Die Residentur

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Sie erklommen den Sockel der Mühle, wo die Treppe losging. Der untere Teil fehlte. Lewan hängte sich die Flinte über die Schulter, schwang sich auf das Podest über seinem Kopf und stieg geduckt nach oben. Richard folgte ihm. An der Stelle, wo die Treppe abknickte, fiel sein Blick nach unten. Martin kauerte an dem Mäuerchen in Feuerposition und schaute durch eine Lücke, die durch herausgebröckelte Steine entstanden war. Als hätte er gespürt, dass Richard ihn ansah, hob er für einen Moment sein Gesicht und zog eine Grimasse. Er hatte davon ein endloses Arsenal, eine perverser als die andere.

Lewan griff nach der Schutzbrille, die ihm unterm Kinn hing, und setzte sie sich auf dem Weg nach oben auf. Richard tat dasselbe, obwohl er hoffte, dass er keinen Treffer abbekäme. Er war sich sicher, dass er sich auf Martins Deckung verlassen konnte. Sie kannten sich seit der sechsten Klasse und einer hatte den anderen noch nie im Stich gelassen. Sie waren auf derselben Wellenlänge. Nach dem Mord an Geworg hatte es keine Woche gedauert, und beide wussten, was ihnen bevorstand. Da gab es nichts zu diskutieren.

Richard fuhr mit der Hand in seine Innentasche, um sich zu überzeugen, dass er dort die zusammengefaltete Standarte hatte.

„Ich geb dir von da aus Deckung, Martin von unten. Deine einzige Aufgabe ist die Standarte. Halt dich nicht mit Schießen auf“, befahl Lewan und schaute nach unten. Martin machte mit Daumen und Zeigefinger ein Okay-Zeichen, legte aber die Hand sofort wieder an den Abzug.

„Lauf!“ Lewan gab das Signal und Richard rannte los. Vorsichtig balancierte er über die verwitterte Mauerkrone und versuchte, nicht abzurutschen. Dabei tauchte vor seinem inneren Auge Veronika auf. Sie ging vor ihm her, in ihrem Sommerkleid, unter dem sich deutlich die geigenförmigen Hüften abzeichneten, sie war barfuß und hatte die Haare auf dem Scheitel zusammengebunden, sodass man nicht nur ihr kleines Schwalben-Tattoo sah, sondern auch die feinen Härchen auf dem gebräunten Hals. Eine erregende Vision, die aber für diesen Moment absolut unpassend war. Schnell verscheuchte Richard sie wieder.

Er gelangte ans Ende der Mauer, ergriff einen verrosteten Träger und zog sich an ihm zum obersten Stockwerk hinauf, dem ehemaligen Dachboden. Praktisch war er am Ziel. Er hockte sich hin, hob den Blick – und erstarrte. Mit dem Rücken zu ihm kauerte dort jemand in einem nassen Tarnanzug, in der Hand hielt er eine Standarte und befestigte sie gerade am Schornstein. Von der anderen Seite bekam er vom Kommandeur der ersten Mannschaft Deckung. Adams Abwesenheit hatte also doch verhängnisvolle Folgen gehabt. Hätte er bei den Kiefern Wache geschoben, dann hätte er die erste Mannschaft nicht den Fluss überqueren lassen.

Richard durchströmte ein Gefühl von Bitterkeit. Es war so intensiv, dass ihm übel wurde. So ähnlich wie bei einem schlimmen Kater. Unwillkürlich schoss ihm durch den Kopf, dass die Niederlage in der simulierten Schlacht um die Mühle, die er mit Lewan und Martin gerade erlitten hatte, eine Warnung sein könnte. Vielleicht war das ein Vorzeichen dafür, wie es ihnen in den Schlachten ergehen würde, bei denen nicht mehr mit Plastikkugeln geschossen würde. Er zuckte weg, um aus dem Schussfeld zu kommen, aber zu spät. Er registrierte einen Treffer am Helm. Gleich danach noch einen, unterm Ohr. Trotz des Schutztuchs tat es höllisch weh.

„Adam, du Idiot“, zischte er wütend. In voller Lautstärke rief er dann: „Ich bin tot.“

Der heutige tschechische Nachwuchs ist verwöhnt, hat Angst vor harten Lebensbedingungen. „Ein Minimum an Anstrengung und Verantwortung, ein Maximum an Erlebnissen“, so das beunruhigende Ergebnis einer Umfrage unter Schülern der Oberstufe an Gymnasien und Sekundarschulen in 25 tschechischen Städten.

Aus einem Bericht des Meinungsforschungsinstituts Horizont

Alena hörte auf, den steifen Nacken ihres Schwiegervaters zu massieren, wischte sich die fettigen Hände an einer Serviette ab und ging ans Handy.

