Die Residentur

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„Jukl.“

„Karoch.“

„Entschuldigung, ich bin zu früh“, sagte Jukl so ähnlich wie zuvor Marta.

„Besser als zu spät“, befand Zdeněk. Er hatte keine Zweifel, dass sie ihm Jukl geschickt hatten, um ihn für eine Weile aus der Schusslinie zu nehmen. Gängige Praxis, um Pannen zu kaschieren.

Als Hauptkommissarin Alte und Kommissar Jukl sich die Hände schüttelten, machten beide ein verbindliches Gesicht. Es war sogar mustergültig verbindlich, wie Zdeněk nicht übersehen konnte. Ihm war klar, dass die Kombi aus alternder grauer Maus und jungem Deckhengst nicht ideal war, allerdings konnte er da nichts tun. Er leitete keine Partnervermittlung, sondern ein Morddezernat.

„Wir sind froh, dass wir Sie hier bei uns haben“, sagte er zu Jukl. „Ich hoffe auf eine für beide Seiten Gewinn bringende Zusammenarbeit.“

„Ich auch“, antwortete Jukl und lächelte wieder. Mochte seine gute Laune nun spontan sein oder antrainiert, sie wirkte jedenfalls ansteckend.

„Im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen werden Sie in mein Dezernat versetzt“, sprach Zdeněk weiter. „Das ist natürlich nur eine vorübergehende Maßnahme. Sie gilt, solange Sie am Fall Arojan arbeiten. Pro forma.“

„Pro forma arbeiten? Also nur so tun, als ob? Sollen wir den Fall nicht aufklären?“, fragte Jukl und sein sympathisches Lächeln kippte ins Provokante. „Nur damit ich weiß, was von mir verlangt wird.“

Junge, wenn du dem Rieger so in die Visage gegrinst hast, als du ihm Hörner aufgesetzt hast, kannst du froh sein, dass es bloß bei ausgeschlagenen Zähnen geblieben ist, dachte Zdeněk.

„Sie sollen den Mörder von Geworg Arojan finden“, sagte er ruppig. „Das wird von Ihnen verlangt. Und schon im Voraus mache ich Sie darauf aufmerksam, dass bei uns nicht James Bond gespielt wird. Wir setzen andere Vorgehensweisen ein. Am Anfang müssen Sie sich vielleicht erst ein bisschen orientieren, aber Sie brauchen keine Angst zu haben, irgendwas zu fragen. Hauptkommissarin Alte ist eine hervorragende Kriminalistin. Sie genießt mein vollstes Vertrauen. Unter ihrer Führung werden Sie eine Menge lernen.“

Auf jeden Fall was anderes als im Hotel Romantika, ergänzte er in Gedanken. Die Genugtuung, die er beim Anblick von Jukls kleinlauter Miene empfand, zerstreute Zdeněks vorausgegangene Verdrießlichkeit restlos. Es ist doch nicht zu verachten, wenn man gleich am Anfang ein bisschen mit der Peitsche knallt, dachte er zufrieden. Er ist zur Strafe hier, also soll er’s auch schön auslöffeln, dieser Deckhengst!

„Forschung und moderne Technik haben das Potenzial, eine friedliche Entwicklung auf der ganzen Erde zu sichern“, erklärte Jiří Rak, Leiter einer tschechischen Unternehmerdelegation bei einem Treffen mit führenden Fachleuten und Spitzenkräften der elektronischen Industrie aus allen Teilen der Welt auf der internationalen High-Tech-Messe im chinesischen Shenzhen. „Seien wir aufgeschlossen, seien wir vorurteilsfrei, seien wir grenzenlos!“

Aus einer Sonderbeilage von Česká Ekonomika

Helga Apoštolová, Vorsitzende der Bewegung DIE STIMME, schaltete den Rechner aus und erhob ihre fünfundsiebzig Kilo aus dem Bürostuhl. Sie sah sich in einer Fensterscheibe und ließ den Blick erfreut auf sich ruhen. Ihr Gewicht war auf eine überdurchschnittliche Körpergröße verteilt, dadurch wirkte sie insgesamt nicht korpulent, sondern opulent. Sie sah aus wie eine edle Vollblut-Rennstute.

