„Rat mal. Nimm’s als Intelligenztest.“

„Adam, hör auf!“ Manchmal fand sie seine Kommentare ziemlich witzig, aber heute hatte sie nicht den geringsten Sinn für so was. „Du solltest gerade ganz woanders sein! Also, was ist passiert?“

„Nichts. Außer …“ Er verstummte, sein Blick war unruhig wie bei einem Hund, der was angestellt hatte.

„Du hast dir’s anders überlegt.“ Jetzt kapierte sie. Und ihr fiel auf, dass sie kein bisschen überrascht war. Seit dem Moment, als Richard ihr den Plan anvertraut hatte, hatte sie gespürt, dass Adam dabei das schwächste Glied war. „Wann hast du dich umentschieden?“

„Ich bin mit den Jungs nicht mal mit in die Slowakei gefahren.“

„Dann warst du in der Schule? Hast du etwa mit der Formánková geredet?“

„Die hat mich heute Vormittag am Tor abgepasst.“

Das versetzte Veronika in Panik. Früher war sie mal Adams Fast-Mitschülerin gewesen. Bevor sie ans Schauspielkonservatorium gegangen war, hatte sie vier Jahre dasselbe Gymnasium besucht, nur eine Klasse tiefer, und sie hatte die Formánková in Geschichte gehabt. Sie wusste, wie unerbittlich sie sein konnte. Angst hatten sie vor ihr gehabt. Ihren Haarknoten hatten sie Lügendetektor genannt und allzu übertrieben war diese Bezeichnung nicht gewesen.

„Hat sie was aus dir rausgekriegt?“

„Für wen hältst du mich denn?“

„Wenn du das verrätst, dann …“ Ihr schoss durch den Kopf, was das alles bedeuten würde. Das ganze, lange geplante Vorhaben könnte sogar noch scheitern.

„Sie hat mich gefragt, ob ich was von Martin und Richard weiß, und ich hab Nein gesagt. Sie wollte wissen, wo ich sie zuletzt gesehen hab, da hab ich gesagt, am Freitag in der Schule. Sie hat mich gefragt, ob sie sich normal benommen haben, da hab ich Nein gesagt.“

„Nein?“

„Ich hab gesagt, dass sie so durchgeknallt gewesen sind wie immer. Eine andere Antwort wär ihr verdächtig vorgekommen.“

Da musste sie ihm recht geben. Adam war nicht umsonst der Sohn eines Juristen, er hatte das raffinierte Argumentieren in den Genen. „Und dann?“

„Direkt danach hat sich Richards Mutter gemeldet. Dieselben Fragen, dieselben Antworten. Hat sie dich auch angerufen?“

Veronika nickte. Noch jetzt schämte sie sich beim Gedanken an ihr Ausweichmanöver, aber sie hätte nichts anderes tun können. Wenn sie Richards Mutter am Telefon nicht weggedrückt hätte, dann hätte sie sich bestimmt verquatscht, und das durfte sie sich nicht erlauben.

„Adam, wir müssen jetzt da durch! Es ist total wichtig, dass keiner was weiß, bis wir von den Jungs Bescheid kriegen.“ Sie packte ihn an den Schultern und sah ihm mit ihrem Kobrablick in die Augen. Den hatte sie vorm Spiegel geübt und wusste, dass er funktionierte. Er gehörte zu den wichtigen Elementen ihres bisher nicht allzu reichhaltigen schauspielerischen Arsenals. Oft benutzte sie die Kobra auch im Alltag, wenn sie etwas erreichen musste. „Das ist dir doch hoffentlich klar?“

Er wandte den Blick ab.

„Veronika, was denkst du über mich? Aber ehrlich.“

„Ich wusste von Anfang an, dass das nix für dich ist. Du bist … Du hast …“ Sie kam ins Stocken. Sie wollte sein Selbstbewusstsein nicht noch weiter untergraben.

„Die Hosen voll? Deiner Meinung nach hab ich einfach Schiss.“

„Du hast Angst, jemandem wehzutun.“

Sie hatte ihn sichtlich überrascht. Eine Weile schwieg er nachdenklich, dann fragte er: „Und Richard hat keine Angst? Auf bestimmte Weise tut er schließlich auch dir weh, oder?“

„Du kennst doch Richard. Er kann keine Kompromisse machen“, sagte sie und wusste, dass ihr genau diese Eigenschaft an ihm am meisten imponierte, obwohl sie nicht gerade positiv war. Ein Kompromiss war ein Zugeständnis. Und Zugeständnisse zu machen, bedeutete für Richard nicht, jemandem entgegenzukommen, sondern von der Wahrheit abzuweichen. Dazu war er nicht in der Lage. Er hielt die Wahrheit nicht für etwas, wozu man Alternativen schaffen konnte, er behandelte sie als Tatsache. Wer sie abstritt, war seiner Meinung nach entweder ein Lügner oder ein Idiot.