„Chytilová.“

Auch wenn sie sich ganz ruhig meldete, reagierte ihr Herz mit erhöhter Pulsfrequenz. Sie konnte nichts daran ändern. Schon seit achtzehn Jahren versuchte sie, diesen unangenehmen konditionierten Reflex loszuwerden, aber vergeblich. Eine unbekannte Telefonnummer löste jedes Mal die gleiche automatische Antwort ihres Organismus aus.

„Ich bin’s.“ Am anderen Ende war Hankas energische Stimme.

„Von wo rufst du denn an?“

„Aus dem Lehrerzimmer.“

„Schon zurück?“, wunderte sie sich. „Wann bist du wiedergekommen?“

„Vor ein paar Minuten.“

Hanka Formánková war eine langjährige Freundin von Alena und die Mutter von Richards bestem Freund. Sie unterrichtete an dem Gymnasium, das ihre beiden Söhne besuchten. Dass sie sofort nach der Rückkehr von ihrem Seminar anrief, geschah definitiv nicht nur aus Höflichkeit, da war sich Alena sicher.

„Ist was?“, fragte sie und ging mit dem Telefon ins Esszimmer nebenan.

„Das wüsst ich selber gerne. Richard und Martin sind heute nicht hier aufgetaucht.“

„Nicht? Aber Richard hat mich doch in der Pause angerufen …“

„Nicht von der Schule aus“, unterbrach Hanka sie.

„Das hat er aber behauptet.“

„Quatsch. Geschwänzt hat der. Genau wie Martin.“

„Warum sollten sie?“

„Wahrscheinlich haben sie was Interessanteres auf dem Programm“, tippte Hanka. Sie machte sich weder über ihren Sohn noch über irgendeinen anderen Angehörigen des männlichen Geschlechts die geringsten Illusionen.

„Richard hat heute früh vor zehn angerufen. Ich hab ihn gefragt, wie sein Englisch-Test ausgefallen ist, und er hat gesagt, gut.“

„Der hat überhaupt keinen geschrieben.“

Alena schaute auf den Wandkalender, der über dem Esstisch hing, und rekapitulierte in Gedanken: Heute war Montag. Am Freitag war Hanka nach Pilsen zu ihrem Methodikseminar gefahren und Richard hatte sich bei Martin einquartiert. Martins Vater war schon seit drei Wochen auf der Suche nach sich selbst, bei irgendeiner Zootechnikerin, und es sah nicht so aus, als ob er bald an den heimischen Herd zurückkehren würde. Die Jungs hatten beschlossen, die leere Wohnung der Formáneks zu nutzen, um sich in Ruhe auf die schriftlichen Abiprüfungen vorzubereiten.

„Ich hab bei Martin mehrere Nachrichten hinterlassen, aber er stellt sich tot. Ich hab den Verdacht …“ Hanka senkte ihre Stimme. Wahrscheinlich wollte sie nicht, dass irgendein anderer Lehrer sie hörte. „Vielleicht waren sie aus, sie haben’s übertrieben und jetzt müssen sie ausschlafen.“

Sie spielte auf die zurückliegende Phase übermäßigen Alkoholkonsums ihrer Söhne an (die zweite Hälfte der elften und fast die ganze zwölfte Klasse), als die beiden ausgetestet hatten, was sie vertrugen. Und sie vertrugen viel – danach zu urteilen, was Alena zu Ohren gelangte und was zweifellos nur einen kleinen Bruchteil der Wirklichkeit darstellte. Richard vertraute sich ihr nicht an, und sie hatte nicht den Mut, ihn auszufragen. Vor ungefähr anderthalb Jahren hatte sie beim Saubermachen in seinem Zimmer ein Tütchen Gras gefunden. Sie war entsetzt gewesen, eine Weile hatte sie überlegt, was sie tun sollte. Dann hatte sie sich einen Joint gebaut, ihn im Garten geraucht und auf die Wirkung gewartet. Und die kam schnell, es war super Qualität. Sie hatte beschlossen, mit Richard zu reden. Als sie das nächste Mal allein zu Hause waren (wichtige Dinge besprach sie mit ihm prinzipiell unter vier Augen), fragte sie ihn, wie lange er schon kiffte. „Ich hab’s ein paarmal ausprobiert“, sagte er in einem Tonfall, der die ganze Angelegenheit in ein triviales Licht rückte. „Ach Ma, Experimentieren ist ein notwendiger Bestandteil der Erkenntnis.“ Sie vermutete, dass er neben Hanf und Alkohol auch noch mit allem möglichen anderen herumexperimentierte, und immer war sie wie gelähmt vor Panik, wenn er zu einem Konzert oder einer „Party“ abdampfte. Er spürte ihre Befürchtungen und versuchte, sie zu zerstreuen. „Keine Angst, ich hab das unter Kontrolle“, versicherte er ihr jedes Mal. Auf diese Versicherungen gab sie nichts; es war eher ihr Instinkt, der ihr einflüsterte, dass sie ihm vertrauen konnte, dass das nur vorübergehende Ausschläge waren, die auch wieder abklingen würden. Von klein auf trug er eine Art Keimzelle von Ernst und Verantwortungsgefühl in sich. Die Reise nach Kambodscha letztes Jahr hatte das nur bestätigt.