„Was machst du denn hier?“, fragte sie ihren Stellvertreter Viktor Duba, der gerade zur Tür hereinkam. Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. „Hast du etwa vor, heute hier zu schlafen?“

„Da fragt die Richtige“, konterte er ihre Ironie. „Du Workaholikerin.“

Sie hatten einander nichts vorzuwerfen. Beide waren sie von ihrer Arbeit besessen, nur jeder anders. Helga glich mit dem hohen Arbeitspensum ihr ruhiges, harmonisches Familienleben aus, das ihr keine wirklichen Herausforderungen zu bieten hatte. Rennstuten brauchten aber Herausforderungen, das lag in ihrem Charakter. Helga liebte ihren Mann, unterstützte die erwachsene Tochter und hütete aufopferungsvoll die Enkeltochter, aber ihr Elan hätte gereicht, sich um ein Dutzend solcher Familien zu kümmern, bloß war das schlecht hinzukriegen – ihr blieb also nichts anderes übrig, als bei der Arbeit Höchstleistungen abzuliefern. Analog dazu agierte auch Viktor in Übereinstimmung mit seinem Naturell. Von seinem aschkenasischen Vater hatte er nicht nur die dunklen Locken geerbt, sondern auch die Ansicht, dass ein Jude am besten in einem Café aufgehoben war. Obwohl sein Jüdischsein nicht matrilinear war und er nach der Halacha nicht zum auserwählten Kaffeehausvolk gehörte, machte ihn nichts glücklicher, als an einem x-beliebigen Ort, wo es gesprächige Menschen gab, bei einem Espresso zu sitzen, ihnen zuzuhören und alles im Gedächtnis zu vermerken. Die gesammelten Informationen waren für ihn Kapital, Prestige und Arbeitsmittel gleichermaßen. Er benutzte sie mal mit Noblesse, mal mit rücksichtsloser Direktheit, immer aber objektiv, wie es ihm der ethische Kodex als Journalist gebot. Dass er von seinem eigentlichen Beruf in letzter Zeit auf Politik umgesattelt hatte, hatte seine Prinzipien nicht verändert, nur ihre Reihenfolge. Zweckgerichtete Rücksichtslosigkeit hatte jetzt Vorrang.

„Ich war auf ’ner Party“, berichtete er. „Dort ist nicht nur hervorragender Wein in Strömen geflossen, sondern ich hab auch eine außerordentlich wertvolle Information aufgetan.“

„Ist das nicht ein Widerspruch? Die Ströme von Wein und die wertvolle Information?“

„In vino veritas.“

„Um was geht’s denn?“

„Um eine mögliche Diskreditierung der Tschechisch-Mährischen Demokraten.“

„Erzähl.“

Helga schenkte Viktor einen Blick voller Erwartung und Respekt. Er war zehn Jahre jünger als sie, aber sie wusste ganz genau, was für ein Juwel sie an ihm hatte. Seit er zum Vizevorsitzenden gewählt worden war, hatte sich DIE STIMME aus dem politischen Bodensatz freigestrampelt und ein Steigflug hatte eingesetzt. Nach außen hin gab es dafür keinen anderen Grund als die systematische Arbeit und die Energie, die Helga Apoštolová als Vorsitzende investierte. In Wirklichkeit stand hinter dem Aufstieg der Bewegung Viktor Duba. Drei unschätzbare Vorzüge zeichneten ihn aus: Er hatte keine Ambitionen auf die Führungsrolle, er war fähig, die Erfolge von DIE STIMME und auch die Fehlgriffe der Konkurrenz medial in Szene zu setzen, und er konnte genau die Punkte aufspüren, die den Nerv der kommenden Generation trafen. Er formulierte sie in klaren Schlagworten: Freiheit und Diversität, Recht auf Individualität, Umweltschutz. Er ließ eine große Meinungsumfrage unter Achtzehn- bis Dreißigjährigen durchführen, aus der hervorging: 85 Prozent der jungen Menschen wollten anderen helfen und die Welt zum Besseren verändern, aber ohne die alten Rezepte. Sie waren besessen von ihren eigenen Erfahrungen. Die Welt, in der sie aufgewachsen waren, sahen sie nicht mehr vom Říp aus, diesem Hügel mitten im böhmischen Kessel, von dem herab einst der sagenhafte Urvater Čech sein künftiges Land gesehen und für gut befunden hatte. Der Horizont der jungen Generation war weit, und Naivität lag ihr fern.