„Auch wenn er wollte, er kann sich nicht anders verhalten“, erläuterte sie. „Eigentlich ist für ihn alles ganz einfach.“

 

Aus heiterem Himmel tauchte hinter Adams Rücken Richards Mutter auf, sie war durch die Tür aus dem Foyer in den Flur gekommen. Veronika zuckte innerlich zusammen.

„Die Chytilová“, flüsterte sie.

„Wo?“ Adam wollte sich umdrehen, aber Veronika zerrte ihn hastig um die Ecke.

„Verdrück dich, aber hintenrum, damit sie dich nicht sieht.“

Sie brachte ihn an der Maske und am Technikerkabuff vorbei zum Hinterausgang und überlegte dabei, ob sie schnell genug reagiert hatte. Es wäre nicht gut, wenn Alena sie mit Adam zusammen gesehen hätte. Sie würde das in einen Zusammenhang mit Richards Verschwinden bringen und nur umso stärkeren Druck auf Veronika ausüben.

„Komm nicht mehr zu mir“, sagte sie, bevor sie Adam ins Treppenhaus ließ. „Und bis es nicht raus ist, erzähl nirgends was rum.“

„Wann willst du denn die Briefe abschicken?“

„Wenn Richard mir Bescheid gibt.“

„Hat er dich heute nicht angerufen?“

„Nein.“

„Nein?“ Adams Miene verriet Misstrauen.

„Warum soll ich dich anlügen?“

„Weil du mir nicht mehr glaubst.“ Er verzog das Gesicht und fügte selbstgeißlerisch hinzu: „Hast ja recht, Schissern kann man nicht glauben. Wahrscheinlich würde ich das genauso machen, wenn ich an deiner Stelle wäre.“

Veronika schwieg. Er tat ihr leid, aber gleichzeitig konnte sie sich nicht gegen ihren Widerwillen wehren. Ihre innere Kompassnadel navigierte sie seit jeher zu stolzen, selbstbewussten und aufrechten Männern. Sie liebte das Drama, sie liebte das Pathos – im Leben und auf der Bühne. Wenn ihr Vater seine Stimme auf dem Zwerchfell abstützte und „E lucevan le stelle“ sang, lief es ihr kalt den Rücken runter und vor Erregung bohrte sie sich die Fingernägel in die Handflächen. Als Richard am Tag vor seiner Abreise zwei Ringe gekauft hatte, hatten sie sie sich gegenseitig auf den Finger geschoben und anschließend schweigend miteinander geschlafen, das war stärker gewesen als jedes Versprechen, das sie sich hätten geben können. Worte hätten alles nur banalisiert und verwaschen. Ohne hatte Veronika viel genauer gewusst, wie Richard zumute gewesen war. Auch wie Adam jetzt zumute war, konnte sie sich vorstellen. Und wie morgen. Sie wollte nicht in seiner Haut stecken. Er drehte sich um und stieg schweigend die Stufen hinunter.

„Was soll ich mit deinem Brief machen?“, rief sie ihm hinterher.

„Ins Klo schmeißen“, antwortete er, ohne sich umzudrehen.

„Wird erledigt“, sagte sie. „Und du mach lieber krank. Vielleicht lassen sie dich dann in Ruhe.“

Sie schloss die Tür. Die Uhr an der Wand zeigte halb neun. Bis zum Anfang vom dritten Akt waren es noch zehn Minuten. Zu lange, um sich vor Richards Mutter zu verstecken. Auch wenn sie’s geschafft hätte, würde sie nach der Vorstellung draußen auf sie warten, und dort würde ihr Veronika noch schlechter entkommen können. Nein, lieber wollte sie die Unterhaltung jetzt gleich hinter sich bringen.

Ihre Blicke trafen sich, als sie um die nächste Ecke bog.

„Ahoj Alena!“, spielte sie die Überraschte. „Kommst du zu mir?“

Es wurmte sie, dass Richards Mutter nicht dem Klischee der bösen Schwiegermutter entsprach. Dann wäre das Lügen einfacher. Nein, sie war nett und konnte Veronika offensichtlich gut leiden. Vor Kurzem hatten sie sich bei den Chytils in der Küche aufs Du geeinigt. Sie hatten angestoßen, sich ein Küsschen gegeben, ein Gläschen Fernet gekippt (etwas anderes war nicht zur Hand gewesen), Veronika hatte sich dabei verschluckt und ihre Bluse eingesaut. Gemeinsam hatten sie die Flecken im Geschirrspülbecken ausgewaschen und dabei gelacht wie die Verrückten. Jetzt lag in Alenas Gesicht kein Molekül von Lachen. Sie saugte sich mit einem flehentlichen Blick an Veronikas Augen fest.

„Wo ist Richard?“

„Ich weiß es nicht.“

„Habt ihr euch gestritten?“

Veronika schüttelte entschieden den Kopf.