„Ich glaub nicht, dass sie unterwegs waren. Damit sind sie doch durch.“

Vom anderen Ende drang ein nachsichtiges Lachen an Alenas Ohr.

„Ein Kerl ist niemals mit irgendwas durch. Der will immer alles wieder von vorn ausprobieren“, versicherte ihr Hanka, die gründlich vom Verlauf ihrer Ehe belehrt worden war (vier Krisen inklusive der, die sie gerade durchmachte). „Als Richard dich angerufen hat, wie hat er sich denn da angehört?“

„Normal.“

„Was hat er gesagt?“

„Dass sie gestern Abend Pizza essen waren, dann haben sie angeblich noch eine Weile gelernt und sind schlafen gegangen.“ Erst jetzt, als sie sich die Unterhaltung wieder ins Gedächtnis zurückrief, fiel ihr auf, dass sie so ganz normal nicht gewesen war. Richard war beim Telefonieren meist sachlich, kurz angebunden. Diesmal hingegen hatte er fast schon zu viel geredet.

„Er hat sich ganz normal angehört“, sagte sie noch einmal, in einem Ton, der keinen Zweifel zuließ. Hanka konnte sie damit vielleicht überzeugen, aber ihren eigenen Körper überlisten nicht. Auf einmal war es wieder da: das Kribbeln im Bauch. Es kam genauso wie vor achtzehn Jahren – scheinbar ohne Grund.

„Das hat keinen Sinn, jetzt hier rumzuspekulieren. Ich hab gleich eine Sitzung, die kann ich leider nicht sausen lassen. Ruf Richard an. Wenn er rangeht, soll er Martin ausrichten, dass er sich umgehend bei mir melden soll!“, sagte Hanka energisch und legte auf.

 

Alena rief sofort bei Richard an. Ausgeschaltet. Sie schrieb ihm eine SMS, er möge sich bei ihr melden, und setzte drei Ausrufezeichen, die sie nach kurzem Überlegen wieder löschte und durch einen Smiley ersetzte; so würde er das Maß ihrer Sorge nicht mitbekommen. Sie vor Štěpán zu verbergen, hatte sie nicht vor. Sie wählte seine Nummer und konnte in sich kaum die nervöse Furcht bändigen, dass er nicht ans Telefon gehen würde. Er hatte jeden Tag mehrere Wahlkampfveranstaltungen, auf ihre Anrufe und Nachrichten reagierte er manchmal erst Stunden später. Diesmal hob er zum Glück sofort ab. Ehe er losredete, musste er sich räuspern.

„Ich wollte dich gerade anrufen.“

Seine Stimme war heiser, aber wie üblich beruhigend. Durch sie erschienen alle Hindernisse ohne Ecken und Kanten, als würde sie sie unter Wasser in einem Schwimmbecken sehen. Sie verließ sich auf ihren Mann. Genauso hatte sie sich einst auf sich selbst verlassen, aber diese Zeiten waren längst vorbei. Sie wusste nicht einmal mehr, wie sich das anfühlte: innere Sicherheit. Stattdessen hatte sie Štěpán. Er war die Stütze ihres Lebens, sie konnte alles bei ihm abladen, es erschütterte ihn nicht. Auch wenn sie sich manchmal fragte, ob es in seinem Leben nicht noch eine andere Frau gab. Eržika Tatarková, dieser Name tauchte manchmal in ihren Gedanken auf. Schnell floh sie immer wieder vor ihm, aber vergessen konnte sie ihn nicht.

„Wo bist du gerade?“, fragte sie.

„In Znojmo. Ich geh gleich was essen. Zu Hause alles in Ordnung?“

„Hast du mit Richard gesprochen?“

„Ich hab ihn angerufen, aber er geht nicht ran. Warum?“

„Ich glaube, er hat sein Telefon ausgeschaltet. Ich mach mir Sorgen.“

„Wenn unser erwachsener Sohn sein Handy mal abschaltet, dann bricht doch die Welt nicht zusammen, oder?“, sagte er ironisch.