Beim Ausformulieren des politischen Programms hatte Viktor alle rein männlich konnotierten Elemente vermieden. Er wusste, warum, denn er stimmte dem Satz von Lenin zu: „Wenn wir für die Politik nicht die Frauen gewinnen können, gewinnen wir für sie auch nicht die Massen“, und ohne den Fehler zu begehen, den Bolschewikenführer zu zitieren, skizzierte er neben dem Profil des modernen selbstbewussten Mannes auch das Bild der selbstbewussten, intelligenten, wirtschaftlich erfolgreichen Frau. Er hatte es bis in so begehrenswerte Details ausgearbeitet, dass sich die Tschechinnen – zumindest diejenigen, die begehrenswert erscheinen wollten – damit identifizierten. DIE STIMME gab ihnen den Mut zur Selbstverwirklichung, bahnte neue Wege, und an der Spitze lief eine edle Stute, die es wert war, dass man sie bewunderte und ihr folgte. Viktor ließ Helga die Führungsrolle, aber hinter ihrem Rücken hatte er bei all dem die Zügel fest in der Hand. Er gab die Richtung vor, hatte jedoch nicht das Bedürfnis, sich zu zeigen.

„Wie stehen wir momentan da?“, fragte er und setzte sich auf eine Ecke ihres Schreibtischs. Ein anderes Thema als den Wahlkampf zum Europaparlament hatte es in den letzten Wochen für sie nicht gegeben.

„Bei Factum liegen wir knapp hinter den Tschechisch-Mährischen Demokraten. Unser großer Trumpf ist Zora Opasková, denen ihrer ist Štěpán Chytil. Die Leute schätzen an ihm, dass er unabhängig ist.“

„Das kann aber auch sein Schwachpunkt sein. Wenn irgendwas über ihn ans Licht kommen sollte, wäscht sich die ČMD die Hände in Unschuld und serviert ihn ratzfatz ab. Einen neuen Kandidaten zu profilieren, schaffen sie nicht mehr, und wir können Vorteile draus ziehen.“

„Was soll denn über ihn ans Licht kommen?“, fragte Helga skeptisch. „Das ist ein langweiliger Spießer. Er hat eine Frau geheiratet, von der bekannt ist, dass ihre erste Ehe unglücklich war, er hat sie unterstützt, als sie kollabiert ist, er ist ein anerkannter Ökonom, stellt sich weder in der Boulevardpresse noch bei Instagram zur Schau, und soweit ich weiß, hat er seinen Posten beim Amt für Ein- und Ausfuhrkontrolle auf dem üblichen Dienstweg erreicht. Wo siehst du da Raum für irgendwelche unsauberen Geschichten?“

„Er war nur ein Jahr bei der Fahne“, sagte Viktor. „Statt zwei, wie’s damals eigentlich Pflicht war.“

„Alle, die studiert haben, waren nur ein Jahr bei der Armee. Schon vergessen?“

„Aber Chytil hat seinen Wehrdienst abgerissen, bevor er sein Wirtschaftsstudium angefangen hat. Und das war eher unüblich. Willst du wissen warum?“ Sein Blick deutete an, dass sie es wissen wollen sollte.

 

„Warum?“, fragte sie.

„Er hatte schon ein Studium hinter sich. Anfang der Achtziger hat er am MGIMO studiert.“

„Am Moskauer Institut für internationale Beziehungen?“

„1987 hat er dort seinen Abschluss gemacht. Damit geht er nirgendwo hausieren.“

„Er geht nirgendwo damit hausieren, aber du hast das ‚rein zufällig‘ auf der Party erfahren“, sagte sie schnippisch. „Wer hat’s dir gesagt?“

„Ach, so ’n Typ. Wir kennen uns von einer Norwegen-Reise, vor ein paar Jahren waren wir dort zusammen Lachse fischen. Besser gesagt, er hat gefischt, ich hab’s nur probiert. Wahnsinnig kalt isses gewesen.“

„Und wie heißt dein Typ?“

„Der Name spielt keine Rolle.“ Er ließ die Frage ins Leere laufen, genau wie sie es erwartet hatte. Immer schützte er seine Quellen. „Wichtig ist, dass er am MGIMO zu der Zeit seinen Abschluss gemacht hat, als Chytil dort angefangen hat zu studieren.“

„Dass ihr nicht schon in Norwegen auf das Thema gekommen seid?“

„In Norwegen haben wir nicht zusammen Wein getrunken. Außerdem hat’s Chytil damals für mich noch gar nicht gegeben. Hast du den etwa gekannt, bevor er sich ins Politgeschehen reingedrängelt hat?“

Helga schüttelte den Kopf. Je mehr sie darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr Viktors Information.

„Zu kommunistischen Zeiten in der Sowjetunion studiert … Auf einer Eliteschule für die zukünftige Nomenklatura … Das ist, glaube ich, nicht die allerbeste Reklame für einen EU-Parlamentskandidaten“, spekulierte sie laut.