„Getrennt?“

„Nein, alles in Ordnung.“

Alena starrte sie ungläubig an. „In Ordnung?“

„Ich schwör’s. Wir haben uns nicht gestritten und auch nicht getrennt.“

„Erzähl keine Märchen. Wenn zwischen euch alles in Ordnung wär, dann würd er dir doch was sagen. Dann wär er nicht so heimlich verschwunden wie … wie so ’n Halbstarker.“

„Ich verdrück mich auch manchmal für ’ne Weile und sag niemand was. Ist doch ganz normal.“

„Das ist nicht normal, so benimmt man sich nicht zueinander.“ In Alenas Augen glitzerten Tränen. Veronika schaute schnell woandershin. Beim Gedanken daran, was für ein Schock das für sie wäre, wenn die Bombe platzen würde, bekam sie einen flauen Magen. Sie spürte tiefes Mitgefühl. Über das Unglück, das Alena vor Jahren zugestoßen war, wusste sie natürlich Bescheid. Richard sagte, dass er sich kein bisschen an seine Schwester erinnern könne, als sie gestorben war, sei er noch viel zu klein gewesen; aber dass er immer brav sein musste, damit seine Mutter nicht traurig war, das war fest in seinen Erinnerungen verankert. Sein Vater muss es ihm andauernd wieder gesagt haben. Die Vorstellung, wie der kleine Richard sich um jeden Preis bemühte, artig zu sein, während seine Mutter in Verzweiflung versank, deprimierte Veronika.

„Er ist neunzehn“, sagte sie sanft. „Ein Haufen Leute in seinem Alter machen schon längst, was sie wollen. Manche wohnen nicht mal mehr zu Hause.“

„Aber Richard wohnt doch bei uns.“

„Ja, allerdings hat er sein eigenes Leben. Er will sich da nicht reinreden lassen. Er will seine Probleme selber lösen.“

„Probleme? Hat er Probleme?“ Diesmal lag in Alenas Stimme unverhüllte Panik. Sie presste Veronikas Hand so stark, dass sich der Ring von Richard in den Nachbarfinger eingrub. „Egal, was es ist, er muss doch deswegen nicht abhauen!“

„Er ist nicht abgehauen.“ Veronika schaute ihr in die bettelnden Augen und dachte fieberhaft nach, wie viel sie sagen durfte, um sie zu beruhigen, dabei aber keinen Verrat zu begehen, als sie die Durchsage der Inspizientin rettete.

„Das war das zweite Zeichen, die Pause ist zu Ende“, kam es aus dem Lautsprecher über ihren Köpfen. „Fortsetzung der Vorstellung in fünf Minuten.“

„Ich muss mich fertigmachen.“ Veronika ging rückwärts los. Dann machte sie wieder einen Schritt nach vorn und umarmte Richards Mutter ganz fest. Sie hatte das nicht vorgehabt, konnte sich aber der Flut von Emotionen nicht erwehren. Sie durchlebten einen außergewöhnlichen Augenblick, einen Schlüsselmoment ihres Lebens, sie musste ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Es war unmöglich, das nüchtern zu spielen. Alena hatte die breiten Schultern einer Schwimmerin, aber ihre Ohnmacht weckte in Veronika den Beschützerinstinkt.

„Mach dir keine Sorgen“, flüsterte sie ihr ins Ohr. „Er meldet sich.“

„Wann denn?“

„Weiß nicht, bestimmt … bestimmt bald.“ Aus Furcht, noch mehr zu verraten, löste sie die Umarmung und stürzte in ihre Garderobe. Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Dass die Unterhaltung mit Richards Mutter ihr so zu schaffen machen würde, hätte sie nicht gedacht; sie war der Meinung gewesen, gut darauf vorbereitet zu sein. Aber eine Sache war es, die einzelnen Schritte im Voraus zu planen, eine ganz andere Sache, sie auch umzusetzen. Und die Hauptaktion stand ihr erst noch bevor. Für einen Moment bekam sie vor Angst weiche Knie, aber sofort rief sie sich zur Räson. Zur Angst gab es keinen Grund. Sie war mit Richard alles detailliert durchgegangen, auf alle Fragen hatte er ihr eine Antwort gegeben, jede Unsicherheit zerstreut. Er wusste, was er tat und warum er es tat, und Veronika hatte seine Gründe akzeptiert. Nicht ohne anfängliche Einwände, aber er hatte sie überzeugt. Wo Worte nicht ausreichten, hatte er sie durch die Sprache seines Körpers ersetzt. Und durch sein vielsagendes Pfeifen – damit hatte er sie noch jedes Mal rumgekriegt. Ein Rest von Zweifel war trotzdem in ihr zurückgeblieben, und je länger das Schweigen dauerte, desto mehr Raum gewann die Ungewissheit. Richard hätte vor der Vorstellung anrufen sollen, aber das hatte er nicht. Sie hoffte, dass er sich danach melden würde. Wenn nicht, musste irgendwo ein Fehler passiert sein.