„Er ist nicht in der Schule gewesen. Martin auch nicht. Die zwei haben sich irgendwo verkrochen.“

„Hast du schon mit Veronika gesprochen?“

„Das hab ich als nächstes vor.“

„Bestimmt weiß sie was von ihm. Und wenn nicht, dann ruf seine Kumpels an. Ein paar Nummern hast du doch, oder?“

Sie hatte zig Nummern. Mit krankhafter Sorgfalt notierte sie sich die Kontaktdaten aller Freunde und Mitschüler von Richard. So benahm sie sich schon jahrelang. Genau genommen seit dem Moment, als ihr erster Mann auf einer Landstraße bei Harrachov aus der Kurve gekommen war und innerhalb von Sekunden sein Leben und das ihrer gemeinsamen Tochter beendet hatte. Entsprechend dem Beschluss des Scheidungsrichters durfte er Johanka jedes zweite Wochenende abholen, aber Alena hatte sie ihm diesmal außerplanmäßig mitgegeben. Es herrschte Tauwetter und es war klar, dass schon in ein paar Tagen auf den Pisten im Riesengebirge kein Schnee mehr liegen würde. Johanka hatte sich dieses letzte Skiwochenende mit ihrem Vater regelrecht erbettelt. Seit der Zeit kam Alena keine Maßnahme übertrieben vor, nichts, was ihre Liebsten vor dem hinterlistigen Schicksal beschützen könnte. Štěpán kannte ihre Angststörung und hatte anfangs versucht, sie zu bekämpfen, allmählich war ihm aber klargeworden, dass gegen die Logik ihrer Phobien vernünftige Argumente nicht ankamen.

„Ich ruf dich gleich an, wenn die Versammlung vorbei ist“, versprach er und fügte eindringlich hinzu: „Vor allem keine Panik. Alles gut.“

In Gedanken wiederholte sie die zwei Wörter wie eine beruhigende Beschwörungsformel, während sie Veronikas Nummer wählte. Štěpán hatte recht, über ihren Sohn konnte niemand besser informiert sein als seine Freundin. Seine erste richtige Beziehung. Die drei oder vier Mädchen, die vorher durch sein Leben gehuscht waren, hatten keine Spuren hinterlassen, er redete auch nicht über sie. Von Veronika hingegen sprach er gern und mit Begeisterung. „Ich muss mir überhaupt keine Mühe geben, damit ich ihr interessant vorkomme. Sie nimmt mich so, wie ich bin. Und ich sie auch. Wir wollen uns nicht gegenseitig ummodeln. Ist doch super, oder?“ Alena nickte lächelnd und verspürte eine Traurigkeit. Die euphorische Phase der Beziehung, die ihr Sohn gerade durchlebte, konnte nicht ewig dauern. Die Verliebtheit würde früher oder später verfliegen, die Gefühle würden sich vielleicht vertiefen, aber gleichzeitig auch verkomplizieren. Das war immer so, alle Paare mussten da durch. Auch Alena und Štěpán.

„Ahoj, Alena hier. Stör ich?“

„Ahoj! Brauchst du was?“ Obwohl sie sich erst vor Kurzem aufs Duzen geeinigt hatten, bereitete das Veronika nicht die geringsten Schwierigkeiten.

„Ich kann Richard nicht erreichen. Weißt du, wo er ist?“

„Keine Ahnung.“

„Habt ihr euch gestritten?“

„Nein.“

„Wirklich nicht?“

„Ich schwör’s.“

„Hat er dich heute angerufen?“ Ihr fiel auf, dass das wie ein Verhör klang, und sie entschuldigte sich schnell. „Tut mir leid, dass ich dich nerve.“

„Überhaupt nicht, aber wenn ich nicht in zwei Sekunden im Seminar bin, krieg ich Ärger. Und der wird noch größer, wenn ich mit dem Telefon am Ohr da reinmarschiere.“

„Sag nur noch schnell, wann du mit Richard das letzte Mal … Hallo? Veronika?“

Die Verbindung war abgebrochen, eine Antwort kam nicht mehr. Alena spürte, dass ihr Bauchkribbeln an Intensität zunahm. Vielleicht war Veronikas Hektik echt gewesen, aber wenn sie sie nur gespielt hatte? Vielleicht hatte sie das Gespräch nur so schnell wie möglich beenden wollen. Aber warum? Wusste sie vielleicht etwas, das sie nicht sagen wollte?

„Alena“, drang an ihr Ohr. „Kommst du mal bitte für einen Moment?“

Sie ging wieder aus dem Esszimmer. Ihr Schwiegervater stand im Flur gegen den Kleiderständer gelehnt, er hatte die alte Jacke an, die er immer im Garten trug, und versuchte mit Mühe, seine Ferse in einen Stiefel zu quetschen. Obwohl er mit einem Schuhanzieher nachhalf, bewältigte seine schwindende Muskulatur so eine Aufgabe nicht mehr.