„Er ist definitiv nicht der Einzige, der dort studiert hat. Manche prahlen sogar damit rum.“

„Aber Chytil hält sich bedeckt. Wie wohl seine Anhänger damit klarkommen, wenn sie’s rausfinden? Was meinst du?“

„Ich geh davon aus, dass sie nicht erfreut sind, dass sie’s aber auch nicht abschreckt“, urteilte Viktor nüchtern.

„Mich würde das definitiv abschrecken.“ Helga versetzte sich in Gedanken zurück in die Zeit ihrer Jugend in der ČSSR. Die Atmosphäre von Angst, Widerwillen und allgemeiner Frustration tauchte wieder vor ihr auf. Sie erinnerte sich an die Ohnmacht, die obligatorischen politischen Einstellungen und den Verlust der Selbstachtung bei praktisch jedem, den sie kannte. Sich selbst eingeschlossen. Sie hatte sich damals als Heuchlerin empfunden, schon allein, weil sie sich nicht offen auf die Seite einiger ehrenhafter Menschen gestellt oder vor vielen himmelschreienden Ungerechtigkeiten aus Furcht die Augen verschlossen hatte.

„Wenn ich potenzielle Chytil-Wählerin wäre, würde mich vor allem stören, dass er mir die Wahrheit verheimlicht hat. Zweitens fänd ich’s bemerkenswert, dass er überhaupt ans MGIMO wollte – zu einer Zeit, als die Sowjets von der absoluten Mehrheit bei uns als Besatzer gesehen worden sind – und vor allem, dass er’s auch noch geschafft hat, dort hinzukommen. Jeden haben die nämlich nicht genommen.“

„Und Chytils ehemalige Kommilitonen würden dich als seine Wählerin nicht interessieren?“, fragte Viktor. Nach dem Funkeln in seinen Augen zu urteilen, waren sie bei des Pudels Kern angelangt.

„Spann mich nicht auf die Folter. Was weißt du über sie?“

„Im selben Jahrgang mit ihm hat Jiří Rak studiert“, sagte er beiläufig, und als er sah, dass sie in ihrem Gedächtnis kramte, fügte er noch eine Fußnote hinzu: „Erfolgreicher Unternehmer.“

„Welche Branche?“

„Nanotechnologie.“

„Die boomt gerade“, sagte Helga. „Angeblich ist das eins der lukrativsten Geschäftsfelder überhaupt. Ich würde mal behaupten, der braucht sich keinen Kopf um seine Rentenhöhe zu machen.“

„Denk ich auch. Aber das ist für uns bei Weitem nicht so interessant wie die Tatsache, dass er der Sohn von einem anderen Rak ist …“ Er machte eine Pause und forderte sie mit seinem Blick auf, den Satz zu vollenden. Als er sah, dass keine Antwort kam, zückte er seinen Trumpf: „Von Svatopluk Rak, damals tschechoslowakischer Konsul in Moskau. Štěpán Chytil und Jiří Rak waren angeblich die besten Freunde.“

Helga brauchte einen Moment, bis ihr die Bedeutung des Gehörten komplett klar wurde. „Das ist keine schlechte Info“, musste sie zugeben. „Wie gehen wir damit um?“

„Weiß noch nicht.“

„Wenn ich mich recht erinnere, ist der Herr Konsul a. D. seinerzeit wegen Steuerhinterziehung, Korruption und Gott weiß was noch in die Mangel genommen worden. Angeblich hat er damals beim Anlagebetrug in Sachen Harvardské fondy mitgemischt.“

„Beweisen konnten sie ihm nie was.“

„Wenn du dir über deine ehemaligen Journalistenkollegen mal irgendein meinetwegen unbewiesenes krummes Ding von Rak senior vornimmst und gleichzeitig ganz ‚zufällig‘ Chytils Studium in Moskau und die Freundschaft zu Rak junior rauskommt, dann bleibt an ihm was hängen, und wenn er rein ist wie eine Lilie.“

„Ich glaub nicht, dass er rein ist wie eine Lilie. Keiner, der an dem Institut studiert hat, konnte absolut sauber bleiben. Auch Chytil nicht. Der weiß schon, warum er das mit dem Studium nicht rumposaunt. Ich kann bestimmt was über ihn ausgraben.“

„Bis zur Wahl sind’s nur noch ein paar Tage“, erinnerte ihn Helga.