„Papa, warum hast du mich denn nicht gleich gerufen“, fragte Alena vorwurfsvoll und ging in die Hocke, um ihm beim Schuhe Anziehen zu helfen. Es kostete sie keinerlei Überwindung, ihm bei körperlichen Verrichtungen zu assistieren, die er wegen seiner Erkrankung nicht mehr alleine schaffte. Es wurden immer mehr, einige davon relativ heikel. Vor einem Jahr hatte sie ohne Bedauern ihre Arbeit als Trainerin aufgegeben (seit sie selber nicht mehr zu Wettkämpfen fuhr, war sie vom Schwimmen längst nicht mehr so besessen wie früher) und stand nun ihrem Schwiegervater ganztägig zur Verfügung. Sie begleitete ihn zur Kirche, brachte ihn zu seinen Heilbädern, machte mit ihm Gymnastik. Dass sie sich um ihn kümmerte, akzeptierte er mit angenehmer Selbstverständlichkeit, fast fröhlich.

„Warum soll ich dich denn rufen? Ich muss in Form bleiben“, wischte er mit einem Lächeln ihren Vorwurf beiseite. „Falls Štěpán in dieses Europarlament kommt, erwarten uns anstrengende Reisen. Ich will nicht nur das Brüsseler Rathaus und das Manneken Pis mit eigenen Augen sehen, sondern auch das Straßburger Münster.“

Er sprach mit jugendlicher Begeisterung. Tatsächlich wollte er sich nicht eingestehen, dass sein fortschreitendes Leiden ihn an der Verwirklichung seiner Reisepläne hindern könnte.

„Nur bei Richard solltest du ein gutes Wort einlegen“, fügte er hinzu.

„Wieso?“

„Neulich hat er zu mir gesagt, dass er nicht mit uns mitfährt. Brüssel und Straßburg interessieren ihn angeblich nicht. So ein Quatsch! Er könnte dort studieren.“

„Papa, noch hat Štěpán die Wahl nicht gewonnen, und Richard hat sein Abi noch nicht gemacht …“ Sie beendete den Satz nicht. Verdutzt starrte sie hinter dem Rücken ihres Schwiegervaters auf den offenen Schuhschrank. Da fehlte was. Aufmerksam ließ sie ihren Blick über die einzelnen Regalbretter schweifen, bis sie’s hatte: Richards Bergschuhe waren weg. In Prag trug er sie nie. Sollte er sie also mit zu Martin genommen haben, hieße das, dass sie zu einer Tour aufgebrochen waren.

Sie holte einen Stuhl, stieg darauf und öffnete die Tür des oberen Stauraums. Sie erstarrte. Das Bauchkribbeln verwandelte sich in echten Schmerz. Jetzt konnte sie sich beim besten Willen nicht mehr einreden, dass alles gut war, es hatte keinen Zweck mehr, die Panik zu unterdrücken. Das Fach, wo das Zelt hätte sein sollen, war gähnend leer. Auch der große Rucksack fehlte. Und Richards Windjacke, die er sich für Kambodscha gekauft hatte. Das mit den Vermutungen hatte sich also erledigt. Die Jungs kurierten keinen Kater aus. Sie waren irgendwo hingefahren. Fragte sich nur, wohin. Die Geheimhaltungsstufe, die ausgeschalteten Telefone und die raffinierten Verschleierungsmanöver, mit denen sie ihre Abreise getarnt hatten, ließen nichts Gutes ahnen.

„Russland hat seine gegen die Interessen der Tschechischen Republik gerichteten Aktivitäten ausgeweitet. Die Tätigkeit der russischen Geheimdienste hat zugenommen, es liegen ebenfalls Beweise für Cyberspionage und eine Hybridkampagne vor, mit der der Kreml versucht, die Euroskepsis zu stärken“, warnt der BIS. Einige unserer Politiker haben Zweifel an diesen Rückschlüssen. Mit diversen Bonmots wies auch der Staatspräsident die Warnungen des Inlandsgeheimdienstes zurück: „Dass Russland der Beelzebub ist, der Feuer und Schwefel speit, kleine Kinder frisst und vorhat, auch uns zu schlucken, ist ein altes, oft wiederholtes Ammenmärchen. Ich selbst habe es schon so oft gehört, dass es mir inzwischen vorkommt wie das Summen einer Mücke. Wir wissen alle, wenn sich eine aufdringliche Mücke nicht verjagen lässt, gibt es wirksamere Methoden, wie man sie loswird …“

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Die Ermittlungsakte auf dem Tisch hatte abgewetzte Deckel und einen respektablen Umfang. Beide Kriminalpolizisten lenkten den Blick während ihrer Unterhaltung unbewusst dorthin.

„Wie geht’s dir?“, fragte Kriminaldirektor Zdeněk Karoch.

„Ach, lass das Theater.“

Die abgemagerte Gestalt von Kriminalrat Miroslav Vačkář, der kahle Kopf, die eingefallenen Wangen und die blauen Flecken auf der Haut sprachen für sich.

„Wann bist du dran?“

„In einer Woche.“

Es ging um die Immuntherapie. Nach den vorausgegangenen Behandlungsformen, die nur begrenzt angeschlagen hatten, sollte das ein weiterer Versuch sein, Vačkářs gestörte Blutbildung zu regenerieren.

„Zieh’s nicht so in die Länge. Spätestens im Juni rechne ich wieder mit dir.“ Zdeněk kannte Vačkář gut genug, um zu wissen, dass es ihm lieber war, die Krankheit zu bagatellisieren, als Mitgefühl gezeigt zu kriegen. „Mirek, ich will dich zurückhaben, bevor alle anfangen, ihren Urlaub zu nehmen, klar?“

„Du hast gut reden, du kennst die elende Mistsau nicht.“ Vačkář verzog das Gesicht. Den Namen „elende Mistsau“ hatte sich seine Leukämie zweifellos verdient, aber an der Verheerung, die sie anrichtete, änderte das nichts. Bei der letzten Untersuchung durch den Polizeiarzt war noch alles in bester Ordnung gewesen. Vačkář zog zuverlässig wie ein Packesel, man konnte ihm alles aufladen. Und das tat Zdeněk auch. Er schonte ihn nicht, denn er konnte ihn wirklich gut leiden. Denen, die er am liebsten mochte, verlangte er immer das Meiste ab.

„Schon zweimal hat sie das Feld geräumt und ich hab mir, blöd wie ich bin, eingeredet, dass ich gewonnen hab, aber sie ist wiedergekommen.“

„Diesmal vertreibst du sie.“

„Das hoff ich sehr.“ Vačkářs Blick blieb an der voluminösen Akte hängen. „Ich hab die ganze Zeit geglaubt, dass ich das noch abgeschlossen kriege, eh ich mich in die Klinik leg, aber ich hab mich überschätzt. Das ärgert mich.“

Dass es ihm seit letztem September nicht gelungen war, den Fall Arojan abzuschließen, war mehr als ein Grund zum Ärgern. Verursacht hatte das gar nicht so sehr seine Krankheit, sondern vielmehr seine Einstellung ihr gegenüber. Er log sich selbst und sein Umfeld an. Er gab vor, in besserer Verfassung zu sein, als er es tatsächlich war.

„Ich hab mich überschätzt“, wiederholte er. „Tut mir leid.“

Seine Zerknirschung und das Asche-aufs-Haupt-Streuen sorgten bei Zdeněk für ein schlechtes Gewissen. Er war sich sehr wohl bewusst, dass einen Teil der Schuld auch er trug. Das Morddezernat hatte über lange Zeit mit einem Mangel an Humankapital gekämpft; jedes Mal, wenn er mühsam wen ergattert hatte, verlor er sozusagen prompt jemand anderen, und der Leidensweg ging wieder von vorne los. Er wusste nicht, ob dies das Schicksal aller Chefs war oder ob es als sein persönlicher Fluch auf ihm lastete, aber er musste damit leben und unablässig nach neuen Auswegen suchen. Einige davon waren relativ unkonventionell. Den Einfall, mit dem Vačkář zu ihm gekommen war, fand Zdeněk anfangs an den Haaren herbeigezogen, aber nachdem er einige Tage darüber nachgedacht hatte, musste er zugeben, dass er keine bessere Alternative sah, und ließ sich darauf ein.

 

„Die Alte macht das fertig“, sagte er.

Hauptkommissarin Marta Alte war eine bewanderte Kriminalistin, aber bisher hatte sie fast ausschließlich in Fällen von häuslicher Gewalt ermittelt. Für diese sogenannten Hausschlachtungen hatte Zdeněk niemand Besseres. Der Mord an Arojan war allerdings ein anderes Kaliber und es war schwer zu sagen, wie sie damit zurande kommen würde. Sie war intelligent, außer an der Polizeiakademie hatte sie auch mal eine Zeitlang Psychologie an der Uni studiert, aber um ihr Wissen so richtig zur Geltung zu bringen, fehlte ihr das gewisse Etwas. Sie ließ Ambitionen vermissen, konnte nicht auf Risiko gehen, stach weder durch Entschlossenheit noch durch polizeilichen Instinkt hervor. Dagegen zeichnete sie sich durch Ausdauer, systematisches Vorgehen und einen Sinn fürs Detail aus. Und wenn das auch auf den ersten Blick keine so faszinierenden Eigenschaften zu sein schienen, waren gerade sie im gegenwärtigen Stadium des Arojan-Falls gefragt: das Material, das Vačkář mit seinem Team zusammengetragen hatte, gründlich sichten und sortieren, wenn nötig es um neue Beweise und Aussagen ergänzen, dafür sorgen, dass jemand Konkretes beschuldigt wird, und gleichzeitig mit Samthandschuhen vorgehen wie immer, wenn Angelegenheiten von nationalen oder ethnischen Minderheiten im Spiel waren. Das war keine leichte Aufgabe, aber Marta Alte wäre auch nicht alleine.