„Die Nächte gibt’s auch noch“, wischte Viktor ihren Einwand beiseite. „Und wir haben die Freiwilligen. Die sollen Chytils Sponsoring mal gründlich unter die Lupe nehmen. Und ich guck mir das Geschäftsgebaren von Rak junior an, vor allem seine Exportaktivitäten.“

„Du denkst an Berührungspunkte mit dem Amt für Ein- und Ausfuhrkontrolle?“ Wieder einmal spürte sie Ehrfurcht vor Viktors Kombinationsfähigkeiten. „Du hast recht. Ein aufstrebender Geschäftsmann und ein einflussreicher Ministerialbeamter, das ergänzt sich super. Vor allem, wenn sie seit vielen Jahren befreundet sind.“

„Ist nur eine Vermutung, aber sie bietet sich an. Ich fang mal damit an, dass ich nach Liberec fahre. Dort an der Uni kenn ich einen, der sich mit Nanotechnologie beschäftigt. Von dem lass ich mich mal auf den neuesten Stand bringen.“

„Und ich nehm mir den Exkonsul vor. Ich treib alles auf, was sich finden lässt.“

„Ein Interview mit ihm ist, glaube ich, in der Politika erschienen. Ich weiß aber nicht mehr genau, wann das war. Das kann man sicher raussuchen. Falls nicht, dann ruf dort an und frag nach. Aber Vorsicht …“

„Na klar, ich erzähl denen einen vom Pferd.“

„Und lass Zora außen vor. Die soll sich auf konstruktive Themen konzentrieren.“

„Bis jetzt ist sie super, oder?“

„Spitze.“ Er nickte. „Und sie wird noch mehr brillieren, wenn über ihren Gegenspieler plötzlich ein Kübel mit seinem eigenen Dreck ausgekippt wird.“

Sie schwiegen, schauten sich an, bemühten sich, ihre Erregung im Zaum zu halten. Ihnen war klar, dass der Wahlkampf gerade seinen vorausgeplanten Ablauf verlassen und in eine weniger vorhersehbare, improvisiertere, emotionalere Phase eingetreten war. Sie beide hatten genug Erfahrung, um zu wissen, dass es gerade die Emotionen waren, die über das Wahlergebnis entschieden. Helga erforschte ihr Gewissen, ob das, was sie hier gerade in Gang setzten, noch korrekt war, und Viktor überlegte, ob er jemand Passenden bei den so genannten seriösen Medien kannte, der den angerührten Informationsteig durchkneten, pikant würzen und etwas richtig Großes daraus backen könnte. Beide antworteten sich mit Ja.

Das Moskauer Staatliche Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) hat schon lange den Ruf einer renommierten, aber kontroversen Bildungseinrichtung. Im Kalten Krieg war es die einzige Diplomatenschule im Ostblock. Hier studierte eine Reihe von späteren Politikern, Journalisten und Außenhandelsexperten. Das Institut lockte die Nachkommen der kommunistischen Bonzen an und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Kinder der Neureichen. Heute legen eher die Absolventen der Sankt Petersburger Universität eine steile Karriere hin, allen voran Dmitri Medwedew und Wladimir Putin.

news.tiskaktuel.cz

Marta Alte legte die Ermittlungsakte zu Geworg Arojan auf ihren Schreibtisch. Abgesehen vom Computer war er leer. Das ganze Büro wirkte auf Brian Jukl leer. So gut er das jedenfalls im Halbdunkel, das hier herrschte, beurteilen konnte. Der Himmel war bedeckt, in den meisten Büros auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofs brannte schon Licht. Brian drückte auf den Schalter. Die Neonröhre übergoss den Raum wie eine kalte Dusche. Absolute Basisausstattung, der eingerahmte Flucht- und Evakuierungsplan neben der Tür, in der Ecke ein Blumentopf mit irgendeinem Schilfgras. Mehr brauchte Frau Hauptkommissarin offenbar nicht.

„Am Ende vom Gang steht ein Automat“, sagte sie. „Falls Sie Appetit auf Kaffee haben, Kommissar Jukl.“

„Brian.“

„Wie bitte?“ Sie schaute ihn verdutzt an.

„Ich heiße Brian. Angeblich nach Brian May, dem Gitarristen von Queen. Meine Eltern haben den gern gehört“, erläuterte er wie schon tausendmal in seinem Leben die Herkunft seines untschechischen Vornamens. Dass er vermutlich, während Brian May auf CD lief, gezeugt worden war, behielt er für sich. Manchmal gab er das bei informellen Gelegenheiten zum Besten, aber jetzt fand er es unpassend. „Und Sie sind …?“

Schon wieder das verdutzte Gesicht. Sie hatte seine Frage nicht kapiert.

„Ich soll Sie ja wohl nicht Alte nennen.“ Er lachte auf, wurde aber gleich wieder ernst, weil er sah, dass ihr Gesicht keinen Anflug von Belustigung zeigte.

„Marta“, sagte sie und schlug die Arojan-Akte auf. „Dann mal los.“

Er überlegte, ob er sich einen Kaffee holen und damit den Zeitpunkt hinauszögern sollte, an dem er sich in die Arbeit vertiefen müsste, als es plötzlich klopfte und Kriminalrat Vačkář ins Büro hereinschaute.

„Stör ich?“

„Wir haben noch nicht angefangen, komm rein“, sagte Marta.

„Mir ist noch eingefallen, dass ich euch in aller Kürze unsere Anabasis im Arojan-Fall erklären könnte.“

„Ist der Vergleich mit Schwejks langem und beschwerlichem Fußmarsch von Tábor nach Budweis denn angebracht?“, fragte sie und bot ihm mit einer Geste einen Stuhl an.

Vačkář ließ sich schwer darauf fallen. Er sah müde aus, im Neonlicht, das von oben auf ihn fiel, wirkte sein Gesicht grau und leichenblass. Beim Reden wandte er sich an Marta; Brian schenkte er keine größere Aufmerksamkeit als dem Evakuierungsplan an der Wand. „Wir haben uns den Fall durchgereicht wie einen Staffelstab. Gestartet ist Holina. Er hat da dran gearbeitet, bis ich aus dem Urlaub zurück war. Damals wusste ich noch nicht, was mit mir los ist, aber …“ Vačkář schickte einen kurzen Blick zu Brian. Ihm widerstrebte es sichtlich, sich vor dem jungen Kollegen über seinen Gesundheitszustand auszubreiten. Letztendlich beschränkte er sich auf eine ausweichende Mitteilung: „Ich hab mich müde gefühlt – nach dem Urlaub genauso wie davor. Ich hätte es am liebsten gehabt, wenn Holina dabei geblieben wäre, aber der hatte gerade mit was anderem angefangen, also musste ich’s übernehmen.“

„Wer hat noch mit dir gearbeitet?“

„Am Anfang, als das die Öffentlichkeit noch interessiert hat, waren wir ein ordentlicher Trupp. Wir haben zig Zeugen verhört, Tschechen, Kasmenier, Russen, Ukrainer … Einige von denen sind uns komisch vorgekommen, zwei haben wir festgesetzt, aber für eine Anklage hat’s nicht gereicht und Gründe für ’ne U-Haft gab’s auch nicht, also haben wir sie wieder gehen lassen. Um Weihnachten rum ist in Prag auf Teufel komm raus gemordet worden, Karoch hat Leute gebraucht, und weil nach Arojan kein Hahn mehr gekräht hat, bin ich am Ende mit Lába allein geblieben. Und du weißt ja, wie das mit dem läuft, oder?“

Marta nickte, beide wechselten einen bedeutungsvollen Blick.

„Aber ich weiß das nicht. Wer ist Lába?“, mischte sich Brian in das Gespräch ein, und als er Vačkářs Zögern bemerkte, erinnerte er ihn nachdrücklich: „Mir ist gesagt worden, dass ich keine Angst zu haben brauche, irgendwas zu fragen.“

„Er geht demnächst in Rente“, sagte Marta.

„Er hat den Fuß vom Gaspedal genommen“, erläuterte Vačkář. „Das kann Ihnen mit sechzig auch passieren.“

Es klang spitzzüngig. Lába geht also hier alles am Arsch vorbei, dachte Brian, Vačkář weiß das ganz genau, aber er hat das Bedürfnis, ihn vor mir zu verteidigen. Als wäre die Zugehörigkeit zu einem Polizeidezernat so was wie Blutsbande. Er überlegte, ob auch er eine übertrieben loyale Bindung an die Leute in seiner Abteilung hatte, und er musste zugeben, dass ihm die meisten gestohlen bleiben konnten – außer Bob und Bobek, aber das waren Weggefährten aus einer viel weiter zurückliegenden Vergangenheit, der gemeinsame Dienst bei der SZOK hatte ihre Freundschaft nicht zusätzlich gefestigt. Das hätte er auch nicht gekonnt, denn sie war längst unerschütterlich gewesen.

 

„Um also unsere … ja, das trifft’s schon – unsere Anabasis zusammenzufassen: Wir haben einen Haufen Material gesammelt, aber nicht alles ist fertig bearbeitet und es gibt ein paar Leerstellen.“ Vačkář breitete die Hände aus. „Das ist die Strafe, dass wir uns dauernd abgewechselt haben.“

„Du hast gesagt, dass es für ein politisches Mordmotiv nicht genug direkte Beweise gibt. Hast du eine andere Hypothese?“, fragte Marta.