„Was ist mit der Verstärkung, die sie dir vom organisierten Verbrechen versprochen haben?“

„Irgendein Jukl.“

„Jukl?“ Vačkář runzelte beim Nachdenken die Stirn. „Kommt mir bekannt vor.“

Es klopfte und die Sekretärin schaute zur Tür herein.

„Die Frau Hauptkommissarin“, verkündete sie.

„Soll reinkommen.“

Kaum war sie da, wurde sich Zdeněk intensiver als sonst ihrer Farblosigkeit bewusst. Hässlich war sie definitiv nicht, aber ein Charisma hatte sie wie eine graue Maus. Eine alternde graue Maus. Im Winter, als er ihr zum Fünfundvierzigsten gratuliert und bei dieser Gelegenheit einen Kaffee mit ihr getrunken hatte, war ihm aufgefallen, dass in ihrem Haar hier und da eine weiße Strähne durchblitzte. Seit jener Zeit waren es sichtbar mehr geworden. Sie versteckte sie nicht. Im Dezernat munkelte man von einer gerade zerbrochenen Beziehung zu einem a) Maler, b) Musiker, c) Schriftsteller, d) Filmemacher. Obwohl der Flurfunk mit mehreren Versionen der Geschichte aufwarten konnte, stimmten diese aber in einem Punkt ausnahmsweise überein: Angeblich sei Marta Alte seit der Trennung recht verschlossen. Die hat die Flinte ins Korn geschmissen, befand Zdeněk, sonst würde sie ihrer äußeren Erscheinung definitiv mehr Aufmerksamkeit widmen.

„Ich bin ein bisschen eher gekommen, schlimm?“, fragte sie und drückte ihm die Hand, die er ihr hingestreckt hatte. Er war unfähig, sich zu merken, ob nun zuerst die Frau dem Mann die Hand gab oder der Vorgesetzte seiner Untergebenen, also richtete er sich nach seiner momentanen Stimmung.

„Du kommst genau richtig. Setz dich.“

Sie reichte auch Vačkář die Hand und nahm Platz. Ihr Blick landete fast umgehend auf der Akte.

„Arojan“, sagte Zdeněk. „Letzten September. Mitten in der Nacht zwischen Müllcontainern erschossen. Du bist im Bilde?“

„Natürlich weiß ich, was in dem Zusammenhang alles los war. Das ganze Tamtam und die Demos und der Journalistenstreik, aber im Detail hab ich das nicht verfolgt.“

„Das hier sind die Ergebnisse von Mireks sechsmonatiger Arbeit.“ Zdeněk klopfte mit den Fingern auf die Akte. „Wie du weißt, geht er sich jetzt für einige Zeit zu den Ärzten erholen.“

Sie schenkte Vačkář einen Blick voller Mitgefühl.

„Ich drück die Daumen“, sagte sie. „Dass das alles gutgeht.“

„Es muss“, antwortete der lakonisch. „Mir bleibt nix anderes übrig. Ich hab vom Chef die Anweisung gekriegt, wieder gesund zu sein, bevor die Urlaubszeit losgeht.“

„Ich überlege gerade, wem ich den Arojan-Fall übergeben soll.“ Zdeněk drehte sich zu Marta um.

„Und zu welchem Schluss bist du gekommen?“

Er schob die Akte in ihre Richtung. Sie ließ weder Überraschtsein noch irgendeine andere Reaktion erkennen, schaute nur nachdenklich auf das Konvolut. Sie sagte gar nichts und Zdeněk kam der beunruhigende Gedanke, dass sie ihm aus irgendeinem Grund, den zu respektieren er gezwungen wäre, den ganzen Packen über den Tisch zurückschieben könnte und er eine andere, noch weniger befriedigende Lösung finden müsste. Aber das waren verfrühte Befürchtungen. Sie legte die Hand auf die Akte (mit einer Geste, die sehr besitzergreifend wirkte) und blickte auf.

„Und wer arbeitet mit mir da dran?“

Es klopfte erneut, die Sekretärin kam wieder ins Büro.