„Ich weiß nicht, ob es viel Sinn hat, jetzt darüber zu reden, wo ihr euch mit dem Fall noch nicht so richtig auskennt. Ich sag zumindest so viel: Ich war die ganze Zeit überzeugt, dass das Motiv nur Fanatismus, Nationalismus, Extremismus oder irgendein anderer Ismus sein kann. Aber nach und nach ist mir klar geworden, dass der Mörder vielleicht genau diesen Eindruck wecken wollte. In Wirklichkeit könnte das Ganze viel primitiver sein. Geht die Sache zuerst mal durch, damit ihr halbwegs eine Vorstellung davon kriegt“, sagte er und stand auf. „Dann reden wir noch mal. Zeit haben wir noch.“

Er ging zur Tür, aber bevor er sie öffnete, drehte er sich zu Brian um. „Waren Sie vielleicht mal beim Geheimdienst?“

Die Frage verblüffte ihn. Ja schon, vor einiger Zeit hatte er beim Inlandsgeheimdienst BIS gearbeitet, Informationsgewinnung aus offenen Quellen – kein strategischer Posten, dafür eine unbezahlbare Lehrstunde. Wenn er vorher gedacht hatte, sich im Informationssmog orientieren zu können, war ihm erst beim Nachrichtendienst klar geworden, wie man Information und Desinformation zweckmäßig nutzte. Es waren Berge von Material gewesen, die er täglich las, sichtete, sortierte und weiterreichte. Er hatte verborgene Perlen entdeckt, wertlos für sich alleine, aber wenn man sie mit anderen unauffälligen Perlen auf eine Schnur fädelte, strahlten sie plötzlich überraschend auf. Er war sich vorgekommen wie ein Schatzsucher; je länger er suchte, desto leichter fand er auch etwas und desto mehr war er von seiner Tätigkeit besessen. Er hatte sich ein ausgezeichnetes Gedächtnis antrainiert und sich in seiner Überzeugung bestärkt, dass jegliches Geschehen auf Zusammenhängen beruhte. Die Welt war ein einziger großer Zusammenhang. Nichts geschah einfach nur so, jede Ursache brachte eine unendliche Menge an Folgen mit sich, Ereignisse fielen nicht vom Himmel, Wendungen kamen nicht ohne Vorwarnung, alles ließ sich mit einem erheblichen Maß an Gewissheit voraussagen. Dazu bedurfte es lediglich der Konsequenz und der Konzentration. Weder das eine noch das andere bereitete Brian Schwierigkeiten; was ihn gestört hatte, war, dass die aufgewendete Energie keine faktischen Ergebnisse gebracht hatte. Die Regierung arbeitete nicht mit den Informationen des BIS, es hatte eher den Anschein gehabt, sie wären der Exekutive sogar zur Last gefallen. ‚Spart euch eure Verschwörungstheorien‘, hatte Brian aus der herablassenden Haltung einiger Politiker herausgelesen. ‚Alles in bester Ordnung, kein Grund, so einen Wind zu machen.‘

„Wo haben Sie das denn her?“, fragte er Vačkář.

„Ich hab verfolgt, was sich beim BIS getan hat, als Oberst Bednář dort weggegangen ist. Sie sind mit ihm mit, oder? Irgendwo haben Sie sich mal dazu geäußert, ich weiß nicht mehr, wo. Ich kann mich noch erinnern, das klang so … prinzipientreu.“

„Ist schon ziemlich lange her.“

„Wollen Sie damit sagen, dass Sie heute keine Prinzipien mehr haben?“

„Ich will sagen, dass ich mich zu Dingen, an denen ich nichts ändern kann, nicht mehr äußere“, erläuterte Brian und spürte einen Stich. Der Austausch der BIS-Führung, die Abberufung von Oberst Bednář und der demonstrative Weggang seiner Getreuen, zu denen sich Brian selbst auch zählte, waren für ihn nach wie vor ein schmerzliches Thema. Bis heute hatte er das nicht verdaut. Dass ihm Bob und Bobek ein Rettungsseil zugeworfen und ihn bei der Polizei in eine Abteilung hineingezogen hatten, wo er sich definitiv auch nicht langweilte, hatte an der Sache nichts geändert. Das Gefühl, dass er damals hitzköpfig gehandelt und einen Job aufgegeben hatte, für den er wie geschaffen war, steckte immer noch tief in ihm.