„Kommissar Jukl“, verkündete sie.

Zdeněk sah auf die Uhr. Heute hatten alle den Hang, zu früh zu kommen.

„Bitten Sie ihn um ein paar Minuten Geduld“, sagte er und wartete, bis die Tür sich hinter der Sekretärin wieder geschlossen hatte. „Das Präsidium hat uns aufgefordert, dass wir mehr mit den anderen Abteilungen kooperieren sollen“, erläuterte er anschließend. „Jukl ist vom organisierten Verbrechen.“

Marta brauchte einen Moment, ehe sie seine Mitteilung für sich sortiert hatte.

„Willst du damit sagen, dass der mein Partner wird?“

„Der Mord an Arojan ist keine …“ Zdeněk verkniff sich den Ausdruck Hausschlachtung, den sie als Herabwürdigung ihrer bisherigen Arbeit hätte auffassen können, und wählte lieber eine andere Formulierung. „Du weißt ja, das ist ein heikler Fall – auch wenn die größte Aufregungswelle schon abgeklungen ist. Die Streiks und Demos haben Gott sei Dank an Anziehungskraft eingebüßt. Angesichts dessen, dass in der Zwischenzeit in der EU mindestens fünf andere Journalisten ermordet worden sind, ist Arojan nur noch eine vertrocknete Pizza. Die Medien sind scharf auf saftigere Brocken. Außerdem ist er Kasmenier gewesen.“

„Er hat seit seiner Kindheit hier gelebt. Und hatte die tschechische Staatsbürgerschaft“, warf Vačkář ein.

„Das ist den meisten von unseren Mitbürgern herzlich egal. Protest äußern, das ist denen wichtig, aber sich jetzt übertrieben wegen so einem Zuwanderer zu engagieren? Dazu haben alle genug eigene Probleme.“ Zdeněk fiel auf, dass er in einer Ecke gelandet war, wo er nicht hinwollte, und legte den Rückwärtsgang ein. „Wir brauchen einen konkreten Beschuldigten. Nicht wegen der Öffentlichkeit, nicht wegen den Medien, sondern weil das unser Job ist. Beim Präsidium fangen sie langsam an zu nerven.“

„Steckt hinter dem Mord was Politisches?“, fragte Marta. Sie hatte die Frage an niemanden direkt gerichtet. Vačkář übernahm das Antworten.

„Arojan war Investigativjournalist. Außer dass er bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf Russland eingedroschen hat, ist er mit den Bonzen hierzulande auch nicht gerade pfleglich umgegangen. Guck dir mal dem sein Portal an, dann begreifst du, dass die Riege an potenziellen Mördern ziemlich groß ist. Und das macht den ganzen Fall verflixt kompliziert. Ich muss zugeben, dass wir nicht weiterkommen. Wir haben einen Kreis von Verdächtigen, aber keine direkten Beweise.“

„Und Kommissar Jukl hat mit politisch angehauchten Fällen Erfahrungen?“, fragte sie.

„Ansonsten hätten sie ihn uns nicht geschickt.“ Zdeněk stand auf. Er hatte Marta ins kalte Wasser geschmissen, nun sollte sie auch schwimmen. Als er die Tür öffnete, erhob sich aus dem Sessel ihm gegenüber ein etwa fünfunddreißigjähriger Mann. Zdeněk erkannte ihn sofort wieder. Vor einer Weile war Jukls Foto in wohl allen tschechischen Medien aufgetaucht, im Zusammenhang mit verdächtigen öffentlichen Aufträgen, bei denen der Hejtman der Region Ústí nad Labem seine Finger im Spiel hatte. Um jenem Rieger auf die Schliche zu kommen, waren die Ermittler aus der Staatlichen Zentralstelle organisierte Kriminalität unter anderem über seine Ehefrau gegangen. Auf die hatten sie Jukl angesetzt, und der hatte sich dieser Aufgabe mit einem Eifer angenommen, der weit über seine Dienstpflichten hinausging. Während die seriösere Presse vorsichtig von „ausgefallenen Praktiken der SZOK“ geschrieben hatte, war in den Boulevardblättern Jukl mit James Bond verglichen worden und man hatte nicht mit Details gegeizt – über seine Affäre mit Riegers Ehefrau, über Riegers nächtliche Eifersuchtsszene vor dem Hotel Romantika, über die Flucht der halbnackten Frau Riegrová durch den Hinterausgang, über die anschließende Prügelei zwischen den beiden Männern und über Jukls ausgeschlagene Zähne. Welche es gewesen waren, hatten die Medien nicht erwähnt. Wahrscheinlich die oben in der Mitte, schätzte Zdeněk, als Jukl bei der Begrüßung lächelte und perfekte Schneidezähne vorzeigte.