„Bei mir ist das so, dass ich mich zu Dingen, an denen ich nichts ändern kann, nicht nur nicht mehr äußere, sondern die verabschiede ich aus meinem Blickfeld“, verkündete Vačkář und ging hinaus auf den Flur. „Ich konzentriere mich nur auf die Hauptsache.“

„Und was ist die Hauptsache?“, fragte Brian.

Vačkář ließ gedankenverloren den Blick an ihm hinabgleiten. „Wissen Sie, was der Häuptling der Sioux den Männern aus seinem Stamm vor der Schlacht gesagt hat? Richtet das Hauptaugenmerk auf die direkte Bedrohung. Wenn ihr euren Skalp nicht einbüßen wollt, zielt immer auf den allernächsten Gegner …“

Er ließ das Satzende in der Luft schweben und Brian wartete auf die Pointe, aber zu seiner Überraschung nickte Vačkář nur kurz – es wirkte wie ein „Howgh!“ – und schloss die Tür hinter sich. Die sich entfernenden Schritte im Flur waren leise, es schien, als gehe ein Geist davon.

„Haben Sie eine Ahnung, wovon er geredet hat?“ Brian drehte sich zu Marta um. Sie war über den Tisch gebeugt, vor sich eine Liste, die sie aus der Akte gezogen hatte.

„Ich glaub, von seiner Krankheit“, sagte sie, ohne den Kopf zu heben. „Das ist für ihn die allernächste Bedrohung.“

„Hat er Krebs?“

„Leukämie.“

„Und was steht ihm jetzt bevor?“ Brian dachte an Vačkářs kahlen Schädel. „Die Chemo hat er ja offensichtlich schon hinter sich.“

„Ich will nicht über ihn sprechen.“

„Warum nicht?“

„Weil er nicht anwesend ist. Kommen Sie, beschäftigen wir uns mit Arojan.“

„Der ist auch nicht anwesend.“

„Finden Sie sich witzig?“ Sie hob den Kopf. In ihrem Gesicht war nichts Überflüssiges. Einfache Züge, wie sie ein Kind zeichnen würde. Eine gewölbte Stirn, um die Augen kleine Fächer aus Fältchen, dichtes dunkles Haar, durchwirkt von silbernen Strähnchen. Eine natürlich reine Haut, keine Spur von Make-up. Eine wunderschöne reife Frau. Brian verspürte Unruhe und wandte den Blick ab. Er musste einen kühlen Kopf bewahren. Aus Fehlern wird man und so weiter.

„Haben Sie hier eine Kantine?“, fragte er.

„Um die Uhrzeit ist die schon zu.“

„Und der Kaffeeautomat? Wo ist der gleich noch mal?“

„Einmal um die Ecke.“

„Rechts rum oder links rum?“

„Rechts.“

„Soll ich Ihnen auch einen mitbringen?“

„Ach … nein, danke.“

Sie antwortete zerstreut, hatte sich bereits in die Arbeit versenkt. Ihm wurde bewusst, dass sie zusammen Stunden in diesem Büro verbringen würden. Sie würden sich gegenüber sitzen (wenn er seinen Stuhl an die schmale Tischseite rückte, wäre er ihr näher, könnte ihr aber wiederum nicht so gut ins Gesicht schauen – nein, frontal wäre definitiv besser), würden Materialien aus der Akte studieren, gemeinsam darüber diskutieren, Zeugen vernehmen, raus ins Terrain fahren, sich während der Fahrt im Auto unterhalten, gemeinsam den verkorksten Fall lösen. Karoch wollte, dass Arojans Mörder gefasst wird, also würden sie ihm den servieren. Brian hatte daran keinen Zweifel; Beweise gegen Rieger zu besorgen, hatten sie auch geschafft. Natürlich nicht sofort. Eine verborgene Perle zu finden, war nicht wie ein Fingerschnippen, für Ergebnisse brauchte man Zeit und Geduld. Er sollte rausfinden, ob sie verheiratet war.

„Marta, wie wär’s mit einer heißen Schokolade?“

Štěpán Chytil hat versprochen, als Abgeordneter im Europaparlament die Bemühungen um eine größere Souveränität der Mitgliedsstaaten zu unterstützen. „Wir haben das Recht, uns spezifische Dinge zu bewahren, die wir über Jahrhunderte herausgebildet haben. Wir haben das Recht, eine Beteiligung an bewaffneten Konflikten abzulehnen, die uns nicht betreffen. Wir haben das heilige Recht, keine Flüchtlinge aufzunehmen. Das liegt nicht in unserer Tradition, und wir sind dazu auch nicht ausreichend ausgestattet“, äußerte der Kandidat der ČMD gegenüber unserer Nachrichtenredaktion.